Süddeutsche Zeitung - 30.08.2019

(Romina) #1
von peter burghardt
und leadeuber

Hamburg/Peking– AmSamstag wollen
sie in Hamburg wieder an Hongkong erin-
nern, trotz allem. „Stand with Hong Kong“,
lautet ihr Motto. „Der Hongkonger Kampf
für Freiheit und Menschenrechte erreicht
Hamburg!“ Am Jungfernstieg werden in
der Hansestadt lebende Hongkonger „auf
den Konflikt zwischen China und Hong-
kong und die aktuellen Gefahren für
Deutschland aufmerksam machen“, so das
Programm. Und weil bei ihrer letzten De-
mo erschreckende Dinge gemeldet wur-
den, schickt die Bewegung dies voraus:
„Wir lassen uns unsere Rechte nicht neh-
men – erst recht nicht in Deutschland!“

Am 17. August hatten die jungen Leute
schon einmal demonstriert. Sie saßen vor
dem Rathaus, mit Fotos und Plakaten. „De-
mokratie für Hongkong“, stand darauf.
Oder „No violence!“, keine Gewalt. Oder
„Together we fight“, gemeinsam kämpfen
wir. Daheim in Hongkong werden Demons-
tranten von Polizisten und Schlägertrupps
verprügelt, nebenan wartet die chinesi-
sche Armee. Es geht um den Sonderstatus
der früheren britischen Kronkolonie.
Deutschland sollte für protestierende
Hongkonger deutlich sicherer sein, doch
Teilnehmer sind nachhaltig verstört.
Eine Frau und ein Mann erzählen. Ihre
Namen, ihr Alter und ihre Jobs behalten sie
für sich, seit jenem Hamburger Nachmit-
tag begleitet sie eine diffuse Angst. Da ka-

men Botschaften über die sozialen Netz-
werke. „Ich hoffe, dass deine ganze Familie
stirbt“, habe einer geschrieben und sich als
Mitglied der Kommunistischen Partei Chi-
nas ausgegeben. Bei ihrer angemeldeten
Kundgebung in Hamburg scheinen plötz-
lich mehr regimetreue Chinesen als kriti-
sche Hongkonger aufgetaucht zu sein. Sie
hätten provoziert und beleidigt, sie sangen
die chinesische Hymne und breiteten eine
große chinesische Flagge aus. Vor allem
aber hätten die an dieser Stelle unangemel-
deten Gegendemonstranten ständig ge-
filmt und fotografiert, gerne aus nächster
Nähe, was nach Ansicht der Betroffenen
eher nicht mit asiatischer Freude an Fotos
und Videos zu erklären ist.
Sie würden die Aufnahmen im Internet
verbreiten und an das chinesische Konsu-
lat weiterleiten, hätten die Hongkonger
von den Chinesen zu hören bekommen.
Das darf als Drohung verstanden werden,
denn wer auf solchen Bildern zu erkennen
ist, der oder dessen Angehörige könnten in
Hongkong Probleme bekommen. In den
vergangenen Wochen haben die Behörden
mehr als 900 Demonstranten in der Stadt
festnehmen lassen. „Unsere Familien sind
unsere größte Sorge“, sagt eine Hambur-
ger Hongkongerin. Zwar trugen die meis-
ten von ihnen Mundschutz, als Erinnerung
an das Tränengas der Hongkonger Polizei.
Manche hatten sich auch demonstrativ das
rechte Auge zugeklebt, in Hongkong waren
mehrere Demonstranten von Gummige-
schossen im Gesicht getroffen worden.
Aber es wurde zwischendurch auch mal ei-
ne Maske abgenommen. Außerdem fürch-
tet ein Hamburger Hongkonger eine chine-
sische Gesichtserkennungssoftware.
„Ziemlich organisiert“ kamen ihm die
chinesischen Rivalen vor. Welcher Regie

sie folgten und ob es mehr sein könnte als
der Versuch, eine genehmigte Demonstra-
tion durcheinanderzubringen, ist schwer
abzuschätzen. Ein Hamburger Jurist, der
dabei war, bestätigt die Angaben der Hong-
konger Gruppe. „Die Stimmung war ex-
trem aggressiv“, sagt er. „Da wird eine
Drohkulisse aufgebaut“, und zwar „relativ
systematisch“. Verabredet hat sich die Ge-
genseite nach seinen Informationen über
WeChat, einen chinesischen Chat-Dienst.
Die Störungen sind denen in anderen
Städten ähnlich, auch wenn es nicht so
schlimm zuging wie zuletzt in Australien.
Schauplatz waren dort vor allem die Uni-
versitäten, pro-chinesische Studenten grif-
fen Demonstranten aus Hongkong und

Australien an. Die Regierung in Canberra
hat eine Ermittlungsgruppe eingesetzt,
um zu klären, inwieweit die Hochschulen
des Landes von Kräften aus China unter-
wandert sind. In Kanada gab es ebenfalls
pro-chinesische Provokationen.
Der deutsche Beobachter schätzt, dass
es sich auch in Hamburg „um politisch ge-
steuerte Aktionen handelt“. Er mag nicht
akzeptieren, „dass im Namen einer frem-
den Diktatur der deutsche Rechtsstaat
missachtet und hier friedliche, demokrati-
sche Versammlungen beeinträchtigt wer-
den“. Die Hamburger Polizei habe spät ein-
gegriffen – nicht jedem Beamten dürften
die möglichen chinesischen Repressionen
in Hongkong bewusst sein.
Die Aktivisten von „Stand with HK“ da-
gegen ahnen, wie lang Pekings Arm ist. Sie
wissen auch um die wirtschaftliche Bedeu-
tung Chinas für Deutschland und die EU,
besonders für eine Hafenstadt wie Ham-
burg. Der Hamburger Bürgermeister Peter
Tschentscher war gerade mit einer Delega-
tion in Shanghai. Doch sie fordern von
Deutschland Sanktionen gegen diejeni-
gen, die Menschenrechte verletzt haben.
Sie verlangen mehr Bewusstsein bei chine-
sischen Großinvestitionen und strategi-
schen Unternehmenskäufen, mehr Ein-
satz für Hongkongs Demokratiebewegung
und Asyl für Hongkonger Dissidenten.
Mit seinem Protest in Hamburg will
„Stand with HK“ weitermachen. Der
Kampf um Demokratie und gegen Repres-
salien wie die Auslieferung nach Festland-
china sei „die letzte Schlacht“, sagt eine
Hamburger Hongkongerin. Der Dresscode
für die Demo am Jungfernstieg: schwarzes
T-Shirt, Mundschutz, Augenklappe. Die
Hamburgerin aus Hongkong empfiehlt,
die Masken auch zu tragen.

Unsicherer Hafen


Mit einerKundgebung in Hamburg wollen Hongkonger am Samstag erneut an die Lage in ihrer Heimat erinnern.
Doch die jungen Leute sind nachhaltig verstört, seit sie bei der ersten Demo Pekings langen Arm zu spüren bekamen

Hongkongs Polizei hat einen für Samstag
geplanten Massenprotest verboten. Der
Antrag des Protestbündnisses Civil Hu-
man Rights Front wurde abgelehnt, wie
die Hongkonger ZeitungSouth China Mor-
ning Postam Donnerstag berichtete. Die
Gruppe hatte in den vergangenen Wochen
mehrfach über eine Million Menschen auf
die Straße gebracht. Sie wollte am Sams-
tag eine Kundgebung und einen Marsch
zum Verbindungsbüro der chinesischen
Regierung abhalten. Verbote von Demons-
trationen hatte es während der seit mehr
als zweieinhalb Monaten andauernden
Proteste immer wieder gegeben. Jedoch
gingen viele Protestler dennoch auf die
Straße. Mitorganisator Jimmy Sham will
Einspruch gegen die Entscheidung einle-
gen. Auch am Sonntag wollen wieder Tau-
sende demonstrieren. DPA

Gütersloh– Skepsis gegenüber Zuwande-
rung ist bei den Deutschen einer Studie zu-
folge weit verbreitet, hat aber abgenom-
men. Rund 52 Prozent finden, es gebe zu
viel Einwanderung, wie eine repräsentati-
ve Befragung im Auftrag der Bertelsmann
Stiftung ergab. 49 Prozent der Befragten
meinten, Deutschland könne keine weite-
ren Flüchtlinge mehr aufnehmen, da die
Belastungsgrenze erreicht sei – 2017 hat-
ten das 54 Prozent gesagt. Unverändert 37
Prozent stimmen dagegen der Aussage zu,
Deutschland könne und solle mehr Flücht-
linge aufnehmen, weil es humanitär gebo-
ten sei. Ostdeutschland blickt kritischer
auf Einwanderung als der Westen. Nach
den Turbulenzen infolge der hohen Zuwan-
derung von 2015 sehe eine große Mehrheit
auch verstärkt deren Vorteile, etwa für die
Wirtschaft, heißt es in der Untersuchung.
Negative Einschätzungen seien ausge-
prägt, schwächten sich im Vergleich zur
vorherigen Untersuchung von 2017 aber
ab. Weitere Erkenntnis: Je jünger die Men-
schen und je höher die Bildungsabschlüs-
se, desto aufgeschlossener stehen sie Mi-
gration gegenüber.
In einigen Punkten überwiegt bei den
Befragten aber die Skepsis: 71 Prozent glau-
ben, dass Zuwanderung den Sozialstaat zu-
sätzlich belastet – rund 83 Prozent im Os-
ten und 68 Prozent im Westen. Gut zwei
Drittel befürchten Konflikte zwischen Ein-
gewanderten und Einheimischen. Eine
Mehrheit (63 Prozent) meint, dass zu viele
Migranten die deutschen Wertvorstellun-
gen nicht übernehmen. Und etwa ebenso
viele befürchten Probleme an den Schulen
und Wohnungsnot in Ballungsräumen.
Und welche Vorteile sehen die Deutschen?
Zwei Drittel stimmen der Aussage zu, dass
Einwanderung positive Effekte auf die
Wirtschaft hat – 67 Prozent im Westen,
aber nur 55 Prozent im Osten. Ebenfalls
zwei Drittel der Befragten meinen, Migrati-
on mache das Leben interessanter und sei
gut gegen die Überalterung der Gesell-
schaft. Viele sehen eine Strategie gegen
den Fachkräftemangel. Die Studienauto-
ren machen eine zwiespältige – skeptische
wie pragmatische – Haltung aus. Der star-
ke Zuzug von Flüchtlingen ab September
2015 habe merkliche Spuren bei der Auf-
nahmebereitschaft hinterlassen. Aktuell
stehe die Bevölkerung der Migration aber
wieder mehrheitlich positiv gegenüber.
„Deutschland hat den Stresstest der Flucht-
zuwanderung ab 2015 gut gemeistert und
stabilisiert sich als pragmatisches Einwan-
derungsland“, meinte Jörg Dräger, Vor-
stand der Bertelsmann-Stiftung. Im Re-
kordjahr 2015 waren 890 000 Flüchtlinge
eingereist, 2016 waren es noch 280 000, da-
nach deutlich weniger. Man könne von ei-
ner „robusten Willkommenskultur“ spre-
chen, erläuterte Orkan Kösemen, Migratri-
onsexperte der Stiftung. dpa

Warschau– Die Ukraine bekommt nach
dem jüngsten Präsidenten auch den jüngs-
ten Regierungschef ihrer Geschichte. Das
neue Parlament wählte bei seiner ersten
Sitzung den 35 Jahre alten Juristen Alexej
Gontscharuk zum neuen Ministerpräsiden-
ten. Die Wahl war galt angesichts einer ab-
soluten Mehrheit der Präsidentenpartei
„Diener des Volkes“ von 254 Stimmen bei
424 Parlamentssitzen als Formsache. Gont-
scharuk ist durch seine mehrjährige Arbeit
in einer Gruppe für Wirtschaftsreformen
bekannt. Seit Mai berät er Staatspräsident
Wolodimir Selenskij in Wirtschaftsfragen,
er begleitete ihn auf etlichen Reisen im In-
und Ausland.
Neuer Außenminister wird Wadim Pris-
taiko, er war seit 2014 Vize-Außenminister
und seit Mai 2019 außenpolischer Berater
Selenskijs im Präsidialamt. Verteidigungs-
minister wird der Militärreformer Andrej
Sagorodnjuk. Neuer Chef des von Amts-
missbrauch und etlichen Affären erschüt-
terten In- und Auslandsgeheimdienstes
SBU wird Iwan Bakanow, Kindheitsfreund
und ehemaliger Geschäftspartner Selens-
kijs – ohne Militär- oder Geheimdienster-
fahrung. Neuer Leiter der ebenfalls skan-
dalumwitterten Generalstaatsanwalt-
schaft wird Ruslan Rjaboschapka, ein ange-
sehener Reformer mit Erfahrung in Justiz
und Anti-Korruptionsreformen. Finanzmi-
nisterin bleibt Oxana Markarowa.
Auch das neue Parlament wird von Ver-
trauten Selenskijs kontrolliert. Zum Parla-
mentspräsident wurde sein Parteichef
Dmitrij Rasumkow gewählt, zu dessen
Stellvertreter der Parteistratege Ruslan
Stefantschuk. Vertreter der Präsidenten-
fraktion sollen im neuen Parlament 19 von
23 Ausschüssen leiten. Die angesehene An-
ti-Korruptions-Spezialistin Anastasia


Krasnosilska soll den entsprechenden Aus-
schuss leiten.
Igor Tkatschenko, bisher Generaldirek-
tor des populären Fernsehsenders 1+1, soll
den Medienausschuss leiten – eine Beset-
zung, die bei Beobachtern für hochgezoge-
ne Augenbrauen sorgt. 1+1 gehört dem um-
strittenen Oligarchen Ihor Kolomoiskij,
dessen Unterstützung mitentscheidend
für die Wahl Selenskijs zum Präsidenten
war. Kolomoiskijs bisheriger Anwalt An-
drij Bohdan ist bereits seit Mai Chef der
Präsidialverwaltung und gilt als zweit-
mächtigster Mann der Ukraine.
Auch etliche Parlamentarier der „Die-
ner des Volkes“ sind mit Kolomoiskij, sei-

nen Firmen oder dessen Partei verbunden.
Dem künftigen Finanzausschuss-Vorsit-
zenden Danilo Hetmanzew zufolge ist ein
Gesetz in Vorbereitung, das gegen eine
Steuer von fünf Prozent eine Amnestie auf
unerklärte Vermögen möglich machen soll


  • dies würde auch Oligarchen wie Kolomo-
    iskij begünstigen, die Milliardenwerte un-
    ter teils fragwürdigen Umständen erwor-
    ben oder ins Ausland transferiert haben.
    Staatspräsident Selenskij brachte am
    Donnerstag Dutzende Gesetzentwürfe ein,
    darunter einen, der ein mögliches Amtsent-
    hebungsverfahren gegen den Präsidenten
    regeln soll – ein Wahlkampfversprechen
    von ihm. Abgestimmt werden soll über die
    Abschaffung von Immunität von Parla-
    mentariern. Dazu ist eine Verfassungsän-
    derung notwendig, für die wiederum zwei
    Drittel der Stimmen im Parlament erfor-
    derlich sind. Präsident Selenskij wäre da-
    für auf andere Fraktionen angewiesen.


Dem kommenden Vize-Parlamentspräsi-
denten Stefantschuk zufolge arbeitet die
Präsidentenfraktion an 465 Gesetzentwür-
fen, von denen etliche Verfassungsände-
rungen vorsehen.
Zweitgrößte Fraktion ist die moskau-
freundliche Oppositionsplattform „Für
das Leben“ mit 44 Abgeordneten, dritt-
stärkste die „Europäische Solidarität“ von
Ex-Präsident Petro Poroschenko. Ex-Mi-
nisterpräsidentin Julia Timoschenko führt
die 25 Köpfe starke Fraktion „Vaterland“.
Die Reformpartei „Golos“ stellt 17 Abgeord-
nete.florian hassel  Seite 4

Berlin– Naturgemäß sorgen sich Parteien
vor allem um die eigenen Wahlergebnisse,
am Sonntag wird die CDU aber auch mit
bangem Blick auf die Resultate der SPD
schauen. Die Sachsen und die Brandenbur-
ger wählen – und vom Ausgang der Abstim-
mungen wird nicht nur abhängen, wer
künftig in den beiden Ländern regiert. Die
Ergebnisse werden auch Einfluss darauf
haben, ob die SPD nach ihrem Parteitag im
Dezember noch Teil der Bundesregierung
sein wird. Krachende Niederlagen der Sozi-
aldemokraten in Brandenburg und Sach-
sen dürften das Lager der Groko-Gegner in
der SPD übermächtig werden lassen.
Die Union müsse auf alles vorbereitet
sein, hieß es deshalb unisono bei der Klau-
sur der Spitzen von CDU und CSU Anfang
der Woche in Dresden. Und die erste Frage,
die es da zu klären gilt, ist die, ob man nach
einem Auszug der SPD als CDU-Minder-
heitsregierung weitermachen will. Denn
daran, dass es ohne vorherige Neuwahl zu
einer Jamaika-Koalition kommen könnte,
glaubt in der Union wegen der aktuellen
Stärke der Grünen kaum einer.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäub-
le und Gesundheitsminister Jens Spahn ha-
ben schon öfter ihre Sympathie für eine
Minderheitsregierung bekundet. Die bei-
den glauben, dass das unter anderem zur
Profilschärfung beitragen könnte. Nach
mehr als 13 Jahren in Koalitionsregierun-
gen wisse doch kaum noch einer, was CDU
pur sei. Parteichefin Annegret Kramp-Kar-
renbauer stand sogar schon einmal an der
Spitze einer Minderheitsregierung. Nach
dem Ende der Jamaika-Koalition im Saar-
land Anfang 2012 regierte ihre CDU ein
paar Wochen lang allein.
Doch nach allem, was man in diesen Ta-
gen in der CDU hört, würde es nach einem

Auszug der SPD aus der Bundesregierung
bestenfalls für eine kurze Übergangszeit
vor Neuwahlen zu einer Minderheitsregie-
rung kommen. Zwischen CDU-Spitze, Uni-
onsfraktionsführung und Kanzleramt
scheint es Konsens zu sein, dass man sich
nicht dauerhaft auf ein Regieren ohne
Mehrheit einlassen will.
Bei der Klausur der Parteispitzen in
Dresden wurde darauf verwiesen, dass es
bei den meisten der bisherigen Minder-
heitsregierungen in den Bundesländern je-
weils einen festen Tolerierungspartner ge-
geben habe. Im Bund wäre die Lage nach ei-
nem Auszug der SPD aber eine ganz ande-
re. Zum einen bräuchte man sogar zwei

Partner, um auf eine Mehrheit zu kommen


  • die Stimmen von FDP oder Grünen allein
    würden nicht ausreichen. Zum anderen
    würde es sich bei FDP und Grünen um poli-
    tisch gegengerichtete Parteien handeln.
    Für Beschlüsse zum Klimaschutz könnte
    man vielleicht die Grünen gewinnen, aber
    die FDP würde blockieren. Bei Vorhaben in
    der Steuer- oder Wirtschaftspolitik wäre
    es umgekehrt. Allein in der vergangenen
    Legislaturperiode habe der Bundestag
    mehr als 500 Gesetzesvorhaben verab-
    schiedet. Das sei nicht möglich, wenn man
    sich für jedes einzelne mühsam Mehrhei-
    ten zusammensuchen müsse.
    In der Führung der Unionsfraktion wird
    auch darauf verwiesen, dass eine Minder-
    heitsregierung leicht vorgeführt werden
    könne. Beim Werbeverbot für Abtreibun-
    gen oder Themen aus dem Bereich Daten-
    schutz und Bürgerrechte würden sich im
    Bundestag schnell Mehrheiten gegen die
    Union finden. Und für Entscheidungen wie
    die Verlängerung von Bundeswehrmanda-
    ten würden CDU und CSU kaum noch die
    nötige Unterstützung bekommen.
    Die Kanzlerin hat bei einer Veranstal-
    tung in Stralsund zwei weitere Argumente
    angeführt, weshalb auch sie „keine Freun-
    din der Minderheitsregierung“ sei. Länder
    wie Dänemark, in denen es häufig Minder-
    heitsregierungen gebe, könnten kein Vor-
    bild sein, sagte Angela Merkel. Denn in
    Deutschland gebe es mit Bundestag und
    Bundesrat ein Zwei-Kammer-System, wel-
    ches das Regieren schon jetzt erschwere.
    Außerdem könne sie auf EU-Gipfeln
    nichts zusagen, von dem sie nicht wisse,
    dass es danach auch im Bundestag gebil-
    ligt werde. Denn in Deutschland habe das
    Parlament in Sachen Europa sehr starke
    Mitwirkungsrechte. robert roßmann


München– EinKopftuchverbot für Schüle-
rinnen unter 14 Jahren wäre mit dem
Grundgesetz vereinbar. Zu diesem Ergeb-
nis kommt der Tübinger Professor und Ver-
fassungsjurist Martin Nettesheim in ei-
nem Gutachten, das er im Auftrag der Frau-
enrechtsorganisation Terre des Femmes
erstellt hat. Am Donnerstag stellte er es auf
einer Pressekonferenz in Berlin vor. Ein
Kopftuchverbot würde dem 42-seitigen
Gutachten zufolge weder die Religionsfrei-
heit der Kinder beeinträchtigen, noch wäre
es ein unverhältnismäßiger Eingriff in die
Erziehungsrechte der Eltern. „Gesetzgebe-
rische Erziehungsziele lassen es zu“,
schreibt Nettesheim, „in der Schule äußere
Manifestationen mit religiöser Konnotati-
on durch noch nicht glaubensreife Kinder
zu unterbinden.“


Über ein Kopftuchverbot in der Schule
wird seit Jahren diskutiert, die Frage ist po-
litisch wie juristisch umstritten. Nettes-
heim stellt sich mit seiner Analyse etwa ge-
gen den Wissenschaftlichen Dienst des
Bundestags, der 2017 feststellte, dass ein
Kopftuchverbot für Schülerinnen „verfas-
sungsrechtlich wohl nicht zulässig wäre“.
Nachdem das österreichische Parlament
im Mai ein solches Verbot für Grundschu-
len beschlossen hatte, gab auch eine Grup-
pe von Bundestagsabgeordneten der CDU
ein Gutachten bei dem Würzburger Rechts-
professor Kyrill-Alexander Schwarz in Auf-
trag. Es soll im Herbst vorliegen.
Die Organisation Terre des Femmes, die
sich für Gleichberechtigung und Selbstbe-
stimmung von Frauen engagiert, setzt sich
für ein Kopftuchverbot ein, das für Kinder
unter 18 Jahren gelten soll. „Kinderver-
schleierung“ sei „ein modernes Phänomen
des islamischen Fundamentalismus, das
auf frühe Indoktrination und gegen die ver-
fassungsmäßig garantierte Gleichberechti-
gung der Geschlechter zielt“. Wie viele Kin-
der tatsächlich ein Kopftuch in der Schule
tragen, ist unklar. In Grundschulen han-
delt es sich nach Einschätzung von Exper-
ten um Einzelfälle, auf den weiterführen-
den Schulen sind es zum Teil deutlich
mehr, besonders in Großstädten. In einer
Umfrage von Terre des Femmes gaben
78 Prozent der insgesamt allerdings nur
252 befragten Lehrkräfte an, Schülerinnen
mit Kopftuch zu unterrichten.
Ein Kopftuchverbot, argumentiert Net-
tesheim in seinem Gutachten, sei bereits
jetzt möglich, um Konflikte im Schulab-
lauf zu verhindern. Das Grundgesetz aber
schreibe der Schule eine Rolle zu, die dar-
über hinausreiche. Es „ermöglicht und for-
dert eine Erziehung zur Freiheit, durch die
die Schülerinnen und Schüler zur Entwick-
lung einer selbstbestimmten, aber auch so-
zial integrierten und verantwortlichen Per-
sönlichkeit angeleitet werden“. Die Verfas-
sung erlaube es, wenn der Gesetzgeber
„Schule als Raum konzipiert, in dem Mani-
festationen partikularer Lebensformen zu-
rückgedrängt werden, um Offenheit zu
schaffen“. Zwar schütze die Religionsfrei-
heit das Tragen eines Kopftuchs, doch
müssten Kinder eine „bestimmte intellek-
tuelle Reife“ entwickeln, ehe ihre Handlun-
gen „als Ausdruck selbstbestimmter und
verantwortlicher Ausübung der Religions-
freiheit angesehen werden können“. Es
spreche nichts dagegen, als Schwelle ein Al-
ter von 14 Jahren anzunehmen.
Nettesheim stellt aber auch klar: Das
Kopftuch in der Schule zu verbieten, aber
andere religiös konnotierte Kleidung wie
etwa eine Kippa zu erlauben, wäre „proble-
matisch“. paul munzinger  Seite 4


Protest verboten


Ganz schön viele Vertraute


Mit derBesetzung einiger Posten löst der neue ukrainische Präsident Stirnrunzeln aus


Falls die Groko zerbricht


Die Spitzen der Union wollen höchstens kurz als Minderheitsregierung weitermachen


Kinder unter 14 seien noch nicht


„glaubensreif“, so das Gutachten


DEFGH Nr. 200, Freitag, 30. August 2019 (^) POLITIK HF2 7
Zwischen Toleranz
und Skepsis
Studie untersucht die Einstellung
der Deutschen zur Zuwanderung
„No violence“: „Keine Gewalt“ forderten die Hongkonger Demonstranten am 17. August in Hamburg. FOTO: PRIVAT
Vizekanzler und Kanzlerin: Wie lang hält
ihre Partnerschaft noch? FOTO: REUTERS
Gegen Kopftücher
in derSchule
Mit einem Rechtsgutachten
wirbt Terre des Femmes für Verbot
Die Gegendemonstranten hätten
ständig gefilmt und fotografiert,
gerne aus nächster Nähe
Wie werden Flüchtlinge in der
Bevölkerung willkommen geheißen?
Vergleich Ost und West, Angaben in Prozent
SZ-Grafik; Quelle: Bertelsmann Stiftung
alte Bundesländer
2017
2019
neue Bundesländer
2017
2019
weiß nicht, keine Angaben
sehr/eher willkommen sehr/eher unwillkommen
65 29 6
59 34 7
33 57 10
42 49 9
465 Gesetzentwürfe sind offenbar
geplant.Etliche davon sehen
Verfassungsänderungen vor
Neu gewählte ukrainische Abgeordnete
schießen Selfies im Parlament. FOTO: AP

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