Salzgitter
Grünes
Licht
D
er Geist ist willig, doch das
Kapital ist schwach – mit
diesem leicht abgewandel-
ten Bonmot lässt sich das Klima-Di-
lemma der deutschen Stahlindus-
trie zusammenfassen. Auf mehrere
Milliarden Euro schätzen die Unter-
nehmen die nötigen Investitionen,
um mithilfe von Wasserstoff künftig
emissionsfrei Stahl produzieren zu
können. Der ist zwar nicht besser,
aber dafür teurer als der bisherige
Stahl aus dem Hochofen. Unter die-
sen Bedingungen traut sich bisher
kein Hersteller so richtig an die
Transformation heran.
Schon seit einiger Zeit lobbyieren
die Unternehmen deshalb in Berlin
und Brüssel, um an den nach ihrer
Ansicht wichtigsten Stellschrauben
zu drehen. Dazu gehört einerseits
die sichere Versorgung mit erneuer-
barer Energie, deren Bedarf in den
nächsten Jahrzehnten entgegen vie-
len Prognosen aus der Politik noch
einmal spürbar anziehen dürfte.
Dazu gehören aber andererseits
auch Handelshemmnisse für aus-
ländische Hersteller, die mit ihrem
womöglich klimaschädlichen, aber
günstiger produzierten Stahl den
heimischen Anbietern ihren Platz
leicht streitig machen könnten.
Mit den Forderungen, die Salz -
gitter nun auch direkt an die Politik
richtet, sendet der Stahlkonzern
beim Klimaschutz gleichzeitig auch
ein Signal an die Gesellschaft: Der
Konzern will nicht Bremse, sondern
Bestandteil der grünen Transforma-
tion in der Wirtschaft sein. Man ste-
he bereit, man könne die techni-
schen Innovationen für mehr Kli-
maschutz entwickeln und
einsetzen, wenn die wirtschaftli-
chen und politischen Rahmenbe-
dingungen stimmen.
Diese Innovationen sind Kern für
das Gelingen der Klimawende. Salz-
gitter dreht den Spieß um und
nennt klare Bedingungen, unter de-
nen der Konzern diesen Transfor-
mationsprozess zügig einleiten
könnte. Das hilft am Ende nicht nur
anderen Unternehmen aus der
Branche, sondern auch Politik und
Gesellschaft. Denn Klimaschutz ist
ein gemeinschaftliches Ziel – und
funktioniert nur mit gemeinschaftli-
chen Anstrengungen.
Der Stahlkonzern zeigt: Für mehr
Klimaschutz sind Innovationen und
politische Unterstützung nötig,
meint Kevin Knitterscheidt.
Der Autor ist Redakteur im
Ressort Unternehmen & Märkte.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]
W
enn Kreditnehmer Geld dafür be-
kommen, dass sie Schulden ma-
chen, und Anleger dafür bezah-
len, dass sie anlegen dürfen, ist
die Welt aus den Fugen geraten.
In dieser Welt leben wir. Staaten können jetzt selbst
Anleihen mit jahrzehntelanger Laufzeit mit rekord-
niedrigen Renditen ausgeben. Kein Wunder, dass in-
zwischen auch die US-Regierung überlegt, sich mit
sehr lang laufenden Papieren zu refinanzieren, um
von den günstigen Konditionen zu profitieren.
Es gibt viele Deutungen dafür, wie es so weit kom-
men konnte. Die einfachste ist, den Zentralbanken
Aktivismus oder gar eine Verschwörung mit über-
schuldeten Regierungen zuzuschreiben. Danach wä-
ren die Märkte massiv verzerrt und gäben deswegen
ein verrücktes Bild ab. Kurzfristig spielt sicher auch
die Verunsicherung der Anleger eine Rolle, die zu-
schauen müssen, wie sich die internationale Welt-
ordnung in ihre Bestandteile aufzulösen droht. Au-
ßerdem werden langfristige Trends als Ursache an-
geführt: Eine alternde Bevölkerung und mehr und
mehr virtuelle Unternehmen führen dazu, dass es
viel Spargeld und wenig Investitionsbedarf gibt.
Alle diese Deutungen sind bis zu einem gewissen
Grad plausibel. Das gilt vor allem für die langfristi-
gen Trends. Denn Minizinsen sind zuerst in Japan
aufgetreten, wo die Überalterung schon früh einsetz-
te. Verzerrung spielt sicher auch eine gewisse Rolle –
noch massiver als beim Euro in Märkten mit kleinen
Währungen wie Dänemark und der Schweiz, die von
Euro-Flüchtlingen überrannt werden.
Aber möglicherweise sind die Märkte weniger ver-
rückt, als es den Anschein hat. Vielleicht geben sie
ein Signal, dass wir künftig mit Deflation zu rechnen
haben, also mit fallenden Preisen. Wenn das pas-
siert, sind die heutigen langfristigen Anleihen attrak-
tiver, als sie aussehen – und die heutigen Schulden
gefährlicher, als sie scheinen.
Die Überlegung ist einfach: Wenn die nominalen
Zinsen negativ sind, können sie real nur dadurch ins
Positive drehen, dass es zu fallenden Preisen, also zu
Deflation, kommt. Denn reale Renditen sind ja als
ausgewiesene Zinsen minus Inflation – oder plus De-
flation – definiert. Ein solches Szenario wäre weit
weniger verrückt als die Welt, wie sie heute aussieht.
Denn langfristig würden sinkende Preise dafür sor-
gen, dass heute zu nominal null Prozent Rendite aus-
gegebene Anleihen eben doch eine reale Rendite ab-
werfen – in Höhe der aufgelaufenen Deflation.
Wie wahrscheinlich ist so eine Entwicklung? Die
Notenbanken wollen sie unbedingt verhindern. Aber
überraschend ist schon, dass über dieses Szenario so
wenig geredet wird. Relativ zu den anderen Deu-
tungsmustern findet es zu wenig Beachtung.
Die Notenbanken werden zwar schon seit der Fi-
nanzkrise vor gut zehn Jahren von dem Schreck -
gespenst einer Deflation getrieben. Der Blick nach
Japan, wo es viele Jahre sinkende Preise gab,
schreckt ab. Aber immer mehr zeigt sich, dass es ih-
nen schwerfällt, genug Inflation zu erzeugen, um ih-
re Zielgröße von rund zwei Prozent zu erreichen.
Die Europäische Zentralbank (EZB) wird im Sep-
tember voraussichtlich noch ein Paket auflegen, um
abrutschende Inflationserwartungen aufzufangen.
Aber mehr und mehr setzt sich die Ansicht durch,
dass den Notenbanken die Mittel ausgehen. Der be-
kannte Ökonom Larry Summers, der früher einmal
als Kandidat für die Leitung der US-Notenbank (Fed)
galt, hat kürzlich de facto die Kapitulation gefordert:
Die Geldpolitiker sollten ihre Machtlosigkeit einräu-
men und den Kampf gegen zu niedrige Inflation auf-
geben. Seine Hoffnung ist, dass dann die Regierun-
gen die niedrigen Zinsen nutzen, mehr Schulden ma-
chen und so die Wirtschaft in Gang halten, die
Inflation indirekt zumindest stabil halten und für hö-
here Zinsen sorgen. Zumindest für die Euro-Zone ist
das eher ein frommer Wunsch. In Deutschland, dem
Schwergewicht der Währungsunion, werden die Zu-
sammenhänge zwischen Geld- und Finanzpolitik
weitgehend ignoriert oder als zweitrangig eingestuft.
Eine koordinierte Finanzpolitik in der Euro-Zone
existiert nicht und ist auch nicht in Sicht.
Fazit daher: Eine Deflation könnte auf längere
Sicht wahrscheinlicher sein, als es heute bedacht
wird. Dabei gilt: Je entschiedener die EZB sie verhin-
dern will, desto mehr drückt sie die Rendite und
lässt die Welt noch verrückter aussehen. Ein ent-
spannterer geldpolitischer Kurs, der nicht absehbar
ist, würde dagegen wohl noch mehr Deflation zulas-
sen. Bleibt die Frage, wie groß der Schaden ist, den
eine Deflation anrichtet. Sie gilt als dämpfend für
den Konsum und damit die Wirtschaft. Zudem bläht
sie tendenziell Schuldenberge auf und kann damit
die Bilanzen der Firmen aus der Balance bringen.
Tarifverhandlungen werden zudem erschwert, weil
Lohnsenkungen kaum durchzusetzen sind.
Auf der anderen Seite: Wenn die Preise nur lang-
sam fallen, bleibt der Schaden vielleicht überschau-
bar. Zumindest dann, wenn alle Beteiligten wenigs-
tens mit einem Auge dieses Szenario als Möglichkeit
im Blick behalten.
Leitartikel
Unterschätztes
Risiko Deflation
Die Kapitalmärkte
scheinen verrückt
zu spielen mit
negativen
Renditen. Oder
geben sie ein
Signal, das wir
überhören?, fragt
sich Frank Wiebe.
Immer mehr
zeigt sich, dass
es den
Notenbanken
schwerfällt,
genug
Inflation zu
erzeugen.
Der Autor ist Leiter Geldpolitik.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]
„Ich habe den Eindruck, dass Springer im
Jahr 2019 das macht, was wir 2006
gemacht haben.“
Thomas Rabe, Vorstandschef Bertelsmann, zum Einstieg des
Finanzinvestors KKR bei Axel Springer
Worte des Tages
Meinung
& Analyse
(^22) WOCHENENDE 30./31. AUGUST / 1. SEPTEMBER 2019, NR. 167
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