Handelsblatt - 30.08.2019 - 01.09.2019

(Jeff_L) #1



sitzer*innen der lokalen Bibliothek seien gut ver-
netzt, vielleicht wüssten sie mehr. Nein, heißt es
auch dort, eine Familie Pellow kennen sie leider
nicht. Und eine, die am World Wide Web mitgear-
beitet habe, aus Okehampton? Davon haben sie
noch nie gehört. In der Apotheke und im Pub die-
selbe Reaktion. Letzter Versuch – Pellows zuletzt
bekannte Adresse. Ein typisch britisches Reihen-
haus mit einem kleinen Erker neben der Eingangs-
tür. Vielleicht haben die Nachmieter*innen Kon-
takt zu ihr?
Eine ältere Dame mit Kurzhaarschnitt und
freundlichem Lächeln öffnet die Tür. Nicola Pel-
lows Mutter Carol ist nicht überrascht. Sie hat be-
reits gehört, dass eine Reporterin auf der Suche
nach ihrer Tochter ist und bittet einzutreten. Über
einen schmalen Flur geht es ins Wohnzimmer. Pel-
lows Vater John kommt hinzu, ein ergrauter Mann
mit türkisfarbenem Poloshirt. Carol bietet Tee an,
John wirkt skeptisch. So ein weiter Weg, nur um
Nicola zu finden?
Carol Pellow nickt, als sie den Hintergrund er-
fährt. Ja, Nicola habe ein Jahr am CERN ver-
bracht, sie habe mit Tim Berners-Lee gemeinsam
am World Wide Web gearbeitet. Das sei eine gro-
ße Sache gewesen damals, viele hätten sich auf
den Platz für ein Praxisjahr beworben, aber Nicola
habe ihn bekommen. „Das World Wide Web ist
wirklich groß geworden“, wirft John ein. Und Ber-
ners-Lee berühmt.
„Sie hat Zahlen schon immer gemocht“, sagt sie,
„deshalb das Mathematikstudium.“ Aber sie streb-

te keine Karriere in der Techbranche an, sondern
wollte Lehrerin werden. Nach dem Studium und
ihrer Zeit am CERN habe sie auch einige Jahre als
Mathelehrerin gearbeitet, dann sei sie zu einem
Unternehmen gewechselt. Nun arbeite sie für
einen Sozialdienst in Surrey, sei verheiratet und
habe zwei Söhne im Teenageralter.
Ja, sie habe eine wichtige Rolle gehabt damals.
Aber heute habe sie mit dem Web nichts mehr zu
tun. „Sie ist nicht bei Facebook, so was macht sie
nicht“, sagt John. Nur E-Mail. Aber die E-Mail-
Adresse wollen die beiden nicht einfach ohne ihr
Einverständnis herausgeben. Sie versprechen,
ihre Tochter zu fragen, ob sie zu einem Gespräch
bereit wäre.
Zwei Tage später, ein Anruf bei Carol Pellow. Es
tue ihr furchtbar leid. Sie habe mit Nicola gespro-
chen. Für sie sei es im Wesentlichen nur ein Jahr
in ihrem Studium gewesen, nicht mehr. Sie habe
darüber nachgedacht und die Sache mit ihrem
Mann besprochen. Man wisse ja nie, worauf man
sich einlasse. Schließlich habe sie sich entschie-
den, lieber nicht mit der Presse zu reden.
Eine Entscheidung, die man respektieren muss.
Wie viele Techpionier*innen will Nicola Pellow ih-
re Privatsphäre schützen. Vielleicht will sie
unerkannt bleiben, vielleicht fürchtet sie die Reak-
tionen, die offenbar automatisch kommen, wenn
vergessene Frauen nachträglich gewürdigt wer-
den. Vielleicht will sie ihre eigene Rolle nicht
größer machen, als sie war.
Müsste ein Mann ähnliche Bedenken haben? n

◀ An der letzten
bekannten
Adresse von
Nicola Pellow
treffen wir ihre
Eltern und
Terrier Jasper an

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