Ich bin den ganzen Weg hierher gerannt, und ich
war überall. Ich war bei den Telefonen und den Kü-
chenklein- und -großgeräten. Ich war bei den Com-
putern, bei den Druckern, den Föhnen und Rasie-
rern und Fernsehern, bei den elektrischen Zahn-
bürsten und Mundduschen, den Elektrogrills, den
Staubsaugern, den Laubbläsern.
Wilbert habe ich nirgendwo gefunden.
Jetzt bin ich wieder bei den Telefonen. Ein
Mitarbeiter unterbricht sein Kundengespräch,
als er mich sieht, denn er sieht eine sehr bebende,
sehr große und sehr breite Frau Mitte 20, mit
verschwitzten Haaren, zerlaufener Wimpern -
tusche und zerlaufendem Mut. Der Mitarbeiter
kommt auf mich zu und sieht aus, als sei er nicht
sicher, ob er einen Arzt oder den Sicherheits-
dienst rufen soll.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragt er. „Ja“, sage ich,
„ich suche Wilbert.“
„Ich weiß leider auch nicht, wo der ist“, sagt der
Mitarbeiter.
„Ich war überall“, sage ich, „ich finde ihn nicht.“
„Dann ist er vielleicht in der Pause“, sagt der Mit-
arbeiter, und ich werde sehr müde und halte mich
an einem Telefonpräsentationsregalbrett fest. Ich
bin nicht sicher, ob ich überhaupt befugt bin, Wil-
bert zu finden, denn ich habe ja außer mir nichts
Schadhaftes dabei, und der Gedanke macht mich
noch müder. Ich setze mich auf den Boden und
lehne mich an das Regal, zwei ausgestellte Telefo-
ne fallen herunter und baumeln an ihren Schnü-
ren wie Kletterer im Seil.
„Ich bleibe hier sitzen, bis Wilbert kommt“, sage
ich, und eine junge Familie steigt über meine aus-
gestreckten Beine.
„Das geht nicht“, sagt der Mitarbeiter.
„Es ist mein Ernst“, sage ich, und weil ich das
noch nie gesagt habe, sage ich es gleich noch mal,
„mein voller Ernst ist das“, sage ich, „mein absolu-
ter, knallvoller blutiger Ernst.“
„Dann muss ich den Sicherheitsdienst rufen“,
sagt der Mitarbeiter, und ich sage: „In Ordnung“,
weil ich es plötzlich für möglich halte, dass Wil-
bert hier auch der Sicherheitsdienst ist.
Mein Vater, er heißt Manfred Golling, ist bis vor
Kurzem Hautarzt gewesen. Er findet Menschen
pauschal anstrengend, und das ist insbesondere
als Hautarzt ein Problem. Meine Mutter war
meinem Vater früh davongelaufen, weil sie es
anstrengend fand, mit einem Mann verheiratet
zu sein, der Menschen pauschal anstrengend fin-
det. Ich sah meine Mutter nur an Wochenenden,
Tex t
Mariana Leky
Illustrationen
Jennifer Daniel
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unter der Woche wuchs ich bei meinem Vater auf,
an den Nachmittagen vor allem in seinem Warte-
zimmer. Ich spielte mit den Sachen, die da für die
Kinder der Patienten lagen, häufig mit einem ro-
ten Wählscheibentelefon, und erinnere mich
noch genau an den Moment, als mir klar wurde,
dass sich damit nicht wirklich eine Verbindung
herstellen lässt.
„Immer diese Häute“, sagte mein Vater, wenn er
nach Ende der Sprechstunde zu mir ins Warte-
zimmer kam, „ich ertrage es nicht“, und dann ließ
er sich auf einen Wartezimmerstuhl fallen und
schilderte mir detailreich und angewidert schup-
pende und suppende Häute, Häute mit Flecken
oder Warzen oder Borsten. Ich hatte an den Pa-
tienten und ihren Häuten im Wartezimmer nie et-
was Schuppiges oder Borstiges feststellen kön-
nen. „Sie tragen es unter der Kleidung“, sagte
mein Vater.
Wenn mein Vater vorläufig zu Ende geschildert
hatte und vorläufig zu Ende angewidert war,
schauten wir schweigend auf die gerahmten Foto-
grafien, die an den Wartezimmerwänden hingen.
Es waren Wüstenbilder, man sah darauf nichts als
Sandberge und Himmel. Wir schauten so lang, bis
die Sandberge langsame Wellen schlugen, bis alles
verschwamm.
Und nur deshalb, weil er Menschen anstrengend
findet, kaufte mein Vater sich nach seiner Pensio-
nierung ein Smartphone: weil man, fand er, nicht
mehr telefonieren muss, wenn man so etwas hat.
„Hätte ich das früher gewusst“, sagte er, „ich hätte
mir schon vor Jahren so ein Ding besorgt.“ Mein
Vater hatte sein Berufsleben lang eine Abneigung
gegen Geräte gehabt, seine Sprechstundenhilfen
hatten weisungsgemäß alle Computer von ihm
ferngehalten.
Seit mein Vater das Smartphone hatte, um nicht
mehr telefonieren zu müssen, rief er ständig bei
mir an und stellte ansatzlos Fragen zum Betrieb
des brandneuen Smartphones und des brandneu-
en Laptops. „Welche ist die Wahltaste?“, fragte er,
und ich sagte, „unten links. Es ist die Taste, die
aussieht wie eine halbe Badewanne.“
„Ich weiß ja nicht, wie bei dir halbe Badewannen
aussehen“, sagte mein Vater, als er die Wahltaste
gefunden hatte, „in meinen Augen ist das eindeu-
tig ein halber Container“, und dann legte er auf,
nur um ein paar Minuten später wieder anzurufen.
„Golling“, sagte er, er nannte mich Golling, als sei
ich eine Verlängerung von ihm, „wie öffne ich ei-
nen Anhang?“
„Das ist gar nicht so schwer“, sagte ich, „frag
mich doch einfach mal, wie es mir geht.“
Mein Vater lachte nicht, und ich sagte: „Doppel-
klick.“
„Am schlimmsten“, sagte mein Vater beim
nächsten Anruf ansatzlos, „am schlimmsten ist ja
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