Denn tatsächlich bringt die digitale Technolo-
gie neue Risiken mit sich. Dabei geht es weniger
um den Einfluss von Bildschirmen, sozialen Netz-
werken und Computerspielen auf die Kinderge-
hirne. Die Angstmacherei vor zu viel Smartphone-
Nutzung beschäftigt Experten zwar schon seit
vielen Jahren. Ein viel akuteres Problem sind al-
lerdings die kommerziellen Interessen von Unter-
nehmen, die mit der Angst von Eltern Geschäfte
machen wollen.
In Mittel- und Oberschichtsfamilien weltweit
heißt Elternsein heute, alles zu geben, um sein
Kind zu schützen und zu fördern – und hier setzen
clevere Firmen an. Sie suggerieren, dass digitale
Geräte und Apps stets effizienter und manchmal
sogar effektiver sind als der Babysitter, die Groß-
eltern oder Mutter und Vater. Noch beeindruckt
die Roboter-Nanny vor allem auf Elektronikmes-
sen. In asiatischen Ländern, die weniger Vorbe-
halte gegen Humanoide haben als der Westen,
dürfte sie aber bald in etlichen Kinderzimmern
auftauchen.
Der Markt für internetfähige Geräte und angeb-
lich intelligente Spielzeuge, die Kinder vom Baby-
bettchen bis zum Teenageralter begleiten, wächst
schon jetzt rasant. Die einen verkaufen sensorge-
spickte Pflaster oder Socken für Neugeborene, da-
mit die Eltern ohne Angst vor dem plötzlichen
Kindstod schlafen können. Motto: „Love more,
worry less“ – als wäre die elterliche Liebe abhängig
vom Einsatz der neuesten Gadgets.
Elektronische GPS-Tracker, eigentlich für Kin-
der mit Behinderungen gedacht, werden für alle
vermarktet; es gibt Apps, mit denen sich Kinder
auf Schritt und Tritt verfolgen lassen (oder bei Be-
darf auch der Ehepartner); Amazon bietet eine
Version von Echo speziell fürs Kinderzimmer; und
Puppen wie Cayla versprechen Spiele, arbeiten
nebenbei aber als Spion, indem sie Puppenmuttis
und -vatis private Informationen entlocken. Der
unmissverständliche Rat der Bundesnetzagentur:
„Vernichten Sie diese Puppe.“
Victoria Nash ist Professorin am Oxford Inter-
net Institute. Dort erforscht sie, wie sich das Kind-
sein und die Elternschaft durch Technologie ver-
ändern. Von Panik hält Nash nichts, immerhin
habe das Internet Eltern und Kindern unglaubli-
che Vorteile gebracht. Aber zwei Themen blieben
bislang ziemlich unterbelichtet.
Da sei erstens der Mangel an Datensicherheit.
Immer wieder gerieten massenhaft sensible Infor-
mationen in falsche Hände. Oft sind die Anbieter
der neuen Produkte eher klein, sodass sie es sich
nicht leisten können (oder wollen), ihre Geräte
vernünftig zu sichern. Hacker haben es dann
leicht, virtuell in Kinder- und Schlafzimmer einzu-
dringen, über Babykameras in Häuser zu schauen
oder Verhaltensdaten abzufischen, die womöglich
ein Leben lang an Menschen kleben bleiben.
Die Standards müssten dringend aktualisiert
werden, fordert Nash daher. Im Moment gelte:
„Nicht die Kinder nutzen das Internet, das Inter-
net nutzt die Kinder.“ Und sie fügt hinzu: „Ich ma-
che mir Sorgen um das von Algorithmen erzogene
Kind, wenn wir Entscheidungen darüber, ob es
sicher ist, es ihm gut geht oder ob es sich gut ent-
wickelt, nur auf der Basis von Daten treffen, die
uns private Unternehmen über unsere eigenen
Kinder verkaufen.“
Zweitens findet die Professorin etwas anderes
noch wichtiger: Was bedeutet es, in der digitalen
Welt Eltern und Kind zu sein? Das Konzept Kind-
heit, sagt Nash, habe schon immer variiert, je nach
Kultur und historischer Epoche. Insofern dürfte
künftig auch die Elternschaft neu gedacht werden.
Podcast statt Vorlesen
Was Kindheit theoretisch bedeuten sollte, kann
man in der UN-Kinderrechtskonvention von 1989
nachlesen. Darin sind der Schutz vor Gewalt,
Rechte auf Freizeit und Bildung verbrieft. Prak-
tisch werden Kinderrechte unterschiedlich umge-
setzt und interpretiert. Am einen Ende der Welt
ist Kinderarbeit Alltag, am anderen dürfen 15-Jäh-
rige nicht mal alleine zur Schule radeln. In man-
chen Ländern beansprucht der Staat die Rolle des
Erziehers in der Überzeugung, die jungen Bürger
besser nach seinem Bild formen zu können als die
Eltern. In anderen liegt die gesamte Verantwor-
tung bei den Erziehungsberechtigten.
Doch wenn sich Technologie dazwischen-
schiebt, verändert sich das Verhältnis zwischen
Eltern und Kindern. Zum einen lagern Eltern Kom-
munikation aus, wenn die Kleinen künftig nur
noch Podcasts hören oder mit Roboter-Puppen
reden, statt sich vorlesen zu lassen.
Sherry Turkle, Professorin am Massachusetts
Institute of Technology (MIT), warnt seit Jahren
vor den Folgen: „Empathie wird durch Gespräche
entwickelt.“ Gebe man Kindern zudem ständig et-
was, das sie ablenke, lernten sie nie, Langeweile
und Alleinsein auszuhalten – aber genau daraus
entwickelten sich Kreativität, Identität und Bezie-
hungsfähigkeit: „Wenn wir es den Kindern nicht
beibringen“, sagt Turkle, „werden sie Alleinsein im-
mer mit Einsamkeit gleichsetzen.“
»Nicht die Kinder
nutzen das Internet.
Das Internet
nutzt die Kinder«
Victoria Nash, Professorin am Oxford Internet Institute
ADA & DAS BALD
6
Alexandra
Borchardt
erhielt von
Sherry Turkle
einst den Rat:
Verbieten Sie das
Smartphone an
bestimmten
Orten, etwa am
Esstisch.
Borchardts
Kinder, 15 und 17,
achten seit
Jahren streng
darauf, dass sich
Alexandra und
ihr Mann daran
halten.
Foto Privat
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