Handelsblatt - 30.08.2019 - 01.09.2019

(Jeff_L) #1
Nicola Zingaretti

Erfahrener


Stratege


E


rst seit März steht Nicola Zingaretti an der
Spitze des Partito Democratico (PD). Er
siegte nach langen Grabenkämpfen, in die
die Partei versunken war, nachdem sie 2018 bei
der Wahl eine erhebliche Niederlage hatte einste-
cken müssen. Zuvor, seit 2014, hatten die drei
PD-Premiers Enrico Letta, Matteo Renzi und Pao-
lo Gentiloni regiert.
Der 53-jährige Römer war Europaabgeordneter
und Präsident der Provinz Rom. Seit 2013 ist Zin-
garetti Ministerpräsident der Region Latium. Das
will er bleiben, deshalb tritt er auch nicht in die
neue Koalitionsregierung von PD und der Bewe-
gung Fünf Sterne ein. Das tue er auch, um die
ewig zerstrittene Partei zusammenzuhalten,
heißt es in Rom.
In den Verhandlungen, die sich tagelang hinzo-
gen, zeigte er sich als besonnener und nicht aus
der Ruhe zu bringender Stratege. Er ist der erfah-
renere Politiker im Vergleich zu Fünf-Sterne-Chef
Luigi Di Maio. Ein Staffellauf sei das nicht, erklär-
te er als Antwort auf die Frage, ob denn seine
Partei nicht einfach die Lega ersetze. Nein, das
sei ein verantwortlicher Neubeginn, erklärte er.

Für ein Ende des Hasses
Mit dem Blick auf die nach 14 Monaten geschei-
terte populistische Koalition von Fünf Sternen
und der Lega sagte er auch, dass die PD der Peri-
ode des Hasses und der Angst ein Ende setzen
wolle. Das war auf Lega-Chef Matteo Salvini ge-
münzt, der mit der Forderung nach Neuwahlen
die Krise ausgelöst hatte. Jetzt wählt Zingaretti
mit dem vollen Mandat der Partei die PD-Minis-
ter für die neue Regierung aus. Es werden min-
destens acht sein, munkelt man.
Seine wahren Gegner hat er innerhalb der eige-
nen Partei. An erster Stelle ist das Ex-Premier
Matteo Renzi, der an einer Sonderstellung bastelt
und dem man nachsagt, er plane, eine eigene
Partei in der Mitte gründen zu wollen. Ein ande-
rer Weggefährte, Carlo Calenda, der ehemalige
Industrieminister der PD-Regierung, hat aus Pro-
test gegen die Koalition mit den Fünf Sternen sei-
nen Parteiaustritt erklärt. Der Europaabgeordne-
te war maßgeblich am Erfolg der PD bei der Eu-
ropawahl beteiligt, in der die Partei 22,7 Prozent
erzielte. Bei der Parlamentswahl 2018 war sie auf
18,8 Prozent abgerutscht. „Überleg dir deine Ent-
scheidung“, schrieb Zingaretti darauf an Calen-
da. „Ich habe tausend Zweifel gehabt in diesen
schwierigen Tagen, aber ich habe mich engagiert
und allen zugehört, damit wir geeint bleiben.“ Er
habe die Beleidigungen der Vorgängerregierung
nicht vergessen, und er habe auch keine Angst
vor Neuwahlen, sondern davor, was ein unge-
hemmt „barbarischer“ Wahlkampf Italien antun
würde. Regina Krieger

PD-Chef Zingaretti:
Kompromisse für
eine Regierungsbe -
teiligung.

Cosimo Martemucci/imago images/ZUMA Press

Premier Giuseppe
Conte: Neuer Auftrag
zur Regierungsbildung.

Das größte Problem aber: Italiens Wirtschaft sta-
gniert. Im zweiten Quartal vermeldete das Statistik -
amt Istat keinerlei Wachstum. Für das ganze laufen-
de Jahr rechnete die EU-Kommission bei ihrer jüngs-
ten Prognose für Italien mit einem „marginalen“
Wachstum von 0,1 Prozent. Erst im kommenden
Jahr soll das auf 0,7 Prozent steigen. Die Prognose
kam vor der Krise. In den nächsten Tagen gibt es
neue Zahlen.
Conte versprach Reformen, ohne ins Detail zu
gehen. Einigen sich die Koalitionäre, kann das Ita-
lien nach vorn bringen. Das Land leidet nicht nur
unter dem Nullwachstum. Eine hohe Jugendar-
beitslosigkeit, eine extrem schwerfällige Justiz und
Bürokratie, Korruption und Steuerflucht – das sind
die größten Probleme. Es war die PD, die unter an-
derem die Rentenreform auf den Weg gebracht hat-
te, die die Populisten als erste Amtshandlung ge-
strichen hatten.
Die Unternehmer bleiben skeptisch und warten
ab. „Wir schätzen es, dass Conte in seiner Rede die

Einbindung in Europa erwähnt hat“, sagt Vincenzo
Boccia, Präsident des Industrieverbands Confindus-
tria, dem Handelsblatt. „Wir erinnern daran, dass
man in Italien wie in ganz Europa die Frage der so-
zialen Gerechtigkeit nur ökonomisch lösen kann.“
Um die Ungleichheit zu reduzieren und um Arbeit
zur zentralen Priorität der Agenda zu machen, sei
mehr Wachstum nötig, so der Chef des italienischen
BDI. „Umso wichtiger ist es, dass die Investitionen in
Infrastrukturmaßnahmen wieder starten, auch anti-
zyklisch.“ Von der Wahl des Wirtschafts- und Finanz-
ministers wird abhängen, wie realistisch ein positi-
ves Urteil über Italien ist. Am Donnerstag zirkulierte
der Name des gerade ausgeschiedenen ehemaligen
Generaldirektors der Banca d’Italia, Salvatore Rossi.
Der Ökonom wäre eine gute Wahl.
Die beiden neuen Koalitionäre, die jetzt zusam-
menfinden müssen, sind die stärksten Parteien im
Parlament, auch wenn sich die Ergebnisse seit der
Europawahl zugunsten der PD verschoben haben:
Bei der Parlamentswahl im März 2018 wurden die
Fünf Sterne mit 32,7 Prozent stärkste Partei, die PD
erzielte 18,8 Prozent. Bei der Europawahl im Mai die-
ses Jahres brachen die Fünf Sterne ein auf 17,1 Pro-
zent, und die PD holte 22,7 Prozent.
In Rom wird diskutiert, wie stabil die neue Re-
gierung sein wird. Denn Lega-Chef Salvini ist zwar
entmachtet und in der Opposition, aber schon
wieder im Wahlkampf. „Ich würde es genauso wie-
der machen“, sagt er. Bis zuletzt hatte er den Fünf
Sternen angeboten, zur alten Koalition zurückzu-
kehren.
In den sozialen Medien, wo sein Team rund um
die Uhr Fotos und Botschaften postete, ist er deut-
lich stiller geworden. Doch seine Forderung nach
Neuwahlen wiederholt er bei jeder Gelegenheit.
Gleichzeitig ruft die Basis der Lega zum Protest. Es
gibt keinen Zweifel: Hält die neue Regierung nicht,
droht Italien ein Rechtsruck.

> Leitartikel Seite 14

Präsident Mattarella:
Froh über eine neue Mehrheit.

Alessandra Tarantino/dpa

Innenminister
Salvini: Künftig
wohl in der
Opposition.

Andrew Medichini/dpa

Wirtschaft & Politik
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WOCHENENDE 30./31. AUGUST / 1. SEPTEMBER 2019, NR. 167^9


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