rer Gegenwart fortgeschrittener Systeme künstli-
cher Intelligenz deutlich wird. Wie immer wir Men-
schen das, was Maschinen tun, auch bezeichnen
wollen, als dumm oder intelligent, als bewusst oder
unbewusst, als regelbasierte Berechnung oder tat-
sächlich als Verhalten, es hat Folgen für uns. Für
das, was wir denken, tun und fühlen. Und dafür, wie
wir uns verhalten.
Digitales Erbgut
Schritt für Schritt lässt sich alles durch Algorith-
men erfassen, auswerten und vorhersagen, jedes
Element unseres Alltags-, Berufs- und Liebesleben.
Das beschreibt nicht nur menschliches Verhalten
anders, korrekter, vielleicht gnadenloser, als Men-
schen dies bislang getan haben. Es ändert vor allem
menschliche Verhaltensweisen in der steten reflexi-
ven Beeinflussung durch die Interaktion zwischen
Maschine und Mensch, Software und Geist. Men-
schen beginnen, Maschinen Namen zu geben, sie in
ihren Alltag zu integrieren, mit ihnen zu kommuni-
zieren, auch als Ersatz für einen wachsenden Man-
gel an menschlicher Interaktion. Die menschliche
Sozialisation und Evolution ist nicht mehr allein ab-
hängig vom „Genome“, dem Chromosomensatz einer
menschlichen Zelle, in dem das gesamte Erbgut an-
gelegt ist. Sie ist auch abhängig vom „Screenome“. So
nennen Forscher*innen den Strang unseres „digita-
len Erbguts“, der sich als nahezu endlose Folge von
medialen Momentaufnahmen, von Interaktionen
mit Bildschirmen und Computersystemen in jedem
menschlichen Leben knüpft. Und bald könnte sie ab-
hängig sein vom „Robonome“, der Ansammlung von
Erfahrungen und Empfindungen in der Interaktion
mit menschengleichen Maschinen, die das mensch-
liche Verhalten unabdingbar verändern wird.
Der Mensch steht dann an der Schwelle zu einem
umfassenden Turing-Test. Den entwarf Alan Turing
1950, ein Mensch muss darin im Gespräch mit zwei
Gegenübern herausfinden, ob er es mit einem Men-
schen oder einer Maschine zu tun hat. Geht die Ma-
schine in diesem Test als Mensch durch, kann sie als
intelligent gelten. Turing hat damit nie sagen wollen,
dass Maschinen sich menschlich verhalten können.
Er hat nur gezeigt, dass wahrhaftige Menschenähn-
lichkeit dann keinen Unterschied mehr macht. Ob
die Maschine ein ebenbürtiges Gegenüber oder nur
die Projektion eines humanen Bewusstseins ist: Für
Menschen ist real, was sie erleben. „Die Omniprä-
senz sozialer KI-Systeme in allen Lebensbereichen
[...] kann unsere Vorstellung von sozialer Handlungs-
fähigkeit verändern oder unsere sozialen Beziehun-
gen und Bindungen beeinflussen“, so heißt es in den
kürzlich entwickelten KI-Richtlinien der EU.
Es geht also mehr um uns selbst als um die Tech-
nologie. Unbedingt muss erforscht werden, wie intel-
ligente Systeme sich weiterentwickeln können und
auf welcher Datenbasis und welche Einblicke eine
interdisziplinäre Analyse von Informatik, Ökonomie
und Verhaltenswissenschaften bringt. „Künstliche
Intelligenz wird vollständige neue Denkweisen her-
vorbringen“, argumentieren Kissinger, Schmidt und
Huttenlocher. In der Analyse dieser Denkweisen
werden wir nicht weit kommen, wenn wir nur fragen,
wie die Maschinen uns ähnlicher werden. Vielmehr
müssen wir fragen, wie wir uns verändern durch das,
was Maschinen mit unserem Verhalten machen.
Eines Nachts hat Adam Sex mit Miranda. Charlie
sitzt in seiner Küche, niedergeschlagen und in dem
Gefühl, der betrogene Dritte zu sein. Er hat mitge-
hört. Seine Freundin hatte Sex mit einem „Vibrator
auf zwei Beinen“, wie er selbst zugeben muss. Und
doch ändert das alles, denn Charlie denkt und fühlt
„Betrug“. Adam, die humanoide Maschine, kann sich
vielleicht nicht verhalten. Sie tut das, was sich unter
anderem aus den Voreinstellungen ergibt, die Char-
lie und Miranda selbst gewählt haben. Und sie lernt
aus der Interaktion mit der Welt und den Menschen,
die in dieser Welt leben. Charlie hingegen lernt, dass
es für ihn ganz egal ist, ob die Maschine sich tatsäch-
lich wie ein Mensch verhalten kann oder ob sie nur
so tut, als ob. Für ihn fühlt sich real an, was ein Er-
gebnis vieler Zeilen von Code ist. Er sitzt an seinem
Küchentisch, verletzt und eifersüchtig, und hat nur
ein Gefühl für Adam: „Ich hasste ihn.“ n
Maschinen sind ein
Ersatz für den Mangel
an menschlicher
Interaktion
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Fotos Frank Beer
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