#thinktank
Unternehmen können heute eine Vielzahl von
Tätigkeiten in die virtuelle Welt auslagern –
und weil das Geld und Zeit spart, machen sie
davon kräftig Gebrauch. Mal sollen Lebensmittel
geliefert und Onlineinhalte überprüft, mal Videos
untertitelt oder Computercodes auf Fehler durchsucht werden. Im-
mer wird die Arbeit auf Abruf erledigt, manchmal innerhalb von
Sekunden, und vermittelt wird sie über entsprechende Plattfor-
men. Die Ironie der Geschichte: Gelegentlich tüfteln die digitalen
Tagelöhner*innen dabei an künstlicher Intelligenz, die eines Tages
genau diese Aufgabe übernehmen wird und sie damit überflüssig
macht. Wie gut, dass Informatiker*innen bislang noch keinen Weg
gefunden haben, die menschliche Kreativität und Spontanität zu
ersetzen.
Aber damit da keine Missverständnisse aufkommen: Diese neue
Form des projektbasierten Arbeitens ist längst keine Nische mehr.
Es handelt sich vielmehr um eine radikale Reorganisation, viel-
leicht sogar die Auflösung der Vollzeitbeschäftigung selbst. Wenn
Arbeitnehmervertreter*innen, Gewerkschaften oder Verbraucher-
schützer*innen diese plattformgetriebene Auftragsarbeit nicht
genau im Blick haben, dann resultieren diese Jobs auf Abruf in
Geisterarbeit („Ghost work“), deren genaue Umstände niemand
mehr hinterfragt; und in Arbeitsbedingungen, die den kollektiven
Beitrag dieser Menschen zu unserer Wirtschaft und unserer
Gesellschaft bestenfalls ignorieren und schlimmstenf alls abwerten.
Ich habe fünf Jahre lang Tausende solcher Arbeiter*innen beglei-
tet – und bemerkt: Obwohl sie Errungenschaften wie Arbeitsschutz
oder -recht nicht kennen (oder nicht wertschätzen), obwohl sie
kostenlose Überstunden machen und völlig unterbezahlt sind,
ziehen die entsprechenden Jobs sehr viele Menschen an.
Was sie gemeinsam haben? Sie wollen selber entscheiden, wann
sie arbeiten, welches Projekt sie annehmen und zu welchen Bedin-
gungen. Wir brauchen daher eine Art neuen
Sozialvertrag zwischen den Betroffenen, ih-
ren Auftraggeber*innen und der Gesell-
schaft. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass
der Markt eben nicht alles allein regeln
kann. Nur dann können wir sicherstellen,
dass diese neue Form eines modernen Preka-
riats nicht nur Elend bringt, sondern auch
Chancen bietet. n
Das
moderne
Prekariat
Mary Gray
ist Fellow am Berkman Klein Center for Internet & Society. In ihrem Buch
„Ghost Work“ (mit Siddharth Suri) widmet sie sich der neuen Unterschicht.
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Illustration Dorothea Pluta Foto Privat
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