WOCHENENDE 30./31. AUGUST / 1. SEPTEMBER 2019, NR. 167 Ostdeutschlands unsichere Zukunft^49
Sonderwirtschaftszone
Vorwärts ohne
Paragrafen
Als Annegret Kramp-Karrenbauer in dieser
Woche in der Oberlausitz einen Wahlkampfauf-
tritt absolvierte, kam sie mit einer Idee in die
Kohleregion. Zur Bewältigung des Strukturwan-
dels könne in der Lausitz doch eine Sonderwirt-
schaftszone eingerichtet werden, sagte die CDU-
Chefin: „Man braucht eine solche Zone – auch
wenn man sie am Ende vielleicht so nicht nennt
- für die Zukunft.“ Auch Bayerns Ministerpräsi-
dent Markus Söder (CSU) unterstützt den Plan.
Die Idee einer Sonderwirtschaftszone ist der
Dauerbrenner unter den Konzepten, wie der
Wirtschaft in Ostdeutschland geholfen werden
kann. In den Landtagswahlkämpfen ist die For-
derung überall zu hören. „Die ewige Hoffnung,
irgendein Dax-Konzern wird im Osten eine Per-
spektive bringen, hat sich erledigt. Ich bin diese
Diskussion leid“, sagt der thüringische CDU-Spit-
zenkandidat Mike Mohring. Deshalb müsse man
„Freiräume für Innovationskraft und Gründer-
geist schaffen“. Und sein Kontrahent Thomas
Kemmerich von der FDP sagt: „Länder wie Po-
len, China oder der Iran haben sehr gute Erfah-
rungen mit Sonderwirtschaftszonen gemacht.
Warum nicht auch für den Osten ausprobieren?“
Zumindest in Teilen gab es das Experiment nach
der Wende. Es gab ein Planungsbeschleuni-
gungsgesetz, um Genehmigungsverfahren abzu-
kürzen. Es gab Investitionszulagen, die wie Steu-
ersenkungen wirkten, dazu Sonderabschrei-
bungsregeln.
„Nach der Wiedervereinigung haben wir mit
Sonderregeln sehr gute Erfahrungen gemacht“,
sagt Sachsens Ministerpräsiden Michael Kretsch-
mer (CDU). Der Flughafen Leipzig wäre ohne die
Ausnahmen nie zu einem internationalen Logis-
tikdrehkreuz aufgestiegen, die Region Dresden
nie zu einem führenden Mikroelektronik-Stand-
ort. „Es ist falsch gewesen, die Übergangsregeln
nach der Wende zu befristen“, so Kretschmer.
Regionen, die unterhalb von 80 Prozent der
durchschnittlichen Wirtschaftskraft liegen, soll-
ten deshalb einen Sonderstatus bekommen.
Doch die Erfahrungen sind gemischt. Die Son-
derregeln hätten „lediglich zu Überkapazitäten
bei Büro- und Einzelhandelsflächen geführt“,
schrieb der frühere brandenburgische Minister-
präsident Matthias Platzeck (SPD) einmal.
Zugleich würde durch Steuervorteile ein altes
Problem fortbestehen: Unproduktive Unterneh-
men, die eigentlich vom Markt verschwinden
müssten, würden künstlich am Leben gehalten.
Wenn man Firmen fördern wolle, dann nicht al-
le pauschal, sondern eher jene, die sich neu im
Osten ansiedeln wollen, so Ifo-Ökonom Joachim
Ragnitz. Großzügigere Hilfen seien rechtlich so-
wieso nicht machbar: „Sonderwirtschaftszonen
sind mit EU-Beihilferecht kaum vereinbar.“
Gegen schnellere Genehmigungsverfahren habe
sicher niemand was, dazu brauche es allerdings
keine Sonderwirtschaftszone, so der Ökonom.
Und wer zu den Ausnahmeregeln der Neunziger-
jahre zurückwolle, müsse bedenken, dass etwa
Umweltverbände dann kein Mitspracherecht
mehr bei Bauvorhaben mehr hätten.
Und auch die Gewerkschaften würden kaum mit-
spielen. „Sonderwirtschaftszonen entfachen ei-
nen Wettbewerb nach unten bei Entgelten, Ar-
beitsstandards und Steuern“, sagt IG-Metall-Vor-
standsmitglied Wolfgang Lemb. Bei den früheren
DDR-Bürgern würde allein schon der Begriff
Sonderwirtschaftszone das Gefühl der Ausgren-
zung noch verstärken, ergänzt die Betriebsrats-
vorsitzende von ZF Getriebe Brandenburg, Car-
men Bahlo.
Auch der Ökonom Karl-Heinz Paqué glaubt, Son-
derwirtschaftszonen seien politisch undenkbar.
„Der Widerstand der westlichen Bundesländer,
die keine erhalten, wäre vorprogrammiert.“ Pa-
qué hält einen kleineren Schritt für sinnvoller:
„Es würde schon viel helfen, Gemeinden mehr
Befugnisse einzuräumen.“
Handelsblatt-Bewertung: Weniger Bürokratie
könnte dem Osten Deutschlands helfen – wie
auch dem Rest der Republik. Pauschale
Steuervorteile für Ost-Unternehmen hingegen
zementieren eher Produktivitätsunterschiede.
Bildungsoffensive
Mit Wissen die
Innovationslücke schließen
Hans Müller-Steinhagen riss vor Freude die
Hände nach oben. Der Rektor konnte sein Glück
kaum fassen. „Es ist unglaublich. Nie war die
Konkurrenz härter.“ Doch die TU Dresden hatte
es geschafft: Erneut wurde sie am 19. Juli in den
erlauchten Kreis der elf „Exzellenzuniversitä-
ten“ in Deutschland aufgenommen. Die Party
mit einem eigens an der Universität gebrauten
Bier konnte starten.
Auch wenn die TU Dresden die einzige ostdeut-
sche Universität war, die als „Exzellenz-Uni“
auserkoren wurde, steht sie für die insgesamt
hohe Qualität der ostdeutschen Universitäts-
landschaft. Neben der TU Dresden genießen et-
wa auch die Technischen Universitäten in
Chemnitz, Cottbus oder Ilmenau einen guten
Ruf.
Dieses Potenzial auszubauen sei die größte
Chance, die der Osten habe, sagt der Ökonom
und frühere Finanzminister Sachsen-Anhalts,
Karl-Heinz Paqué (FDP). „Der Osten kann nur
wachsen, wenn er eine eigene Innovationskraft
entwickelt. Die oberste Priorität für den weite-
ren Aufbau Ost muss daher der Ausbau des For-
schungsstandorts sein.“
Die Voraussetzungen dafür sind da. Im Bil-
dungsmonitor des Instituts der deutschen Wirt-
schaft Köln (IW) 2019 belegte mit Sachsen ein
ostdeutsches Bundesland Rang eins. Das sächsi-
sche Bildungssystem zeichnet sich demnach vor
allem durch seine hohe Forschungsorientie-
rung, durch gute Förderungen und eine hohe
Schulqualität aus. Thüringen rutschte gegen-
über dem Vorjahr um einen Platz hinter Bayern
ab, liegt aber immer noch auf Rang drei und be-
sticht vor allem durch eine gute Betreuung in
der Schule.
Mit seinen starken Schulen und der weit gefä-
cherten Universitätslandschaft habe der Osten
eine bessere Basis, zu einer wirtschaftlichen Er-
folgsstory zu werden, als das Bayern der 50er-
und 60er-Jahre, sagt Paqué. „Die Erfolgsge-
schichte Bayerns ist die Erfolgsgeschichte eines
dynamisch wachsenden Münchens. Der Osten
könnte mit dem Aufstieg Berlins zur Weltstadt
eine ähnliche Erfolgsgeschichte schreiben“, so
Paqué. Aber der Osten habe neben Berlin eben
noch weitere starke Regionen wie Teltow-Flä-
ming südlich von Berlin, Jena, den Großraum
Halle-Leipzig und natürlich Dresden.
Die Strategie geht so: Dem rasant wachsenden
Berlin gelingt der Aufstieg zur Weltstadt, einige
Start-ups steigen zu größeren Unternehmen auf.
Davon profitiert das Umland, der Speckgürtel
Berlins wird immer dicker. Von hier wiederum
springt der wirtschaftliche Funke auf die größe-
ren Städte in der Nähe über, auf Magdeburg
oder den Raum Halle-Leipzig, dazu kommen die
bereits starken Städte wie Dresden. Nach und
nach entstehen so immer mehr Cluster aus Uni-
versitäten, Forschungseinrichtungen und Unter-
nehmen.
Damit dieser Plan aufgeht, müsste die Politik die
ostdeutschen Bildungseinrichtungen stärker för-
dern als bisher, und sie müsste mehr For-
schungseinrichtungen im Osten ansiedeln. „Im
Gegensatz zur Ansiedlung von Bundesbehörden
würde das auch wirklich was bringen“, sagt Ifo-
Ökonom Joachim Ragnitz.
Zu einer Bildungsoffensive Ost rät auch Volks-
wirt Jens Südekum, der an der Heinrich-Heine-
Universität Düsseldorf zur Wettbewerbsfähigkeit
verschiedener Regionen forscht. Es sei richtig
gewesen, in den vergangenen zehn Jahren auf
den Ausbau der Infrastruktur zu setzen und Au-
tobahnen und Kitas auszubauen. Nun gehe es
aber darum, Innovationen und Forschung vo-
ranzutreiben. „Ganz oft verlassen gerade ambi-
tionierte, junge Leute ihre Städte, weil sie sa-
gen, für mich gibt es hier kein adäquates Bil-
dungsangebot, ich muss woanders hingehen“,
sagt Südekum. Der Ökonom plädiert für den
Aufbau einer echten „Wissensinfrastruktur“ im
Osten. Dazu gehörten nicht unbedingt „Welt-
klasse-Unis“, aber solide anwendungsbezogene
Forschung an Universitäten und FHs. Das allein
reiche aber nicht. Denn die beste Fachhoch-
schule nutze nichts, wenn sie keinen Internet-
empfang habe oder man außerhalb der Stadt im
Zug oder auf dem Weg zum Flughafen direkt im
Funkloch stecke. Deshalb sei auch der Ausbau
der digitalen Infrastruktur so wichtig.
Union und SPD haben beide Anfang des Jahres
Vorschläge verabschiedet, wie sie dem Osten
helfen wollen. Im CDU-Papier ist lediglich die
Rede davon, bestehende Programme wie die
Hightech-Strategie 2025, den „Pakt für For-
schung und Innovation“ oder das Förderpro-
gramm „Innovationskompetenz“ auszubauen.
Die SPD will den Osten zu einer „Innovations-
schmiede“ machen. Beim „Wie“ verweist die
Partei aber nur auf ein „gesamtdeutsches För-
dersystem“, das man entwickeln wolle.
Während die Ausführungen zur Forschungspoli-
tik vage bleiben, buchstabieren Union und SPD
soziale Themen wie die Grundrente und die An-
gleichung der Renten in Ost und West in ihren
Papieren deutlich konkreter aus.
Dabei müssten die Prioritäten genau andershe-
rum sein. Eine höhere Produktivität und eine
Stärkung des technologischen Fortschritts seien
möglich, „wenn die Investitionen in Forschung
und Entwicklung zulasten öffentlichen Konsums
ausgeweitet werden“, heißt es in einer Studie
des Ifo-Instituts und der Bertelsmann-Stiftung.
Doch das sei bisher nicht der Fall, weshalb die
Stärkung der Innovationskraft „eine deutlich
höhere politische Priorität erhalten muss als bis-
her“. Ohne ein Umsteuern würden etwa Meck-
lenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt wei-
ter abgehängt, ihr Wachstum würde sich bis
2035 spürbar abschwächen – oder sogar negativ
ausfallen.
Handelsblatt-Bewertung: Exzellente Schulen,
Hochschulen und Forschungseinrichtungen
sind der Königsweg, um die Innovations- und
Produktivitätslücke im Osten zu schließen.
Annegret Kramp-
Karrenbauer:
Die CDU-Vorsitzende
brachte eine
Sonderwirtschafts-
zone für den Osten
ins Spiel.
Photothek/Getty Images
Deutliche Unterschiede
Arbeitslosenquote
in Deutschland in Prozent
Arbeitsproduktivität im Inland
BIP2 in Euro je Erwerbstätigen3 Entgelt pro Jahr je Arbeitnehmer3
6,6 %
4,7 % 49 497 €
West
West mit Berlin62 102 €
Ost ohne Berlin
Ost
HANDELSBLATT • 1) Durchschnittswert der Monate Januar bis Juli; 2) Bruttoinlandsprodukt; 3) Real
1999 2010 2019
Quellen: BA, Statistische Ämter des Bundes u. der Länder
20
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2000 2010 2018
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28 484 €
West mit Berlin 35 274 €
Ost ohne Berlin
2000 2010 2018
40 000
5 000
0 000
25 000
20 000
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