Handelsblatt - 30.08.2019 - 01.09.2019

(Jeff_L) #1
Anti-Johnson-
Protest: Der
Premier macht
sich unbeliebt.

Kirsty Wigglesworth/AP

T. Riecke, C. Volkery
Berlin, London

E


s dauerte nur wenige
Stunden, bis die ersten
Demonstranten auf den
Straßen waren. „Stoppt
den Putsch!“, skandier-
ten sie am Mittwochabend vor dem
Parlament in London. Schnell
schwoll die Menge an, insgesamt pro-
testierten Tausende in mehreren
Städten gegen den jüngsten Vorstoß
des Premierministers.
Boris Johnson hatte zuvor den
Machtkampf mit dem Parlament er-
öffnet – und dessen Suspendierung
von Mitte September bis Mitte Okto-
ber verkündet. Die fünfwöchige
Zwangspause soll sicherstellen, dass
das Unterhaus seine Brexit-Strategie
nicht durchkreuzen kann. Mit der
überraschenden Ankündigung über-
rumpelte Johnson seine Gegner im
Parlament. Sie stehen nun unter
noch größerem Zeitdruck, wenn sie
einen ungeordneten Brexit am 31. Ok-
tober verhindern wollen.
In Großbritannien vertiefte John-
sons Provokation die Spaltung des
Landes. Brexit-Gegner beschimpften
den Regierungschef in den sozialen
Netzwerken als „Diktator“. Eine On-
linepetition gegen die Auflösung des
Parlaments erreichte schnell mehr
als eine Million Unterschriften. Im
Lager der Brexit-Befürworter hinge-
gen machte sich Zufriedenheit breit.
Die konservative Presse lobte das
entschiedene Vorgehen des Pre-
miers. „Boris Johnson ist kein Dikta-

tor, er verteidigt die Demokratie ge-
gen jammernde Brexit-Gegner“,
kommentierte die auflagenstarke
Boulevardzeitung „The Sun“.
Im Ausland überwog die Kritik. In
Berliner Regierungskreisen sprach
man von „einem ungewöhnlichen
Vorgang“, der den Brexit „sicher
nicht leichter“ gemacht habe. John-
sons Manöver sei Teil eines Poker-

spiels, um den Druck insbesondere
auf Irland zu erhöhen. „Der Premier
ist im Moment im Vorteil“, hieß es
in der deutschen Hauptstadt, wo
sich die Politiker nun noch intensi-
ver auf einen ungeregelten Brexit
am 31. Oktober vorbereiten. Nur
noch „ein Wunder“ könne den Streit
um den Backstop für die irische
Grenze beilegen.
Der Vorsitzende des Auswärtigen
Ausschusses im Bundestag, Norbert

Röttgen (CDU), fragte auf Twitter:
„Wie verträgt sich Respekt vor der
Demokratie mit der Suspendierung
des Parlaments?“ Der CDU-Europaab-
geordnete David McAllister sagte der
„Rheinischen Post“, durch Johnsons
Ankündigung werde das Parlament
geschwächt. Als undemokratisch
brandmarkte Carl Bildt das Vorgehen
des britischen Regierungschefs: „Ich
war auch schon mal Ministerpräsi-
dent, und manchmal wäre es attrak-
tiv gewesen, das Parlament einfach
nach Hause zu schicken“, sagte der
ehemalige schwedische Premier.
„Aber unsere Demokratie würde das
zu Recht nie erlauben.“
Mancher Brite hatte gehofft, dass
Queen Elizabeth II. den Premiermi-
nister stoppen würde. Als Staatsober-
haupt musste sie der Auflösung des
Parlaments zustimmen. Theoretisch
hätte sie ihren Segen verweigern
oder eine kürzere Auszeit fordern
können. Doch es war von Anfang an
höchst unwahrscheinlich, dass die
Königin sich gegen Johnson stellen
würde. Sie tut, was die Regierung ihr
sagt. Alles andere würde eine Verfas-
sungskrise auslösen. Mehrere Partei-
chefs der Opposition, darunter Jere-
my Corbyn (Labour) und Jo Swinson
(Liberaldemokraten), baten um ein
Treffen mit der Monarchin, um sie
umzustimmen. Doch alle Appelle
verhallten.
Die Johnson-Gegner hoffen auch
noch auf die Gerichte: Anwälte ha-
ben einstweilige Verfügungen gegen
die Zwangspause beantragt. Ihr Argu-
ment: Die Regierung versuche, das

Brexit


Wettlauf gegen die Zeit


Mit der Suspendierung des Parlaments hat Boris Johnson


die No-Deal-Gegner überrumpelt. Den Abgeordneten bleibt


nicht viel Zeit für ihren Konter.


Nicolai von Ondarza

„Queen hat das


kleinere Übel


gewählt“


Der britische Premier hat die Königin in den
Machtkampf um den Brexit hineingezogen.
Eine Wahl blieb ihr kaum, erklärt der Groß-
britannien-Experte der Stiftung Wissen-
schaft und Politik.

Welche Rolle spielt die Königin im politi-
schen System Großbritanniens?
Auch Gesetze müssen von der Monarchin
unterschrieben werden, ähnlich wie in
Deutschland vom Bundespräsidenten. Die
Königin vertritt seit Jahrzehnten die klare
Haltung, das Amt so unpolitisch wie möglich
auszuüben. Zum Brexit hat sie sich bisher öf-
fentlich gar nicht geäußert. Als Staatsober-
haupt repräsentiert sie das Vereinigte König-
reich in einigen wichtigen Punkten.

Wie ist geregelt, wie die Königin agieren
darf?
Großbritannien hat keine festgeschriebene
Verfassung. Die heutige Form der parlamen-
tarischen Monarchie hat sich über Jahrhun-
derte in Machtkämpfen zwischen dem Par-
lament und der Krone ausgebildet. Königin
Elizabeth II. vermeidet jede Form der öf-
fentlichen politischen Äußerung
und geht damit noch ein Stück
weiter als ihre Vorgänger.

Darum hatte sie keine andere
Wahl, als Johnson sie bat, den
Urlaub der Parlamentarier zu
verlängern?
Johnson hat durch seinen Antrag
auf Suspendierung des Unterhauses die
Queen in eine umstrittenen Lage gezwun-
gen, im Konflikt zwischen Parlament und
Regierung Position zu beziehen.

Sie hätte ablehnen können?
Wie vieles in Großbritannien ist auch die
übliche Zustimmung zur Pause des Parla-
ments eigentlich nur eine Formsache. John-
son stellt es so dar, als wäre sein Gesuch
ganz regulär, weil er das Parlament ja nur
bis zur nächsten Regierungserklärung in ei-
ne Pause schickt. Besonders ist jedoch ei-
nerseits die Länge von fünf Wochen und an-
dererseits, dass es ungewiss ist, ob der Pre-
mier überhaupt den Rückhalt des Parla-
ments genießt. Rechtsexperten gehen des-
wegen davon aus, dass die Queen dieses
Anliegen hätte zurückweisen können. Die
Präzedenzfälle dafür liegen jedoch mehr als
ein Jahrhundert zurück.

Was wäre passiert, wäre es zur Ablehnung
gekommen?
Im Falle einer Zurückweisung des Gesuchs
wäre es zu einer vollen konstitutionellen Kri-
se in Großbritannien gekommen. Viele Jahr-
zehnte britischer Konventionen wären über-
worfen worden, die Königin wäre mitten im
Brexit-Machtkampf gelandet. Daher hat sie
das kleinere Übel gewählt. Es muss dazu ge-
sagt werden, dass das Parlament in der kom-
menden Woche noch die Chance hat, über
ein Misstrauensvotum Boris Johnson als Pre-
mier zu stürzen. Womöglich hätte die Queen
anders entschieden, hätte Johnson eine
Zwangspause bis über das Brexit-Datum hi-
naus beantragt. Mit dem 14. Oktober bewegt
er sich am Rande des Akzeptablen.

Die Fragen stellte Alexander Möthe.

Eine Ablehnung von Boris Johnsons
Antrag auf Parlamentspause hätte
eine schwere Krise ausgelöst.

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WOCHEN
Zwangspause
hat Boris Johnson den
Abgeordneten verordnet.
Quelle: Britische Regierung

SWP

Wirtschaft & Politik


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(^10) WOCHENENDE 30./31. AUGUST / 1. SEPTEMBER 2019, NR. 167
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