Berliner Zeitung - 30.08.2019

(Michael S) #1

P o litik


Berliner Zeitung·Nummer 201·Freitag, 30. August 2019 5 * ·························································································································································································································································································

„WirsindderMeinung,ungerechtbehandeltwordenzusein“


DerpolnischeBotschafterAndrzejPrzylebskiüberForderungennachKriegsentschädigungenvonDeutschland,dieRussland-NähederAfDundmehrUS-Truppen


V


or80 Jahren,am1.Septem-
ber1939,überfieldiedeut-
sche Wehrmacht Polen.
Bundespräsident Frank-
Walter Steinmeier wirdzud en Ge-
denkfeiernnach Warschau reisen –
und zuvor nachWielun, den ersten
Ort, den die deutscheLuftwaffe am
erstenKriegstagbombardierte.Polen
forder tEntschädigungen für die
Kriegsschäden,von800 Milliarden
Euro ist die Rede.Wir sprachen dar-
übermitAndrzejPrzylebski,seit
PolensBotschafterinDeutschland.


HerrBotschafter,amS onntagwirdin
zweiBundesländerninPolensdirek-
ter Nachbarschaft gewählt.Wiebli-
ckenSieaufdiese Wahlen?

DieLandtagswahlenwerden in
PolenmitgroßemInteresse verfolgt.
Wirhoffen, dass in beiden Ländern
die jetzigePolitik fortgesetzt wird–
mitkleinenKorrekturen.Würdensie
etwas konservativer regiertwerden,
würde unsereZusammenarbeit
noch einfacherwerden. DieCDU
entwickeltsich,leider,immerstärker
nachlinks,ums ichmithilfederSPD
undder GrünenanderMachtzuhal-
ten.Dasführtdazu,dassdieAfDim-
merwichtigerwird.


MachtIhnendieAfDSorgen?
Nein, die Partei ist in Teilen kon-
servativ und patriotisch.Waswir in-
des nichtverstehen und gutheißen


können, ist die Nähe zuRussland –
und auch das Lob derWehrmacht.
Aber die AfD wirdinS achsen und
Brandenburgnicht an dieRegierung
kommen,selbstwennsiedieWahlen
gewinnen.

Polen hat sichvehement gegen eine
AufnahmevonFlüchtlingengesperrt.
AberesbrauchtZuwanderung?
UnsereWirtschaft boomt, wir
brauchenArbeitskräfte undsind in-
zwischen aufWirtschaftsmigranten
angewiesen.Mehr als eineMillion
UkrainerlebeninzwischenimLand.
Nurwenige vonihnen beantragen
Asyl,weilsiesonstnichtsofortarbei-
ten dürfen.Wirversuchen, dieEin-
wanderung zu steuern, nicht so
spontan und unbedacht zu agieren
wieDeutschland.

US-PräsidentTrump wirdnach Po-
len kommen.Wieviele Truppen aus
Deutschlandkönnendennrealistisch
nachPolenverlegtwerden?
Es wär eeine Illusion, dass die
USA alleSoldaten ausDeutschland
verlegt. DieInfrastruktur,die in
Ramstein und anderswo besteht,
könntenwirgarnichtzurVerfügung
stellen. Es wäreaber gut,wenn zu
denjetztrund5000Mannnochein
paarTausenddazukommen.

WirdRusslanddasnichtalsProvo ka-
tionwerten?

Natürlichwirdesd as.Aberdas Ver-
hältnisderKräfteistso,dasseseinfach
eine Lüge ist,wenn es ein paarTau-
sendUS-SoldatenfüreineBedrohung
hält.Infolgeder EreignisseinGeorgien
undinderUkrainemüssenwirständig
miteinemrussischenAngriffrechnen.
EineUS-PräsenzinPolendientunse-
rerSicherheit.

Am 13. Oktober wirdinP olen ge-
wählt.Esgabwährendderbisherigen
RegierungszeitderPiSimmerwieder
große Demonstrationen.IstPolen
einegespalteneGesellschaft?
Ja,esg ibteine SpaltunginPolen.

Es gibt einenTeil der Gesellschaft,
der sehr pro-westlich ist und unre-
flektiertalles begrüßt, was aus dem
Westen kommt.Undesg ibt einen
Teil,derbisvoreinpaar Jahren vom
westlichen Lebensstandardbegeis-
tertwar,aber inzwischen feststellt,
dass die egozentrische Lebensweise
auch Nachteile hat.Dieser Teil der
Gesellschaft würde am liebsten ein
Gesellschaftsmodellwieinderalten
Bundesrepublikhaben,eherkonser-
vativ und sozial abgesichert.Dasist
die großeMehrheit der polnischen
Gesellschaft,ichwürdesagen,andie
90 Proz ent. Aber zu den anderen

zehn Proz ent gehören dieEliten in
denMedien,Wissenschaft,dazuge-
hörenSchauspieler.ParteichefJaros-
law Kaczynski wirdnach denWah-
len, wenn die PiS an der Macht
bleibt,fürdienationaleEinheitwer-
ben–abernichtumjedenPreis.Wir
stehen gegen die LGBT-Ideologie,
gegen Frühsexualisierung, wir wol-
leneinegesundeGesellschaft.

Wasmeinen Siemit „LGB T-Ideolo-
gie“? Warum sollten Homosexuelle
nicht gleichgestellt werden und hei-
ratendürfen?
Homosexuelle haben inPolen alle
Rechte,aber die Homo-Ehe ist kein
Recht,sonderneinPrivileg.InderVer-
fassungsteht:„DieEheisteineVerbin-
dungvonFrauundMann.“Umdaszu
ändern, braucht es zunächst einen
Wandel derEinstellungen in derBe-
völkerungunddannMehrheitimPar-
lament. Daskann nichtBrüssel ent-
scheiden.Wirwerden versuchen, in
der neuen EU-Kommission be-
stimmteProz esse zuverlangsamen,
dieinRichtungeinersittlichenVerein-
heitlichung gehen.Auch Justiz ist die
Domäne der Mitgliedstaaten. Wir
brauchen unsereJustizreform. Ich
hoffe,dass Frau vonder Leyen auch
unserePositiondazuberücksichtigt.

Zum80. Jahrestag des deutschen
Überfalls soll derBericht einerParla-
ments-Kommission präsentiertwer-

den,derdasAusmaßderKriegszerstö-
rungenbeziffert.Essollum800Milli-
arden Euro gehen. FordertPolen Re-
parationenvonDeutschland?
Eswär eungeschickt,wenndieser
Berichtam1.Septembererscheinen
würde ,wennderdeutschePräsident
in Warschau ist. Daswirdwahr-
scheinlicheinigeWochenspäterge-
schehen. Wirsind der Meinung,
nach dem Krieg ungerecht behan-
delt worden zu sein.Ausdem Aus-
maßderZerstörungPolensim Zwei-
tenWeltkriegerwächstunsererMei-
nungnachdiemoralischeVerpflich-
tung,dieFrageder Reparationenzu
regeln.DiepolnischeGesellschaftist
mehrheitlich fürEntschädigungen,
aber dieseFrage wir duns noch ein
paar Jahrebeschäftigen.EinDenk-
mal für polnischeOpfer in Berlin,
wieesjetztvonmehrals200Bundes-
tagsabgeordneten gefordertwird,
könnte die polnischen Ansprüche
beeinflussen.

Wiebewerten Siedas deutsch-polni-
scheVerhältnisaktuell?
DieBeziehungenwerden wieder
besser,undwenndiePiSauchnach
den Wahlen imOktober dieRegie-
rung in Polen stellt, wirdsich die
deutscheSeite endgültig an diesen
Partnergewöhnen.FürdieEUkann
dasnurgutsein.

DasGesprächführteJanSternberg.

EinepolnischeEhrenwachebeieinerGedenkveranstaltungfürdenEinsatzvonMarinesoldatendesLandesimZweitenWeltkrieg. IMAGOIMAGES/ARTURWIDA;DPA/BERNDSETTNIK


ZUR PERSON

Andrzej Przylebskiist seit 2016Polens Botschafter in Deutschland. Der 61-Jährigehat Philo-
sophie und Sozialwissenschaften studiert. Er arbeitete immer wieder in Deutschland unter an-
derem an der Humboldt-Universität Berlin.

Tennis und Musiksind seine Hobbys, steht auf der Internetseite der Botschaft. Er spielt Gi-
tarre, Keybord und Akkordeon.

WutaufJohnson


DieEntscheidungdesbritischenPremierministers,dasParlamentinLondonkurzvordemBrexit-Datumlahmzulegen,trifftaufgroßenWiderstand


D


ie vonPremierministerBoris
JohnsonerwirkteZwangspause
des britischenParlaments hat auch
am Tagnach derEntscheidung er-
hebliche Kontroversen ausgelöst.
EinMitglied der konservativen Re-
gierungspartei im Oberhaus,David
Young,legteamDonnerstagausPro-
testgegendenSchrittseinFraktions-
amtnieder.EineOnline-Petitionge-
gen dieSuspendierung desParla-
mentserreichtederweilumdieMit-
tagszeit rund 1,4 Millionen
Unterschriften.DieEingabenandas
Parlamenthabenjedochhauptsäch-
lichsymbolischenCharakter.
DasobersteGerichtinSchottland
beraumte indessen eine kurzfristige
Anhörung in der Sache an.Eine
Gruppe vonAbgeordneten hatte
dortKlage eingereicht und forderte
eine einstweiligeVerfügung bis ge-
klärtist,obdieZwangspausefürdas
Parlamentrechtmäßigist.Wanneine
Entscheidunggetroffenwerdensoll,


war zunächst unklar.Auch die Akti-
vistinundGeschäftsfrauGinaMiller
erklärte ,sie habe rechtliche Schritte
eingeleitet.
DiebritischeOppositionwilltrotz
der Suspendierung desParlaments
versuchen,einenNo-Deal-B rexitper
Gesetzzu verhindern. Dassagteder
Labour-PolitikerBarryGardiner der
BBC. „Wirwerden versuchen, die
entsprechendeGesetzgebungindie-
semengenZeitrahmen,denunsdie
Regierung auferlegt hat, durchzu-
bringen“,sagteGardiner.
DieAbgeordnetenhabennurwe-
nigeTageZeit,umeinentsprechen-
desGesetzgebungsverfahrendurch-
zuführen,wenn das Parlament am
kommenden Dienstag erstmals
nach derSommerpause wieder zu-
sammentritt.Zwischen dem 9. und


  1. September soll die laufendeSit-
    zungsphasebeendetwerden.Allebis
    dahin nicht abgeschlossenen Ge-
    setzgebungsverfahren verfallen


Sorgen bereitet den No-Deal-
Gegnernvor allem das Oberhaus,
weil dor tregierungstreue Lords mit
einerFlutvonAnträgenundFilibus-
ter (Dauerreden)versuchen könn-
ten, Zeit zu verschwenden.Verfas-

dann.EinzweitesZeitfensterimOk-
toberistähnlicheng.Angesichtsder
vielen Hürden imGesetzgebungs-
verfahren ist es kaum möglich, ein
Gesetz in dieser kurzenZeit zu ver-
abschieden.

sungsexperten zufolge könnten die
Abgeordneten einige Tage gewin-
nen,wenndas Parlamentbeschließt,
auch Sonnabend undSonntag zu
Sitzungstagenzuerklären.

MisstrauensvotumalsAusweg
Sollte es nicht gelingen, einGesetz
gegen denBrexit ohneAbkommen
zu verabschieden, bliebe wohl nur
einMisstrauensvotumgegendieRe-
gierung.Umstritten ist jedoch,wer
eine Interimsregierung nach dem
möglichenSturzJohnsonsanführen
soll. OppositionsführerJeremy Cor-
byngilt dafür als zu kontrovers.
„Diese Gesprächemüssenjetztinal-
ler Kür ze und in allerDringlichkeit
geführtwerden“, sagte die deutsch-
stämmigeliberaleAbgeordneteWera
HobhousedemSWRamDonnerstag
ineinemInterview.
DerCDU-EuropapolitikerDavid
McAllisterhatvoreinemSchadenfür
dieDemokratiegewarntunddieAb-

geordneten zuWiderstand aufgeru-
fen. „Durch die Ankündigungvon
PremierministerJohnson wirddas
Parlamentgeschwächt“,sagteMcAl-
lister der RheinischenPost. Auch er
siehteinMisstrauensvotumalsletz-
tenAusweg.
Diezurückgetretene Chefin der
schottischen Konservativen, Ruth
Davidson, wies Spekulationen zu-
rück, sie habe ihr Amtwegen des
Brexit-KursesderRegierungabgege-
ben.DieGründeseieninersterLinie
privat, sagte die 40-Jährige inEdin-
burgh. Siewolle mehrZeit mit ihrer
Familieverbringen.
Davidson gilt als eine der erbit-
tertsten Gegnerinnen eines ungere-
geltenBrexitsinderTory-Partei. Ihre
Botschaft anJohnson sei:„Premier-
minister,besorgen sie uns einen
DealmitderEU.“Sieseiüber zeugt,
dassJohnsoneinAbkommenmitder
EU vordem Austrittsdatum am 31.
Oktobererreichenwolle. (dpa)

„Ruhe sanft, britische Demokratie“: Protest vor der Downing Street in London. AFP
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