Der Tagesspiegel - 30.08.2019

(Nancy Kaufman) #1

„Azubis händeringend gesucht!“ Mit die-
sem Appell wendet sich die Industrie-
undHandelskammer (IHK)an dieÖffent-
lichkeit. Denn zum Start des neuen Aus-
bildungsjahres am Sonntag sind in Berlin
bei der IHK noch mehr als 5500 Ausbil-
dungsplätze unbesetzt. Auf der Lehrstel-
lenbörse der Handwerkskammer Berlin
im Internet sind darüberhinaus noch 577
Lehrstellen im Handwerk unbesetzt, sagt
Sprecher Wolfgang Rink. Die reelle Zahl
dürfte höher liegen, nicht jeder Betrieb
meldet eine Vakanz auf der Service-Platt-
form. Eine besondere Herausforderung
ist die Integration Geflüchteter über Ar-
beit oder Ausbildung – das wahre Leben
ist anders als die Theorie, zeigt sich.
Generell können sich alle Jugendlichen
völlig unabhängig von der Herkunft an
das Programm „Passgenaue Besetzung“
der IHK Berlin wenden. „Vor allem für
kleine und mittelständische Betriebe ist
die Azubilücke ein Problem“, sagt Jan
Pörksen, Geschäftsführer „Bildung & Be-
ruf“ bei der IHK. Die „Passgenaue Beset-
zung“suchevorallem für dieBerufsgrup-
pen Büro, Hotel- und Gaststättenge-
werbe, IT-Branche und Handel nach Be-
werbern. Es gibt aber auch für viele wei-
tere Berufsbilder noch freie Plätze. Aus-
bildungsberater besprechen Stärken,
Schwächen, berufliche Vorstellungen –
und Erwartungen des Betriebs. Jugendli-
che könnten noch bis Oktober eine Aus-
bildung beginnen. Das Programm wird
ausMittelndesBundes unddemEuropäi-
schenSozialfonds gefördert.Auch im Ber-
liner Handwerk gibt es passgerechte Be-
ratung, auch, um die Abbrecherquote in
der Ausbildung zu senken. Derzeit sind
etwa Lehrstellenfrei als Friseur,Anlagen-
mechaniker oder Mosaikleger.
Viele Betriebe hoffen, dass junge Ge-
flüchtete die Lücke an Lehrlingen füllen.
Da gibt es schon viele Erfolge zu vermel-
den, aber auch Ernüchterndes. So ist das


Prinzip der dualen Ausbildung, also
Schule und Praxis, in den meisten Her-
kunftsländern nicht bekannt. Da gibt es
junge Männer, die in Iran oder in Somalia
erfolgreich Autowerkstätten betriebenha-
ben,aberhier eine Mechatroniker-Ausbil-
dung vorweisen müssten. Diese könnten
sie aber sprachlich auch nach vier Jahren
in Berlin oft nicht absolvieren. Hochmo-
derne Auslesegeräte, in der Heimat kaum
üblich. In erste Integrations- oder Volks-
hochschulkurse kommt man erst nach
langen Wartezeiten, und dort wird All-
tagsdeutsch gelehrt.
Mancher kommt da
nicht mit, viele
Kurse werden abge-
brochen. Berufs-
schulfachsprache ist
sehr viel schwerer.
Probleme, ins Ar-
beitslebeneinzustei-
gen, haben Bildungs-
experten zufolge
auch jene Zuwanderer etwa aus arabi-
schen Ländern, die im Alter von 15, 16,
17 Jahren nach Deutschland kamen oder
kommen. Sie haben es in einer Willkom-
mensklasse – meist werden sie wegen des
Spracherwerbs ein bis zwei Jahre zurück-
gestuft – vielleicht gerade geschafft, mit
der Schreibweise von links nach rechts
statt rechts nach links, mit völlig anderer
Schrift und anderen Zahlen klarzukom-
men. Und können sich nach Wechsel in
eine Regelklasse auf einfachem Niveau
verständigen. Da die Eltern aber meist
schlechter Deutsch sprechen als die Kin-
der, können ihnen diese auch nicht hel-
fen. Berufsbildungsreife oder Mittlerer
Schulabschluss sindoft nicht zu schaffen.
Besser haben es unbegleitete minder-
jährige Geflüchtete, die seit ein paar Jah-
ren in Berliner Pflegefamilien leben und
intensiv und persönlich gestärkt und ge-
stützt werden. Aber das sind nur ein paar
Dutzend. Und auch kleine Kinder wach-
sen schneller ins Leben hier hinein.

Jenen Neueingestiegenen in Deutsch-
land, die kurzfristig denken, erscheinen
die Mühen einer Lehre zudem nicht be-
sondersattraktiv,weil dasAusbildungsge-
halt in der Regel teils unter oder mit Auf-
stockung beim Amt nur auf gleicher
Höhe wiedieSumme aller staatlichenJob-
center-Leistungen lag oder liegt. Was
selbst erarbeitet wurde, wird gleich wie-
der verrechnet, psychologisch ungüns-
tig.Dashabenauchschon Firmen alsFeh-
ler im System kritisiert. Arbeit bringt da-
bei doch mehr als Geld, nämlich oft
Freunde, Selbstbestätigung, Tagesstruk-
tur. Viele Sonderprogramme der Senats-
verwaltungen versuchen, zu motivieren.
Nach Erfahrungen des berufsvorberei-
tendenIntegrationsprojektes Arrivo gebe
es vor allem bei jungen erwachsenen Ge-
flüchteten die Lage, dass sie mit einem
Helferjob mit Mindestlohn finanziell
weit besser dastehen, als wenn sie noch-
mal eine Ausbildung begännen. Zumal
oft Verwandte im Herkunftsland finan-
zielle Forderungen stellen und große Er-
wartungen an die nach Deutschland Ge-
gangenen oder Geschickten haben.
Ein Drittel aller Geflüchteten lebt nicht
von den Jobcenter-Leistungen, sondern
von Arbeit, aber überwiegend in Hel-
fer-Tätigkeiten. Die Jobcenter-Leistun-
gen nach dem Sozialgesetzbuch II umfas-
sen laut Bundesagentur für Arbeit allge-
mein Miete, Heizung, Kranken- und Pfle-
geversicherung, Meldung an die Renten-
versicherung, der Rundfunkbeitrag ent-
fällt, es gibt die Regelbedarf-Auszahlun-
gen zur Sicherung des Lebensunterhal-
tes; Einrichtungspauschalen, Berlinpass.
Um ingut bezahltenMangelberufen ar-
beiten zu können, müssten die meisten
Erwachsenen nochmal eine Ausbildung
machen.VieleGeflüchtete besitzen keine
hier erforderten Zertifikate, manche wer-
den nicht anerkannt. Für einen Job noch-
mal bei Null anzufangen, für viele frus-
trierend. Zudem dürfen etwa erfahrene
und hoch motivierte Lehrerinnen, die

sich weiter qualifizieren würden, in Ber-
lin nicht arbeiten, weil sie Kopftuch tra-
gen. Dieses würden sie aber aus Tradi-
tion und Überzeugung nicht ablegen.
VieleFrauen aus derarabischen Welt stre-
ben eine Berufstätigkeit zudem nicht an,
sie sind es aus der alten Heimat gewohnt,
sich als Frau in der Kindererziehung und
im Haushalt zu profilieren, nicht als Ar-
beitnehmerin. Syrische Männer sind hin-
gegen eher nicht so sozialisiert, dass sie
unbedingt in Pflegeberufe in Altenheim
oder Krankenhaus gehen.
Andererseits gibt es wieder junge
männliche Geflüchtete, die dringend
eine Ausbildung machen wollen, „egal,
was“, um so ihren Aufenthalt in Deutsch-
land durch die 3+2-Regel zu ermögli-
chen, bestätigt auch bei Arrivo. Darunter
sind viele junge Afrikaner und Afghanen,
denn eine sichere Bleibeperspektive ha-
ben derzeit nur Syrer und Eritreer.
Laut Handwerkskammer stammten
von den rund 3800 Jugendlichen, die
2018 neu eine Ausbildung begonnen ha-
ben, 345 aus den acht Haupther-
kunfts-Fluchtländern.Das Amt fürStatis-
tik wies in Berlin zuletzt 1198 Lehrlinge
aus einem der acht Hauptherkunftslän-
der Geflüchteter aus, in Brandenburg wa-
ren es 469. Im Willkommensjahr 2015
waren es 121 und 24. Im August 2019
gab es laut Bundesagentur für Arbeit, Re-
gionaldirektion Berlin-Brandenburg,
20446 Bewerber für Ausbildungsstellen
unter 25 Jahre, darunter 2455 Geflüch-
tete. Es könnten aber real mehr Flücht-
linge sein, denn beider Fluchtmigrations-
statistik werden Geflüchtete mit Nieder-
lassungserlaubnis gar nicht mehr erfasst,
und auch die über den Familiennachzug
Gekommenen fallen dort nicht hinein.

— Berater „Passgenaue Besetzung“: Clau-
dia Denkmann (030 315 10 490), Sema Gök-
kaya-Süzen (315 10 300), Jaafar Sakr (
10 523). Am 3. September ist bei der Hand-
werkskammer „Azubi-Welcome-Day“.

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Nur berlinern könne er „noch nich so
jut“, gesteht Mahmoud Shobash und
lacht. Die Worte kommen dem 29-jähri-
gen Syrer flüssig über die Lippen. Als er
vor gut einem Jahr seine Verbundausbil-
dung beim Industriekonzern ABB und
der Promess Gesellschaft für Montage-
und Prüfsysteme mbH in Marienfelde be-
gonnen hatte, war das freilich noch an-
ders. Bleibt er weiter so gut dabei, darf er
sich in zweieinhalb Jahren „Elektroniker
für Betriebstechnik“ nennen.
MahmoudShobash und Promess-Grün-
der und Mit-Inhaber Gerhard Lechler ha-
ben sich durch das Modellprojekt „Ge-
flüchtete in Arbeit“ (GiA) kennengelernt.
Das ist eine gemeinsame Initiative der
Wirtschaftsförderung des Bezirks Tem-
pelhof-Schöneberg und der gemeinnützi-
genGesellschaft fürberufsbildende Maß-
nahmen mbH (GFBM). Die Partner ver-
mittelnnicht nurMenschenmit Fluchter-
fahrung an willige Ausbildungsbetriebe,
sondern betreuen die beiden Seiten indi-
viduell. Das scheint nötig, denn die
Sprachbarriere war auch in diesem Fall
nicht die einzige Hürde, die beide Seiten
gemeinsam nehmen mussten.
„Als die ersten Geflüchteten 2015 in
Berlin ankamen, ging es im öffentlichen
Diskurs vorrangig um deren Unterbrin-
gung“,erinnertsich Bezirksbürgermeiste-
rin Angelika Schöttler (SPD). „Wir haben
damals schon einen Schritt weiter ge-
dacht, denn eine Wohnung ist nicht alles.
Gerade junge Menschen brauchen Ar-
beit, um richtig anzukommen.“
Auf der anderen Seite stand das produ-
zierende Gewerbe im Bezirk, das schon
seit Langem unter dem zunehmenden
Fachkräftemangel zu leiden hatte – auch
Firmen wie Promess, die mit 100 Mitar-
beitern am Standort Berlin und weiteren
150 Mitarbeitern weltweit zu den größe-
ren Playern im Bezirk gehören. Beide Ak-
teure zusammenzubringen war eine
große Herausforderung, sagt Schöttler.
Auch die Arbeitgeber hätten lernen müs-
sen,mitkulturellen Unterschieden umzu-
gehen. „Wir sind anders an die Sache he-
rangegangen als es bisher üblich war“, er-
klärt die Bezirksbürgermeisterin. Durch
die Zusammenarbeit mit dem GFBM sei
es möglich gewesen, sowohl die neuen
Azubis,als auch dieUnternehmen indivi-
duell zu unterstützen.
„Wir sind viel flexibler als die meisten
Projekte“, ergänzt Silke Gmirek, Ge-
schäftsführerin der GFBM. „Für den
Spracherwerb wollten wir eigentlich mit
dem Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (Bamf) zusammenarbeiten,
aber deren Angebot war viel zu unflexi-
bel.Unsere Azubis brauchten keine allge-
meinen Sprachkurse, sondern auf sie und

ihre Ausbildung zugeschnittene Sprachtu-
torien.“
Damit waren Bamf und Arbeitsagentur
als Finanziers des Sprachtrainings aus
demRennen.Also hat der Bezirk Tempel-
hof-Schöneberg dieKostenübernahme or-
ganisiert. Insgesamt 200 000 Euro sind
jährlich aus dem Integrationsfonds der
Senatsverwaltung in das GiA-Projekt ge-
flossen, das insgesamt 24 Unternehmen
bei der Ausbildung Geflüchteter einbin-
det. Rund 360 Bewerbungsgespräche mit
konkreter Perspektivplanung wurdenbis-
her geführt. Zum Ende des Jahres läuft
die Förderung aus. Im kommenden Jahr
wolle man noch gemeinsam mit der
GFBM einen „Leitfaden“ erstellen, kün-
digt die Bezirksbürgermeisterin an. Er
soll interessierten Ausbildungsbetrieben
wichtige Hinweise geben.
„Für uns war das Projekt jedenfalls
eine sehr positive Erfahrung, aus der wir
großen Nutzen gezogen haben“, zieht
Promess-SeniorGerhard Lechlerein Zwi-
schenfazit. Dieinsgesamt fünfneuensyri-
schen Kollegen seien alle extrem moti-
viert, fleißig und bildungswillig – anders
als mancher deutsche Azubi, den man
schon ausgebildet habe. Was Sprachbar-
rieren angeht: Auch Muttersprachler
müssten sich die vielen Fachbegriffe
mühsam aneignen.
Ein wenig schade sei nur, dass sich
keine weibliche Bewerberin gefunden
habe. „Wir waren mit dem ehrgeizigen
Ziel gestartet, zwei der fünf Ausbildungs-
plätze an Frauen zu vergeben“, erklärt
Lechler. Das habe nicht geklappt, sei aber
nicht unbedingt ein kulturelles Problem.
Leider könnten sich auch deutsche
Frauen immer noch zu wenig für einen
technischen Beruf begeistern.
Dafür sind die fünf syrischen Azubis
bei Promess immerhin in religiöser Hin-
sicht divers. Einer von ihnen ist strenger
Moslem, unter den anderen vieren sind
ein Christ, ein Alevit und ein Atheist.Der
Fünfte unter ihnen, Mahmoud Shobash,
ist auch Moslem. „Aber nicht so streng“,
schmunzelt er. „Ich trinke auch mal ein
Glas Alkohol mit den Kollegen.“
Er hat viel geschafft, auch durch die
Hilfe seines Mentors, wie der Azubi be-
tont. „Wenn ich etwas in der Berufs-
schule nicht verstanden habe, hat Herr
Lechlersichmit mir amWochenendehin-
gesetzt und es mir erklärt, dafür bin ich
ihm sehr dankbar“.
Heute hat Mahmoud Shobash eine ei-
gene Wohnung in Hohenschönhausen,
spielt dort in einem Fußballverein. Sport-
lich und sprachlich komme er mit. Nur
wenn sein Trainer wieder zu stark berli-
nert, müsse er ab und zu noch mal nach-
fragen. Magdalena Thiele

Fleißarbeit. Viele junge Geflüchtete wollen gern eigenes Geld verdienen, wie Ugaas Ziad aus Somalia. Doch bis zur Aufnahme einer Ausbildung ist es ein weiter Weg. Foto: Ch. Schmidt/dpa


Integrationsarbeit.
Mahmoud Shobash
lernt bei der Promess
Gesellschaft für Mon-
tage- und Prüfsysteme
in Marienfelde den
Elektroniker Betriebs-
technik. Tempel-
hof-Schönebergs Bür-
germeisterin Angelika
Schöttler (SPD) unter-
stützt das Projekt.
Foto: Magdalena Thiele

Fehler im System


Geflüchtete sollen helfen, die Fachkräftelücke zu schließen. Doch eine Ausbildung lohnt sich für viele nicht


Berufsschule
ist schwer.

In der alten
Heimat hofft

man auf Geld


12 DER TAGESSPIEGEL BERLINER WIRTSCHAFT NR. 23 930 / FREITAG, 30. AUGUST 2019


Gemeinsame Sprache


Mahmoud Shobash aus Syrien lässt sich bei einer


Metallfirma ausbilden. Das kostet viel Zeit und Geld


Von Annette Kögel

ZUM START INS AUSBILDUNGSJAHR Die Chancen und Hürden für Geflüchtete in der Hauptstadt


Das weltbekannte und preisgekrönte Eifman-Ballett St. Petersburg bringt zwei ausdrucksstarke Meisterwerke „Der Pygmalion Effekt“ und
„Anna Karenina“ auf die Bühne. Eifman setzt mit seiner Ballettcompagnie seit Jahrzehnten Maßstäbe darin, im und mit dem Tanz neu zu
erzählen und die Ausdrucksmöglichkeiten des klassischen Balletts zu erweitern. So werden Musik, Erzählung und Tanz zu einer neuen Einheit
verbunden. Meisterchoreograph Boris Eifman präsentiert mit „Der Pygmalion Effekt“ eine neue, subtile Interpretation des mystischen Stoffes
über den Bildhauer, der sich in die von ihm geschaffene Statue eines schönen Mädchens verliebt. Mit „Anna Karenina“ widmen sich das
Ballet der zeitlosen Geschichte des Strebens nach Glück. Somit ist Tolstois Werk noch heute genauso aktuell wie damals im 19. Jahrhundert.

Termine: Ballett: „Der Pygmalion Effekt“ – Europapremiere
Musik von Johann Strauss (Sohn)
17./18. Oktober 2019, jeweils 20 Uhr

Ballett „Anna Karenina“ - nach dem Roman von L.N. Tolstoi
Musik von P. I. Tschaikowski


  1. Oktober 2019, 19.30 Uhr und 20. Oktober 2019, 18.30 Uhr


Ort: Theater am Potsdamer Platz, Marlene-Dietrich-Platz 1, Berlin

Informationen und Tickethotline:
Tel.: 01806/570 070 ; eventim.de
Tel.: 030/47997415; berlin.de

Boris Eifman Ballett in Berlin


Die Meisterwerke „Der Pygmalion Effekt“ und „Anna Karenina“


© Valentin Baranovsky
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