Handelsblatt - 30.08.2019 - 01.09.2019

(Jeff_L) #1
#kreativität

ADA & DU

Endlich wieder


was Neues!


Tex t
Frederik Pferdt

Angeblich hat man ohne Risiko keinen Spaß. Doch
ein Wagnis kann nicht nur der Unterhaltung eines
Menschen dienen, sondern auch der Erhaltung ei-
ner Gesellschaft. Zum Beispiel bei Pinguinen.
Wenn eine Kolonie Nahrung sucht, springt zu-
erst ein Tier ins Wasser. Nun gibt es eine jeweils
50-prozentige Chance, dass es Fressen findet oder
zum Fressen wird. Doch eine Kolonie braucht die-
ses Ritual, um das Überleben aller zu gewährleis-
ten. Und was für Vögel gut ist, kann für Menschen
nicht schlecht sein.
Jedes Lebewesen kennt Rituale. Der Duden ver-
steht darunter ein „wiederholtes, immer gleich-
bleibendes, regelmäßiges Vorgehen nach einer
festgelegten Ordnung“. Kein Wunder, dass sie der-
zeit einen schlechten Ruf haben: Rituale stehen
für Tradition statt Innovation, für Bewahren statt
Umkrempeln, für Festhalten statt Loslassen. Da-
bei können auch Unternehmen Rituale nutzen, um
ein Gefühl von Gemeinschaft zu schaffen – und ei-
ne Unternehmenskultur, in dem Neues gewisser-
maßen zur Gewohnheit wird.
Das weiß man auch bei Faber-Castell. Bei dem
Hersteller von Bleistiften, Kugelschreibern und
Füllern, gegründet im Jahr 1761, gibt es seit dem
vergangenen Herbst knapp 20 Innovation-

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Rituale bewahren
scheinbar nur
Traditionen, dabei
fördern sie
auch Innovationen –
solange sie zum
Unternehmensziel
passen.

Coaches: ein von mir ausgebildetes, abteilungs-
übergreifendes Projektteam, das Kreativität und
Innovationen durch gezielte Experimente auf al-
len Ebenen fördern soll.
Und wenn jemand besondere Risikobereitschaft
zeigt, gibt es keinen Ärger, sondern die Chance auf
eine Trophäe in Pinguin-Form. Als Ermunterung,
dass kleine Revolutionen oder der Mut zu Neuem
durchaus honoriert werden.
Bevor Führungskräfte ein Ritual etablieren,
müssen sie erst mal definieren, was es bringen soll.
Wollen sie ein Willkommensritual für neue Mit -
arbeiter*innen etablieren? Ein Ritual für Erfolge
oder Misserfolge initiieren? Oder die Kooperation
und das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken?
Bei meinem Arbeitgeber gibt es ein wöchentli-
ches Treffen mit dem Kürzel TGIF, was für „Thank
Google it’s Friday“ steht. Dort dürfen alle Mitarbei-
ter*innen, ganz gleich, welcher Hierarchiestufe,
den Gründern und dem CEO Fragen stellen – so
lebt das Unternehmen seine Werte Transparenz,
Offenheit und Vertrauen. Die Google-Mutter
Alphabet wiederum hat seit einigen Jahren alle
besonders visionären Projekte in ihrer Tochter X
ausgelagert. Dort werden regelmäßig zum „Dia de
los Muertos“ („Tag der Toten“) gescheiterte Ideen
in einem Sarg verbrannt. Ein Ritual, das dabei hilft,
sich von gescheiterten Ideen zu verabschieden.
Und Oxo, ein amerikanischer Hersteller von
Haushaltswaren, möchte Produkte herstellen, die
besonders gut in der Hand liegen. Deshalb hat das
Unternehmen ein Ritual eingeführt, das dieses
Ziel physisch greifbar machen soll: Immer wenn
jemand irgendwo einen verlorenen Handschuh
findet, bringt er (oder sie) ihn mit ins Büro und
hängt ihn an die Wand. So sehen die Angestellten
immer die verschiedenen Hände, für die sie die
Produkte herstellen.
Genau das ist entscheidend: Das jeweilige Ritual
muss zum Unternehmensziel passen – dann kann
die Lust auf Neues zur Gewohnheit werden. n

Frederik Pferdt
ist Chief Inno -
vation Evangelist
von Google im
Silicon Valley
und lehrt
an der Stanford-
Universität.

Fotos National Geographic Stock/Minden Pictures/Suzi Eszterhas

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