Wir fuhren ins Einkaufszentrum. „Du“, sagte ich,
„was ist eigentlich, wenn du auf deiner Reise
stirbst?“, denn das hatte ich mich letzte Nacht lan-
ge gefragt.
Mein Vater sah mich entrüstet an. „Ich bitte
dich“, sagte er, „so was kann man doch nicht ein-
fach so fragen. Du hast, also, Golling, du hast wirk-
lich überhaupt keine soziale Kompetenz.“
„Danke gleichfalls“, sagte ich.
„Was passiert denn, wenn du während meiner
Reise stirbst? Hm?“
„Papa, du bist fast 80.“
„Und du bist fast 30“, sagte mein Vater, „und ich
muss dich darauf hinweisen, dass der Fleck da auf
deinem Handrücken ein Altersfleck ist. Ich sag’s
nur ungern“, sagte er, augenscheinlich gern.
„Aber du musst dir doch mal Gedanken machen
um das, was kommt“, sagte ich.
„Das müssen nur Leute, die kleinlicherweise
nicht im Hier und Jetzt leben“, sagte mein Vater,
„ich aber lebe ausschließlich im Hier und Jetzt“,
und ich wusste, dass er sich hinter diesem Hier
und Jetzt zu verbergen versuchte. Er sagte das
nicht, weil er das Hier und Jetzt so genoss, son-
dern weil sich um sein Hier und Jetzt herum ein
Abgrund auftat, sobald er seine Jahre zählte. Er
hielt sich das Hier und Jetzt vor sein Gesicht wie
ein Kind seine Hände, weil es glaubt, dass es dann
keiner sehen kann, aber das Altern sah meinen
Vater trotzdem.
Direkt am Eingang griff mein Vater nach einem
Mitarbeiter. „Wir brauchen Wilbert“, sagte er. „Wo
ist er?“
„Das weiß ich nicht“, sagte der Mitarbeiter, „wo-
mit kann ich Ihnen helfen?“
„Gar nicht“, sagte mein Vater, „bringen Sie uns
Wilbert.“
„Ich weiß aber nicht, wo er ist“, sagte der Mitar-
beiter, und mein Vater fasste nach seiner Hand.
„Ich bin Hautarzt“, sagte er, „ich sag’s nur ungern,
aber Sie haben hier einen verdächtigen Leberfleck
auf dem Handgelenk. Den würde ich mal ansehen
lassen. Das kann verheerend sein“, und der erschro-
ckene Mitarbeiter sagte: „Können Sie ihn sich viel-
leicht näher anschauen? Wo Sie gerade hier sind?“
„Wenn Sie mir Wilbert bringen“, sagte mein Va-
ter. „Und eine Lupe.“
Der verstörte Mitarbeiter lief los.
„Spinnst du?“, fragte ich.
„Das habe ich früher auch oft gemacht“, sagte
mein Vater, „mit meinen Patienten.“
„Ihnen eine falsche Verdachtsdiagnose ange-
dichtet?“
„Ja“, sagte mein Vater. „So ein kleiner Schock
bringt behäbige Patienten ins Hier und Jetzt. Das
schadet nie.“
„Ist das dein Ernst?“
„Selbstverständlich“, sagte mein Vater, „Und
sag mal: Was ist eigentlich dein Ernst?“ Er sah
ADA & FICTION
1
1
mich funkelnd an, und während ich noch darüber
nachdachte, was eigentlich mein Ernst war, er-
schien Wilbert.
Wilbert wischte zunächst ausgiebig mit einem
Feuchttuch über das Display des Smartphones. Im
kompromisslosen Licht des Marktes sah man erst,
dass es vermutlich das dreckigste Display war, das
die Welt je gesehen hatte. Mein Vater wischte mit
dem Zeigefinger darauf herum, mit dem er sich ge-
rade im Ohr gekratzt oder in der Nase gepopelt hat-
te, er nieste darauf, er hielt es sich ans Ohr, wenn er
sich gerade das Gesicht eingecremt hatte, und er
säuberte es nie. Mein Vater sah immer sehr ge-
pflegt aus, er trug edle Stoffe und roch nach teuren
Wassern, aber seine Geräte ließ er verwahrlosen.
Wilbert öffnete das Gehäuse des Smartphones
und blies hinein. Auch das Innenleben des Tele-
+DQGHOVEODWW0HGLDURXSPE+ &R.*$OOH5HFKWHYRUEHKDOWHQ=XP(UZHUEZHLWHUJHKHQGHU5HFKWHZHQGHQ6LHVLFKELWWHQXW]XQJVUHFKWH#KDQGHOVEODWWJURXSFRP