Süddeutsche Zeitung - 30.08.2019

(Romina) #1
Mosche Feiglin gab am Donnerstag dem
Werbennach: Premierminister Benjamin
Netanjahu bot ihm einen Ministerposten
mit wirtschaftlicher Agenda an, die völli-
ge Freigabe von Cannabis für medizini-
sche Zwecke und dem Vernehmen nach
die Übernahme der Parteischulden. Ne-
tanjahu, der die Vereinbarung in einer ge-
meinsamen Pressekonferenz mit Feiglin
bestätigte, erreichte damit, dass sich sein
Konkurrent mit seiner Partei Zehut, auf
Deutsch „Identität“, vor der Parlaments-
wahl am 17. September zurückzieht.
Rechtsexperten sehen darin Wahlbetrug,
Bestechung und Bestechlichkeit, sogar
von einer drohenden Wahlanfechtung ist
die Rede. Für Oppositionsvertreter ist es
ein „unmoralisches Angebot“.
Feiglin beklagte zwar den Druck, der
auf ihn ausgeübt werde. Gleichzeitig
sprach er von einer unerwarteten Chance,
seine politischen Forderungen – allen vor-
an die Cannabis-Freigabe – durchzuset-
zen. Netanjahu fürchtet, dass Zehut er-
neut nicht den Sprung über die 3,25-Pro-
zent-Hürde für den Einzug in die Knesset
schaffen würde. Dann fehlten die für Ze-
hut abgegebenen Stimmen dem rechten
Block und erschwerten die Regierungsbil-
dung. Netanjahu war es nach der Wahl im
April nicht gelungen, eine Koalition aus
rechten Parteien zu bilden, deshalb wird
jetzt erneut gewählt.
Netanjahu und Feiglin kennen einan-
der gut. Der 57-Jährige war Abgeordneter
der rechtsnationalen Likud-Partei, 2013
wurde er zum stellvertretenden Sprecher
der Knesset gewählt. Vier Mal trat er ge-
gen Netanjahu um den Parteivorsitz an,
Feiglin wollte den Likud weiter rechts po-
sitionieren. Innerhalb des Likud vertrat
Feiglin eine Fraktion, die sich für „authen-

tische jüdische Werte“ und eine engere
Anbindung an das orthodoxe Judentum
einsetzt. Mit seiner Frau Tzipi lebt Feig-
lin, der die erste Firma für Fensterreini-
gung in Israel gegründet hat, in einer jüdi-
schen Siedlung im Westjordanland. Das
Paar hat fünf Kinder. Früher bezeichnete
er sich als „stolzer Homophober“, das wür-
de er jetzt „nicht mehr so sagen“.
Feiglin gehörte 1993 zu den Gründern
der Protestbewegung So Arzenu
(Deutsch: Dies ist unser Land), die sich ge-
gen den Oslo-Friedensprozess und einen
Staat für die Palästinenser stellte. Die Be-
wegung leistete zivilen Ungehorsam, sie

blockierte beispielsweise Straßen. 1997
wurde Feiglin zu sechs Monaten Haft we-
gen Aufwiegelung zum Aufruhr verur-
teilt, die Gefängnisstrafe wurde später in
gemeinnützige Arbeit umgewandelt.
Als Feiglin 2015 vor der Parlaments-
wahl auf einen der hinteren Likud-Listen-
plätze gesetzt wurde, gründete er eine ei-
gene Partei. Auf 344 Seiten hat Zehut ihre
libertär-nationalistischen Vorstellungen
in einem Manifest gebündelt, das nach An-
sicht von Kritikern auch rassistische Posi-
tionen enthält: Die Partei setzt sich für die
Annexion des Westjordanlandes und des
Gazastreifens ein. Sie möchte „Anreize“
für Palästinenser schaffen, ins Ausland zu
ziehen. Nur „loyalen“ Palästinensern soll
ein Bleiberecht zustehen – aber kein Wahl-
recht. Zehut fordert die totale jüdische
Kontrolle über den Tempelberg. Auf dem
Plateau, wo Al-Aksa-Moschee und Felsen-
dom stehen, soll der dritte jüdische Tem-
pel errichtet werden. Israel soll nach religi-
ösem Recht regiert werden, der Staat um-
fangreiche Liberalisierungen und Steuer-
senkungen vornehmen.
Mit seinem Kampf für die völlige Lega-
lisierung von Cannabis hat Feiglin Auf-
merksamkeit erregt und Unterstützer
über das nationalistische Lager hinaus ge-
wonnen. Er sieht nicht aus wie der typi-
sche Vertreter der Hanf-Fraktion: Der
eher schmächtige Mann trägt meist An-
zug und stets eine Häkelkippa, die Brille
und der graumelierte Bart lassen ihn wie
einen Vertreter wirken. Er selbst rauche
auch kein Gras, hat Feiglin verraten. Der
Ultranationalist, der diese Bezeichnung
nicht ablehnt, könnte als derjenige in Isra-
els Geschichte eingehen, der die Cannabis-
Freigabe politisch durchgesetzt hat.
alexandra föderl-schmid

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von christoph neidhart

J


apan hat Südkorea diese Woche von
der „weißen Liste“ jener Länder ge-
strichen, denen es vertrauen könne.
Angesichts von 70 Milliarden Euro Han-
delsvolumen und vielen touristischen
und persönlichen Beziehungen der bei-
den Länder ist das absurd.
Künftig brauchen japanische Firmen
eine Sonderbewilligung, wenn sie Güter
nach Südkorea exportieren wollen, die
militärisch genutzt werden könnten. Be-
troffen sind auch Substanzen, die für Süd-
koreas IT-Industrie und damit für globa-
le Zulieferketten wichtig sind. Mit dieser
jüngsten Schikane eskaliert Tokio den
Streit weiter, den Seoul wenige Tage zu-
vor mit der Kündigung eines Geheim-
dienstabkommens seinerseits befeuert
hatte. Und niemand ruft die beiden Regie-
rungen zur Vernunft? Niemand außer Chi-
nas Außenminister, der mit seinem
Schlichtungsversuch abgeblitzt ist.
Washington, das mit Tokio und Seoul
verbündet ist, rührt sich dagegen kaum.
Es hat nur „bedauert“, obwohl es auf ihre
militärische Zusammenarbeit angewie-
sen ist. Das erlaubt es beiden Regierun-
gen zu behaupten, sie wüssten die USA
hinter sich. Für US-Präsident Trump wä-
re es ein Leichtes, Japans Premier Shinzo
Abe und Präsident Moon Jae-in zurückzu-
pfeifen, zumal Abe alles tut, um seinem
Freund Donald zu gefallen. Als es um die
sogenannten Trostfrauen ging, jene Kore-
anerinnen, die im Zweiten Weltkrieg von
Nippons Armee in Feldbordelle ver-
schleppt wurden, zwang Präsident Oba-
ma Abe und Koreas Präsidentin Park
Geun-hye zu einem Versöhnungsabkom-
men. Das ist inzwischen wieder geplatzt.
Der jüngste Konflikt ist ausgebrochen,
weil Südkoreas Oberstes Gericht japani-
sche Konzerne dazu verurteilte, Korea-
ner zu entschädigen, die sie im Zweiten
Weltkrieg als Zwangsarbeiter eingesetzt

hatten. Tokio behauptet, solche Forde-
rungen seien mit dem Normalisierungs-
abkommen von 1965 alle abgegolten. Die
koreanische Justiz dagegen meint, jener
Vertrag schließe Menschenrechtsverlet-
zungen nicht ein. Überdies war Südkorea
1965 eines der ärmsten Länder, Japan
dagegen bereits wieder erstarkt. Seoul
hatte wenig Verhandlungsspielraum, es
musste nehmen, was Tokio bot. Vor allem
aber wurde Südkorea damals von Militär-
diktator Park Chung-hee regiert, einem
ehemaligen japanischen Offizier, der für
den Tenno in den Krieg gezogen war. Das
moderne Südkorea erkennt sich deshalb
in jenem Vertrag nicht mehr. Dafür sollte
Tokio Verständnis zeigen.

Tokio hat den Groll der Südkoreaner
nie ernst genommen, Abe behauptete,
die „Trostfrauen“ seien „gewöhnliche
Prostituierte“ gewesen. Er weigert sich,
Reue über Japans Aggressionen zu äu-
ßern. Beim G-20-Gipfel in Osaka schnitt
er den koreanischen Präsidenten. Die Ko-
no-Erklärung, mit der Japan 1993 seine
Schuld an der Verschleppung von Korea-
nerinnen eingestand, wurde nicht von ei-
nem Regierungschef abgegeben, son-
dern von einem Kabinettssekretär. Das
hat es Japans Regierungschefs seither er-
laubt, sich indirekt zu distanzieren.
Das moderne Südkorea will von der al-
ten Kolonialmacht als gleichwertig be-
handelt und ernst genommen werden.
Die Spekulation Tokios ist nicht aufge-
gangen, mit dem Wegsterben der Opfer –
zum Beispiel der Trostfrauen – lege sich
Südkoreas Groll. Japan hat sich seiner Ge-
schichte bisher immer nur halbherzig ge-
stellt. Und wird deshalb immer wieder
von ihr eingeholt.

von susanne klein

A


lles oder nichts lautet die Antwort,
die das von Terre des Femmes
beauftragte Gutachten zu einem
Kopftuchverbot für Kinder gibt: Entwe-
der verbietet der Gesetzgeber das Tragen
jeglicher weltanschaulich und religiös be-
deutsamer Kleidung in der Schule – oder
er lässt es bleiben. Nur das islamische
Kopftuch aus den Schulen zu verbannen,
nicht aber zum Beispiel die jüdische Kip-
pa, wäre eine Ungleichbehandlung. Dass
man die Kippa in der Öffentlichkeit, erst
recht in Schulen, seltener sieht als das
Kopftuch, spielt dabei keine Rolle. Es geht
ums Prinzip. Das Grundgesetz lässt nach
Auffassung des Verfassungsrechtlers Mar-
tin Nettesheim, der das Gutachten ge-
schrieben hat, ein Verbot des Kinderkopf-
tuchs zwar durchaus zu. Aber nur, wenn
es eben nicht nur für das Kopftuch gilt.
Diese Einschränkung liest sich wie ein
Fingerzeig auf die unschöne Seite der
Kopftuchdebatte: Der alle paar Monate
ausbrechende Streit, ob das Stück Stoff
auf dem Kopf von Mädchen untersagt wer-
den soll oder nicht, ist diskriminierend.
Denn der Streit zielt nur auf eine einzige
Bevölkerungsgruppe, noch dazu eine, der
ohnehin Misstrauen entgegenschlägt.
Deshalb ist ein Verbot, wie es im Mai in Ös-
terreich beschlossen wurde und wie es in
Deutschland einigen Unionspolitikern
vorschwebt, auch gesellschaftspolitisch
keine gute Idee.
Ein Gesetz, das lediglich Muslime be-
trifft, ist ein Akt der Ausgrenzung oder
kann zumindest von ihnen so aufgefasst
werden. Es signalisiert: Ihr seid hier unge-
wollt. Der Integration dient das nicht,
auch wenn die Verfechter eines Verbots
das Wort im Munde führen. Es dient eher
jenen Leuten im Land, die beim Thema Is-
lam pauschal rotsehen und von kopftuch-
tragenden Mädchen ohne Umwege auf ra-
dikale Islamisten überleiten.

Alles oder nichts, das heißt, die Gesell-
schaft muss sich darauf verständigen, in
welchem Geist sie ihre Kinder großziehen
will. Durch das Verbot, das dann aber auch
die Kippa beträfe, den Sikh-Turban, das
christliche Kreuz und jede andere äußere
Manifestation der Religionszugehörig-
keit? Oder durch die Erziehung zur Frei-
heit, die auf ein solches Verbot verzichtet


  • dafür aber im Unterricht und auf dem
    Pausenhof Persönlichkeitsrechte, Gleich-
    berechtigung und soziale Integration in
    den Vordergrund stellt? Wie ermöglicht
    man Mädchen, sich von dem rückständi-
    gen Rollenbild, das in traditionellen musli-
    mischen Familien oft vorgelebt und einge-
    fordert wird, zu emanzipieren und das
    Kopftuch gar nicht erst anzulegen oder es
    später wieder abzulegen?


Eine Lebensweise zu verbieten, weil
man sie nicht billigt, könnte die freie Wil-
lensbildung behindern. Den Schulen fällt
es ohnehin oft schwer, konservative musli-
mische Eltern für ihre Pädagogik zu ge-
winnen; der kulturelle Abstand zu den
Lehrern ist bisweilen groß. Zueinander zu
finden braucht Zeit, kostet Überzeugungs-
arbeit. Und ja, manchmal braucht es auch
sehr klare Ansagen, etwa wenn Lehrer dar-
über aufklären, dass Schülerinnen aus-
nahmslos die gleichen Rechte und Pflich-
ten haben wie Schüler. Das ist nicht für al-
le Eltern immer leicht zu verdauen.
Stellt sich der Staat dazwischen und
schlägt den Eltern juristisch die Tür vor
der Nase zu, wird das den Dialog kaum för-
dern. Doch der ist in der Schule nun mal
das Wichtigste. Das sollte bei allen guten
Argumenten gegen das Kopftuchtragen
auch einer Organisation wie Terre des
Femmes zu denken geben.

H


eftig wird diskutiert, ob innerdeut-
sche Flüge noch vertretbar sind.
Nun hat Stefan Schulte, der Chef
der Flughafenbetreiber-Gesellschaft Fra-
port, erneut gesagt, es gebe Routen, „die
muss man nicht fliegen“. Aber die Koope-
ration mit der Bahn müsse besser sein,
um Umsteigen zwischen den Verkehrsträ-
gern attraktiver zu machen.
Stimmt beides, irgendwie. Es gibt Stre-
cken, die fliegt etwa Lufthansa nur wegen
der Umsteiger auf die Langstrecken, Stutt-
gart–Frankfurt etwa oder Nürnberg–Mün-
chen. Solange die Bahn-Anbindung des
Münchner Flughafens so schlecht ist, wird
sich dort daran nichts ändern, also für sehr
lange Zeit. Solange sich Bahn und Flugge-


sellschaften nicht einigen, wie sie den Pas-
sagieren die Reise bequem machen kön-
nen, wird sich auch wenig tun. Und es gibt
auch innerdeutsche Strecken wie Mün-
chen–Hamburg, auf denen die Bahn zu
langsam ist, als dass sie dem Flugzeug Kon-
kurrenz machen wird. Da, wo sie trotz
nicht durchgecheckter Koffer überlegen
ist wie auf der Strecke Frankfurt–Köln,
fliegt schon heute niemand mehr.
Der Trend geht trotz allem in die richti-
ge Richtung. Denn insgesamt ist die Zahl
der innerdeutschen Flüge in den vergange-
nen 15 Jahren um 22 Prozent zurückgegan-
gen. Sie tragen noch 0,3 Prozent zu den
hierzulande verursachten Kohlendioxid-
Emissionen bei. jens flottau

D


as ukrainische Parlament startet
spektakulär: der jüngste Regie-
rungschef der Geschichte, angese-
hene Reformer auf Schlüsselpositionen et-
wa bei Geheimdienst und Generalstaats-
anwaltschaft. Dutzende Gesetze sind ein-
gebracht, Hunderte sollen folgen. Doch
dass die neue Regierung auch eigenstän-
dig handeln kann, darf man bezweifeln.
Der neue Regierungschef Alexej Gon-
tscharuk hat einen exzellenten Ruf, aber
weder politische Erfahrung noch eigenstän-
diges politisches Gewicht – im Gegensatz
zu anderen Kandidaten wie Ex-Finanzmi-
nister Alexander Daniljuk oder Ex-Wirt-
schaftsminister Aivaras Abromavičius. Prä-
sident Selenkskij undsein Stabschef An-


drij Bohdan haben sich bewusst gegen ei-
nen Regierungschef entschieden, der zur
Konkurrenz werden könnte. Auch die Par-
lamentsfraktion wird an kurzer Leine ge-
halten. Noch am Tag vor der ersten Parla-
mentssitzung war ihr nicht einmal der Na-
me des kommenden Regierungschefs be-
kannt, den sie wählen sollte.
Ähnlich ist es offenbar mit Dutzenden
Gesetzesentwürfen, zu denen Selenskij
und seine Vertrauten blinde Zustimmung
erwarten, ohne dass die neuen Parlamen-
tarier Zeit hätten, die Texte zu lesen, ge-
schweige denn zu überdenken. Ob der
Blitzstart in der Ukraine auch der Start zu
gutem Regieren ist, muss sich erst heraus-
stellen. florian hassel

M


it seinem angekündigten Rück-
tritt vom Amt des Präsidenten
und vom Aufsichtsratsvorsitz
beim FC Bayern hat sich Uli Hoeneß eine
kritische Mitgliederversammlung im
Herbst erspart. Sie wird nun zu einer gro-
ßen, jubelnden Abschiedsvorstellung wer-
den. Dabei ist es nur ein Teilrückzug: Sei-
nen Sitz im Aufsichtsrat behält Hoeneß,
sein Nachfolger als Präsident soll sein
Freund, der Ex-Adidas-Chef Herbert
Hainer, werden. Den Vorstandsvorsitz
übernimmt ab 2022 Oliver Kahn, eben-
falls ein Hoeneß-Kandidat.
Hoeneß wird also auf lange Sicht gese-
hen mehr Einfluss im FC Bayern behalten
als Karl-Heinz Rummenigge, der aktuelle


Vorstandsvorsitzende, mit dem Hoeneß
„Zwistigkeiten“ austrägt, wie der ehemali-
ge bayerische Ministerpräsident und FC-
Bayern-Aufsichtsrat Edmund Stoiber nun
offiziell bestätigt. Hoeneß wäre damit in
der Lage, selbst sein Erbe zu regeln. Er
muss es aber auch tun.
Einer der Gründe für seinen Rückzug
ist die lauter werdende Kritik an ihm im
Verein. Zu oft hat er in jüngster Vergangen-
heit nicht den richtigen Ton getroffen,
sein Gefühl für Stimmungen ist ihm ab-
handengekommen. Sein Lebenswerk nun
ordentlich zu übergeben, wird seine letzte
große Herausforderung. Die Rolle des Pa-
trons, der nicht loslassen kann, muss er da-
für aufgeben. martin schneider

E


ine bizarre Erscheinung dieser
Jahre ist es, dass die Nationen
ihre wichtigsten politischen
Werke selbst demolieren. Die
USA zerstören unter Donald
Trump die amerikanische Weltordnung.
Viele Europäer verfallen dem Nationalis-
mus und gefährden die EU. Und Großbri-
tannien ist dabei, seinen vielleicht wert-
vollsten Beitrag zur Weltgeschichte zu de-
montieren: die, trotz Monarchie, parla-
mentarisch geprägte Demokratie. Dabei
ist diese indirekte Form der Volksherr-
schaft unerlässlich, um Erregung zu
dämpfen, Kompromisse auszuloten und
Machtmissbrauch zu verhindern.
Doch daran hat der britische Premier
Boris Johnson gar kein Interesse. Ihn
lockt die Devise: „Der Sieger nimmt alles.“
So verordnet er den Abgeordneten in Lon-
don nun eine Zwangspause, damit sie ihm
bei seinem Plan nicht in die Quere kom-
men, rasch den Brexit zu vollziehen, gern
auch ohne Ausstiegsvertrag mit der EU.


Bei der wichtigsten Entscheidung für
die Briten in Jahrzehnten werden deren
Abgeordnete also ins Abseits gedrängt. Da-
bei war es England, das vor 330 Jahren mit
der Bill of Rights das Recht der Abgeordne-
ten durchsetzte, regelmäßig zu tagen so-
wie bei Steuern – und damit bei wichtigen
staatlichen Angelegenheiten – mitzube-
stimmen. Heute setzen die Brexiteers um
Johnson nicht nur die wirtschaftliche und
politische Rolle Großbritanniens in Euro-
pa und der Welt aufs Spiel, sondern auch
dessen Einheit und Demokratiemodell.
Die Wirren in Großbritannien sind das
Symptom einer Krankheit, die derzeit vie-
le Demokratien befällt. Populisten versu-
chen, die Parlamente zu schwächen, zu-
gunsten starker Männer, die sich direkt
auf den Volkswillen berufen. Wenn der An-
führer – ob er nun Trump, Johnson oder
Matteo Salvini heißt – das Volk verkörpert
und dessen Willen vollstreckt, warum soll-
te er dann von einem Parlament kontrol-
liert werden, das diesen Willen in Fraktio-
nen bricht und damit schwächt, ja ver-
fälscht? Mit dieser Argumentation hebelt
Johnson das Parlament aus. Trump for-
dert Volksvertreterinnen, die nicht seiner
Meinung sind, auf, die USA zu verlassen.
Italiens Lega-Chef Salvini verlangt, ihm
„alle Vollmachten“ zu erteilen oder das bis
2023 gewählte Parlament sofort aufzulö-
sen, um ein ihm genehmeres zu wählen.
Sie propagieren die Formel: Volk + An-
führer = nationale Größe. Eine Formel,
die in den Totalitarismus führen kann.


Die Propaganda der Populisten baut
auf einer Lüge auf, der Lüge vom einheitli-
chen Volkswillen. Dabei offenbart jede
freie Wahl, dass das Volk kein Monolith
ist, sondern ein Fels aus vielerlei Gestein,
voller Brüche und Risse. Um dies zu leug-
nen, greifen Populisten zu einem Trick:
Sie behaupten, denwahrenVolkswillen zu
vertreten. Wer sich ihnen entgegenstelle,
sei zwangsläufig Volksverräter. Wobei die
Verräter schon mal den Großteil der Bevöl-
kerung ausmachen können. Die Idee, dass
der Volkswille von Volksvertretern im Par-
lament als Kompromiss gefunden wird,
ist Populisten fremd.
Genau dieses Prinzip der parlamentari-
schen Demokratie aber hat sich in vielen
Staaten, zum Beispiel Westeuropas, in
Jahrzehnten bewährt. Und es wird noch
wertvoller werden. Denn die Probleme, de-
nen sich Staaten stellen müssen, werden
immer komplexer und schwerer durch-
schaubar, ob es nun um Handelsabkom-
men, Rentensysteme, die Kontrolle von In-
ternetkonzernen oder den EU-Austritt
Großbritanniens geht. Sie lassen sich
schlecht per Volksentscheid mit Ja oder
Nein lösen. Oft liegt die beste Lösung im
Zwischenweg, der nur im Parlament aus-
gelotet werden kann. Und meist ist es fa-
tal, wenn knappe Volksentscheide wie der
über den Brexit bewirken, dass eine Hälf-
te der Bürger alles bekommt und die ande-
re gar nichts. Das kann eine Nation zerrei-
ßen, wie die Briten demonstrieren.
Gerade in hysterisierten Zeiten der Fil-
terblasen, asozialen Netzwerke und or-
chestrierten Lügen könnten starke Parla-
mente zur Beruhigung und Versachli-
chung beitragen. Hierzu müssen sie sich
jedoch selbstkritisch betrachten. Manche
Parlamente, das italienische etwa, gerie-
ten nicht ganz zu Unrecht in den Verruf ei-
ner „Kaste“, die mehr dem eigenen Wohl
als dem des Landes dient. Korruption zer-
frisst den Parlamentarismus und führt
zum Ruf nach starken Führern. Ein über-
bordender Lobbyismus, in Brüssel, oder
auch in Berlin, untergräbt das Vertrauen
der Bürger in den Willen der Abgeordne-
ten, dem Gemeinwohl zu dienen. Und
manchmal bieten Parlamente ein solches
Bild bösartiger Parteilichkeit, dass sich
Wähler angeekelt von „der Politik“ und
„den Eliten“ abwenden. Das ist in Rom zu
beobachten oder in Washington. Und
auch das Abgeordnetenhaus in London
hat sich beim Brexit als kompromissunfä-
hig erwiesen und schlecht ausgesehen.
Es liegt an Parlamenten und Abgeord-
neten, Vertrauen und Respekt zurückzu-
gewinnen. Dann können sie verhindern,
dass Populisten wie Johnson, Salvini oder
Trump übergriffig werden, die Gewalten-
teilung missachten und womöglich autori-
täre Herrschaftssysteme errichten.

„Das hier ist mein Gewehr.
Es gibt viele andere, aber
dies ist meins. Mein Gewehr
ist mein bester Freund!“ Ein
so inniges Verhältnis zur ei-
genen Waffe, wie es Stanley Kubrick in
„Full Metal Jacket“ inszeniert, dürfte un-
ter deutschen Polizisten selten sein.
Gleichwohl: Jeder Polizeibeamte besitzt
eine persönliche Dienstwaffe, die er in
der Regel bis zur Pensionierung behält.
Dass derzeit elf Dienstwaffen der Bundes-
polizei als gestohlen oder verloren gemel-
det sind, wie aus der Antwort der Bundes-
regierung auf eine Anfrage der FDP-Frak-
tion hervorgeht, ist auch insofern bemer-
kenswert, als eigentlich jede Waffe auf
ihren Träger registriert ist. Er kann sie in
der Waffenkammer seiner Dienststelle
aufbewahren oder mit nach Hause neh-
men, nachdem er schriftlich versichert
hat, dass er sie dort ordnungsgemäß ver-
schlossen aufbewahrt. Im Dienst müssen
Beamte der Bundespolizei in der Regel ih-
re komplette Ausrüstung tragen, dazu ge-
hört neben der Uniform auch die P30 von
Heckler & Koch, die vor zehn Jahren als
Dienstwaffe eingeführt wurde. Neben Pis-
tolen, die auf die Beamten persönlich re-
gistriert sind, stehen in den Dienststellen
auch zusätzliche Waffen zur Verfügung.
Wenn da eine fehlen sollte, schauen die
Ermittler zuerst, wer zuletzt unterschrie-
ben hat, dass die Waffe noch da ist. So zu-
mindest ist es Vorschrift. anh

4 HF2 (^) MEINUNG Freitag,30. August 2019, Nr. 200 DEFGH
FOTO: THOMAS COEX/AFP
JAPAN UND SÜDKOREA
Schatten der Geschichte
KOPFTÜCHER IN SCHULEN
Verbote helfen nicht
VERKEHR
Der Trend stimmt
UKRAINE
Blindes Vertrauen
FC BAYERN
Kunst des Loslassens
sz-zeichnung: burkhardmohr
PARLAMENTARISMUS
Im Namen des Volkes
von stefan ulrich
AKTUELLES LEXIKON
Dienstwaffe
PROFIL
Mosche
Feiglin
Viel umworbener
israelischer
Ultranationalist
Der nun auch ökonomisch
ausgetragene Konflikt wurzelt
im Umgang mit der Historie
Wer konservativen Muslimen
die Tür vor der Nase zuschlägt,
behindert den Dialog
Johnson, Trump, Salvini: Die
indirekte Demokratie, Garantin
der Machtkontrolle, ist in Gefahr

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