Berliner Zeitung - 30.08.2019

(Michael S) #1

SEITE 10 SONDERSEITEN DER BERLINER BÜHNEN FREITAG, 30. AUGUST 2019


E

in jüdisches Schtetl im zaristischenRuss-
land:InmittenvonheißenSommernund
bitterkaltenWinternführtder LehrerMen-
delSinger einLeben, dasvonArmut und
Entbehrungen,von Ritualen undGottesfurcht ge-
prägtist.Danntrifft den frommenMann ein
Schicksalsschlag:Sein viertesKind,derSohn
Menuchim,kommtmiteinerBehinderungzur
Welt.AlsMendelSinger in derHoffnung auf ein
besseresLebenbeschließt,nachAmerikaauszu-
wandern,mussdieFamiliedenkrankenSohn
schwerenHerzenszurücklassen.
DiebohrendenSchuldgefühleaufGrunddie-
serEntscheidungsinderstderBeginnvonMen-
delsLeidensweg.InAmerikableibtereinFrem-
der undAußenseiter.Nach und nach stürzendie
Grundpfeiler seinerExistenz ein, als er seine Söhne,
seineFrau und schließlich dieTochterverliert.
Mendel gerät an dieGrenzen seiner bislang uner-
schütterlichenDuldsamkeit.Plötzlichhinterfragt
er die letzteKonstanteseines Lebens: dasVertrau-
en in seinenGott.
Manmuss nicht jüdischenGlaubens sein, man
kann auch einer anderenReligion angehören, um
sich derStreitfrage zu stellen:IstGott gut?Isterge-
recht?Undist er wirklich allmächtig?Undwenn ja –
wie kann dieserGott dann sovielLeidundUnge-
rechtigkeit über dieMenschen bringen?Dasist die
Frage allerFragen, die denHelden derGeschichte,
MendelSinger,bewegt, quält und an denRand des
Wahnsinns treibt.

Zugleich erzähltJosephRoths1930 erschiene-
nerRomanvonbis heute gültigen existenziellen
Erfahrungen:Emigration undHeimatlosigkeit,Ver-
zweiflung undGlaube,Tradition undIdentitätsver-
lust.IneinerSprache,dieKargheit undPoesie auf
unnachahmlicheWeisevereint, machtRothaus
der biblischenHiobs-Vorlage eine berührendeGe-
schichte des 20.Jahrhunderts.
RothsGleichnisvomLeben auf die kleine Bühne
derVaganten zu bringen, ist eineHerausforderung,
der sich das Theater nunmehr in seiner 71.Spiel-
zeit stellt.DieinBerlin lebendeRegisseurinJasmi-
naHadžiahmetovićhat das großeExistenz-und
Seelendrama für dieVaganten Bühne bearbeitet.
Unter ihrerRegie feiertdasStück am 13.Septem-
berPremiere.Inder Bühnenfassungverdichtet sich
MendelSingersGeschichte über dasWarten auf ein
Wunder zu einem eindringlichen und hochemotio-
nalenKammerspiel.

KLEINES THEATER

KLEINES THEATER

Verrat einer Liebe


Schuld,Duckmäusertum und latenter Antisemitismus:
Uraufführung nachFranzWerfels „Eine blassblaueFrauenschrift“

D

ieErzählung„Einebalss-
blaueFrauenschrift“,
1940 inFrankreich ent-
standen und 1941 in Ar-
gentinienveröffentlicht, ist zu-
gleich eineGeschichtevomVerrat
einer Liebe,einPsychogramm ei-
nesOpportunisten und einzeitge-
schichtliches Dokument über la-
tentenAntisemitismus.
EinBrief,adressiertmitblass-
blauerFrauenschrift, bringt Leo-
nidas’Leben insWanken.Mitei-
nem geerbtenFrack hat er,der
unbedeutende „Sohn des hunger-
leidenden Lateinlehrers“, einstZu-
ganggefundenzuden Kreisen der
Macht.Erist zumSektionschefim
Kultusministerium avanciertund
stolz auf seinen steilenAufstiegin
die Oberschicht.DerBrief einer
früherenGeliebten, deneran sei-
nem fünfzigstenGeburtstag erhält,
lässtihn glauben,Vater ihresKin-
des zu sein.DieunerwarteteNach-
richt bringt denParvenü undOp-
portunistenaus derFassung und
droht ihm, privat wie beruflich,
denBoden unter den Füßenweg-
zuziehen.
Es entwickelt sich ein entlarven-
desStück angepasstenDuckmäu-
sertums,eineGeschichte persön-
licher Schwächen,vonSchuld, die
jemand auf sichgeladenhat,von
derUnfähigkeit, sie einzugestehen
sowie demUnvermögen, dieKon-
sequenzen zu tragen.
DerStoff wurde 1984verfilmt
und derTV-Film mehrfach ausge-
zeichnet.

Eine blassblaueFrauenschrift
nach der ErzählungvonFranz Werfel

Buch undRegie:Mathias Schönsee
Bühne undKostüme:WiebkeHorn
Mit: ChristophSchüchner,Saskia
von Winterfeld, Hannah Ley,
Dominik Raneburger

Premiere am 30. August
Weitere Termine am 31.August,
14., 15., 28. und 29 .September
sowievonOktoberbisDezember

Kleines Theater
am Südwestkorso
Südwestkorso 64, 12161 Berlin
Kartentelefon: 03024 06 57 77

http://www.kleines-theater.de

BERLINER ENSEMBLE

Intensive Fragen an alle


ZurEröffnung desNeuenHauses setzt man sich am Schiffbauerdamm
mitrechtemDenken auseinander

nungswochenendemit einemHof-
fest und einemKonzertdes BE-Tan-
zorchesters am 22.Septembermit
Schauspielerinnen und Schauspie-
lerndesBerlinerEnsembles liveam
Mikrofon–derEintritt dazu istfrei.
ZurEröffnungdesNeuenHau-
ses lockt dasBerlinerEnsemble
seinPublikum mit einem beson-
deren Angebot,das es inBerlin so
noch nicht gegeben hat:BisEnde
September zahlt man bei allenVor-
stellungen imNeuenHaus erst im
Anschluss an den Theaterbesuch –
wie vieleinem derAbendwertist
entscheidetjederZuschauer und
jedeZuschauerin selbst.Dies gilt
sowohl für diePremiereals auch
für alleRepertoire-Vorstellungen
imEröffnungsmonat.
NebendemNeuenHaus wirdes
mit demWerkraum eine neue drit-
teSpielstätte geben.Diese bietetvor
allemPlatz fürGesprächsreihen,

Lesungen,Workshops und kleine
Formate jenseits desRepertoirebe-
triebs.Inder neuenReihe „Pop-Up“
zumBeispielzeigenMitglieder des
Ensembles eigeneIdeen,dieplötz-
lich „auf-poppen“,sich ihnen auf-
drängen und auf der Bühne gezeigt
werdenwollen.
Aber auch imGroßenHaus gibt
es imSeptember jedeMenge zu
entdecken: Am 6.September hat
dort„Baal“vonBertoltBrecht mit
StefanieReinsperger in derTitel-
rollePremiere.Brechtsexpressive
Bühnenballade handeltvonBaal,
deralsDichterverehrt,dochals
Menschverachtet wird.DasLeben
eines Künstlers–irrlichterndzwi-
schenGenie undWahnsinn.Regie
führtErsanMondtag, der schon als
Hospitant amBerlinerEnsemble
davon träumte,einmalBrecht auf
derGroßen Bühne zu inszenieren –
jetzt ist es soweit.

D

iePresslufthämmer und
Schlagbohrer imInnen-
hofsindendlichver-
stummt.DasBerliner
Ensemble macht sichbereit für die
Eröffnung einer neuen festenSpiel-
stätte am Schiffbauerdamm:Zur
Eröffnung desNeuenHauses am
20 .September setztsichdortdie
amerikanischeRegisseurinKaren
Breece mit derUraufführungvon
„Mütter und Söhne“ mitrechtem
Denken undrechterGewalt ausein-
ander.
DiedokumentarischeInszenie-
rung befasst sich intensiv mit der
neuenRechten und stellt u.a. die
Fragen, warum sich jungeMen-
schenradikalisieren.WirdihreRa-
dikalisierung durchbestimmte fa-
miliäreKonstellationen begünstigt?
Wiegehen Mütter mit derRadikali-
sierung ihrerKinder um?DenText
entwickelteKarenBreece aufBa-
sisvonInterviews undGesprächen
mitExpertinnenundExperten so-
wieAussteigern.
AmNeueröffnungswochenen-
devom20. bis 22.September gibt
es daneben eine großeEröffnungs-
party mit elektronischen Livesets
vonHenrikSchwarzund einen The-
mentag unter demTitel „Rechtes
Denken“ begleitend zu „Mütter und
Söhne“, der sich demVerstehenpo-
litischerKategorien und demErstar-
ken derAufmerksamkeit fürrechte
Bewegungen widmet.DieVorträge,
Workshops undPodiumsdiskussio-
nen an diesemTagsind kostenfrei.
AbgeschlossenwirddasEröff-

Oliver Reese auf der Baustelle des
NeuenHauses

Neueröffnungswochenende
Vom20. biszum 22. September

Mütterund Söhne
von Karen Breece und Ensemble
Uraufführungam 20. September

Baal
von BertoltBrecht
Premieream6.September

Berliner Ensemble
Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117Berlin
Kartentelefon: 03028 40 81 55

http://www.berliner-ensemble.de

OLIVER

FANTITSCH

MORITZ HAASE

LAURIN GUTWIN

W

enn er kommt, haben die Nörgler
Sendepause!IngoAppelt hat einGe-
heimrezept gegen die deutscheDe-
pressiongefunden: Es gibt so lange
auf dieZwölf, bis dieSonne wieder scheint. Schmer-
zenwerdenweggelacht. Schon ein einzigerBesuch
seinesneuenProgramms„DerStaats-Trainer“er-
setztmehrereJahreTherapie.DennIngoAppelt
gibt derallgemeinenMiesepetrigkeit denRest–zur
Notmit einemgezieltenTrittindenArsch.Eskann
soeinfachsein.
Erist derIngo fürDeutschland!EinVolks-Ingo.
EinIngo für alle–die Überforderten undUnterbe-
zahlten, die Angestrengten undAusgebeuteten und
alle,dieohneVideo-Tutorial nichtmalmehr eine
DosevorgekochteNudeln aufkriegen. Als „Bundes-
arschtreter“ willIngoAppelt aufrichten und trös-
ten–wenn esseinmuss eben mitWahrheit und
Zweckoptimismus.Getreu seinemMotto: Alles
scheiße–Laune super!


Istjetzt alles geklärt?Natürlich nicht!Dennwenn
Frauen erstmalangefangen habenzufragen, sind
sie nicht mehr zu bremsen.AufHorst Schroth sind
im Laufe derZeit so viele neueFragen eingepras-
selt, dass er sich zu einemUpdate fürFortgeschrit-
tene gezwungen sieht.DennFrauen lassen nun mal
nicht locker, siefragen, fragenund fragen.Unddie
genervten Männer merken plötzlich,dass genau
dieseFragerei sie fit imKopf hält.Wissenschaftler
haben jetztsogar herausgefunden,dass die ewigen
Fragen derFrauen für Männer die perfekteProphy-
laxe gegenDiabetes undHerzinfarkt sind.Dadie
Männer aber auf dieFragen derFrauen oft nur un-
zureichende oder gar überhaupt keine Antworten
geben, schickenratloseFrauen ihreFragen anHorst
Schroth, denn der nimmt ihreFragen ernst.Seine
Antworten gibt es im aktuellenProgramm:Treffsi-
cher,erkenntnisreich und saukomisch.
Piet Klocke liest, spricht und musiziertüberDin-
ge,die sich ihm fliehendanbieten.Wortekommen
zögerlich,Musik begeistertihn hormonell-über-
schätzt.Bezüge sind nicht geplant,werden aber
gerneinbezogen.EinÜberraschungspaket also,
auf das derMeister selbst gespannt sein darf.Der
Abend gestaltet sichfreinachHugoBall: „Blödsinn
ist,wenn dasKind keinenKopf hat.Blödsinn ist al-
lerJammer derWelt.Blödsinn ist dieEnttäuschung
derSeele,dieQuintessenzderMelancholie.Blöd-
sinn ist überhaupt einBlödsinn!“Nadann los,kom-
met zuhauf!


DIE WÜHLMÄUSE

MitTrainer,Blödsinn
undsaukomischerProphylaxe

Nörgler haben


Sendepause


HorstSchroth


ChristophSchüchnerundHannah Ley

Florian Rast, Christian Dieterle, Senita Huskić,Magdalene
Artelt

Ingo Appelt: Der Staats-Trainer
Vom5.bis zum 8. September
um 20 Uhr

Horst Schroth:WennFrauen
immerweiter fragen
Vom10. bis zum12. September
um 20Uhr

Piet Klocke:Musikhysterie
&Wlancholie
Am 24. und25.September
um 20 Uhr

DieWühlmäuse
Pommernallee2-4
14052 Berlin
Kartentelefon: 03030 67 30 11

http://www.wuehlmaeuse.de

VAGANTEN BÜHNE

JosephRoths „Hiob“ feiertPremiere
an derVaganten Bühne

VomWarten


auf ein Wunder


Hiob
von Joseph Roth
RegieundBühnenfassung von
Jasmina Hadžiahmetović
Ausstattung: Hella Prokoph

Mit Magdalene Artelt,
Christian Dieterle, Senita Huskić,
Florian Rast

Premieream13. September
um 20 Uhr

Weitere Vorstellungen
am 14.und15. September
jeweils um 20 Uhr

Vaganten Bühne
Kantstraße 12a
10623 Berlin
Kartentelefon:030 313 12 07

http://www.vaganten.de
Free download pdf