Handelsblatt - 30.08.2019 - 01.09.2019

(Jeff_L) #1

50 Ostdeutschlands unsichere Zukunft WOCHENENDE 30./31. AUGUST / 1. SEPTEMBER 2019, NR. 167


Zuwanderung fördern


Arbeitskräfte


gesucht


Der Druck ist so groß, dass Mike Mohring
(CDU) zu ungewöhnlichen Mitteln greift. Eine
von ihm geführte Regierung würde versuchen,
abgewanderte Menschen wieder zurück in ihre
alte Heimat zu locken – und zwar mit einer spe-
ziellen „Rückkehrprämie“ in Höhe von 5 000
Euro pro Rückkehrer plus Familienaufschlägen,
sagte der CDU-Spitzenkandidat für die Landtags-
wahl in Thüringen vor einigen Tagen.
War nach der Wende die hohe Arbeitslosigkeit
in Ostdeutschland das bestimmende Thema,
droht in den nächsten Jahren das Gegenteil: ein
dramatischer Mangel an Arbeitskräften. „Da
kommt ein Riesenproblem auf uns zu“, schlug
der Chef der Regionaldirektion der Bundesagen-
tur für Arbeit, Kay Senius bereits 2018 Alarm.
Die Deutschen werden immer älter, durch die
Abwanderung vieler Ostdeutscher in den Wes-
ten ist das Problem in den neuen Ländern be-
sonders groß. Die Lage droht sich zudem weiter
zuzuspitzen. Denn wenn auch im Westen der Ar-
beitskräftemangel sich weiter verstärkt, werden
die Firmen dort versuchen, ostdeutsche Arbeit-
nehmer mit höheren Löhnen zu sich zu locken.
Die klassischen Optionen, dem entgegenzuwir-
ken, wie die Aktvierung von Arbeitslosen, sind
begrenzt.
Beispiel Sachsen-Anhalt: Derzeit sind dort gut
80 000 Menschen arbeitslos. Selbst wenn jeder
Arbeitslose wieder arbeiten würde, könnte das
die Arbeitskräftelücke nicht schließen. In den
Westen Abgewanderte zurückzuholen ist eben-
falls schwierig. Die Löhne im Westen sind höher,
viele Ostdeutsche leben dort schon viele Jahre.
Studien des IAB zeigen, dass nur wenige Ost-
deutsche etwa wegen Heimweh in ihre Heimat
zurückgekehrt sind. Zu versuchen, den Pend-
lern in die alten Bundesländer einen Job in Ost-
deutschland schmackhaft zu machen, bringt
laut Ifo-Ökonom Joachim Ragnitz ebenfalls nicht
viel. Oft pendelten Ostdeutsche nur noch kurze
Strecken in den Westen.
„Das Allerwichtigste für den weiteren Aufbau
Ost ist deshalb: Zuwanderung“, sagt Ragnitz.
Nur durch qualifizierte Migranten aus dem Aus-
land kann der Arbeitskräftemangel behoben
werden. Doch eine Zuwanderungsoffensive Ost
ist aufgrund der politischen Lage schwierig. Die
rechte AfD ist im Osten schon stark, ohne dass
der Ausländerteil überhaupt hoch wäre. „Ein-
wanderung wird nicht gelingen, solange sich die
Einstellung dazu im Osten nicht ändert“, sagt
der Ökonom Karl-Heinz Paqué. „Aber ich bin zu-
versichtlich. Auch der Westen war lang Zeit
nicht so kosmopolitisch, wie er heute ist.“ Und
irgendwann wird der Handwerksmeister im Os-
ten sich in einer ausweglosen Situation wieder-
finden: entweder einen Lehrling aus dem Aus-
land anheuern oder gar keinen einstellen.

Handelsblatt-Bewertung: An höherer
Zuwanderung führt in Ostdeutschland kein
Weg vorbei, sie erfordert dort jedoch eine
größere Offenheit gegenüber Migranten.

Auf Wachstumskerne setzen


Rückzug aus


der Fläche


Anfang des Jahres ist Reint Gropp, der Präsi-
dent des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle
(IWH), schlagartig zu einem der umstrittensten
Ökonomen Deutschlands aufgestiegen – und
auch in Brandenburg und Sachsen fehlt Gropps
Name in so gut wie keiner Wahlkampfrede. „Was
der Herr Professor aus Halle von sich gibt, ist
grober Unsinn, verunsichert die Menschen und
ist Verrat an unseren ländlichen Räumen“,
schimpft Brandenburgs Ministerpräsident Diet-
mar Woidke (SPD). Die anderen Ost-Ministerprä-
sidenten von Bodo Ramelow (Linkspartei) bis Mi-
chael Kretschmer (CDU) klingen ähnlich.
Gropp hat so großen Ärger auf sich gezogen, weil
er Anfang des Jahres eine Studie mit einer hoch-
brisanten These veröffentlichte: Ostdeutschlands
Zukunft liege demnach in Städten wie Halle oder
Leipzig – aber nicht auf dem Land. Die Politik
solle daher aufhören, Arbeitsplätze im ländli-
chen Raum zu subventionieren.
Die IWH-Forscher begründeten ihren brisanten
Vorschlag mit der mangelnden Produktivität ost-
deutscher Betriebe. Die Jobs der Zukunft ent-
stünden im Dienstleistungssektor, in Forschung
und Entwicklung, in der Digitalisierung. Und Un-
ternehmen aus diesen Sektoren siedelten sich
nun mal nicht auf dem Land, sondern in größe-
ren Städten an. „In der Wissensgesellschaft sind
Städte die zentralen Orte von Forschung, Innova-
tion und Wertschöpfung – und damit für Wohl-
stand“, heißt es in der IWH-Studie. Deshalb müs-
se man sich auf urbane Räume mit zukunfts-
trächtigen Jobs sowie Leuchtturmprojekte
konzentrieren, anstatt das Geld in Regionen zu
pumpen, in die man ohnehin keine Unterneh-
men locken kann. „Besser angelegt wäre das
Geld, wenn man es in die ostdeutschen Universi-
täten stecken würde“, so Gropp. Der IWH-Chef
geht sogar so weit zu sagen, dass auch ein flä-
chendeckender 5G-Ausbau im Osten zu teuer
und zu langwierig sei. Besser wäre es auch hier,
die Breitbandinfrastruktur auf die Zentren zu
konzentrieren, dann ginge der Ausbau schneller.
Gerade Ballungszentren wie Halle und Leipzig
wären prädestiniert für digitale Pilotprojekte. Da-
durch könnten dann auch die dringend benötig-
ten Fachkräfte angelockt werden.
Die ländlichen Regionen im Osten einfach aufge-
ben, eine Art Outback mitten in Deutschland ent-
stehen lassen? Ernsthaft?
Die Strategie ist provokant, ökonomisch gesehen
aber keineswegs absurd. Bislang war eine Theo-
rie, dass die schwache Produktivität ostdeut-
scher Betriebe auch einem „statistischen Effekt“
geschuldet ist. So produzierten Konzerne zwar in
ostdeutschen Bundesländern, ihre Zentralen
aber hätten sie im Westen. Deshalb entstünde im
Osten Produktivität, die aber westlichen Bundes-
ländern zugerechnet werde.
Auch Gropp hat diese These lange vertreten.
Doch als der IWH-Chef hat nachrechnen lassen
und Firmen mit jeweils rund 100 Mitarbeitern
aus Ost und West miteinander verglich, waren
die Produktivitätsunterschiede zwischen Ost und


West immer noch da. Den Grund dafür sieht
Gropp in einer verfehlten Subventionspolitik. Die
Politik habe mit Fördergeldern Arbeitsplätze er-
halten, die unter normalen Bedingungen wegge-
fallen wären. Statt „kreativer Zerstörung“ à la
Schumpeter würden im Osten kränkelnde Unter-
nehmen künstlich über Wasser gehalten und die
neuen Länder durch die Hilfsmittel so sogar da-
ran gehindert, aus eigener Kraft zu wachsen.
Denn Unternehmen, die staatliche Hilfe erhalten,
gelten in der Regel als weniger innovationsfreu-
dig, weil sie weniger unter Druck stehen, neue
Produkte zu entwickeln.
Dass sein Vorstoß parteiübergreifend auf Kritik
stößt, verwundert Gropp nicht. Politiker würden
den ländlichen Raum reflexartig verteidigen, sag-
te er. Schließlich lebe dort ein großer Teil ihrer
Wähler. Rund 55 Prozent der Ostdeutschen woh-
nen auf dem Land. Daher hat der Vorschlag des
IWH Halle auch keine Chance auf Umsetzung.
„Einfach aufgeben ist keine Lösung“, sagt
Joachim Ragnitz vom Dresdener Ifo-Institut.
„Ich halte von dem Vorschlag des IWH Halle
nichts“, meint auch der Magdeburger Wirt-
schaftsprofessor Karl-Heinz Paqué. Nach wel-
chen Kriterien wolle die Politik förderwürdige
und förderunwürdige Regionen auswählen? Pa-
qué sieht das Konzept auch ökonomisch kritisch:
„Der Aufstieg des Großraums München hat auch
das Allgäu gerettet. Die Expansion eines Groß-
raums kann große positive Effekte haben, die bis
weit in den ländlichen Raum reingreifen.“ Diese
Regionen müssten gefördert werden, damit sie
ohne Probleme den Anschluss herstellen kön-
nen, wenn sie vom Boom der Stadt profitieren.

Handelsblatt-Bewertung: Ökonomisch ist die
Idee zumindest umstritten – und politisch nicht
durchsetzbar.

Dorfszene in der
brandenburgischen
Uckermark:
Alles auf Städte
setzen?

OSTKREUZ - Agentur der Fotografen GmbH

Ostdeutschland: Ungünstige Bevölkerungsentwicklung
Zahl der Einwohner
in Deutschland in Millionen

Altersgruppe 65 Jahre und älter
Anteile in Prozent der Gesamtbevölkerung Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Euro1

24,2 %
70,3 Millionen

12,6 Millionen

20,9 %

West mit Berlin

West

Ost

Ost ohne Berlin

West mit Berlin
Ost ohne Berlin

HANDELSBLATT • 1) In jeweiligen Preisen

1991 2018 2018 2018

Gesamt
82,9

Quellen: Statistisches Bundesamt, BiB, eigene Berechnungen, Statistische Ämter des Bundes und der Länder

80

70

60

20

0
1990 2018

25 %

21 %

17 %

13 %

29 664 €

42 84 €

2000 2018

48 000

36 000

2 4 000

12 000

0

West

20 ,9 %

Ost

24,2 %

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