Berliner Zeitung - 30.08.2019

(Michael S) #1
Westdeutsc hlandOstdeutschland(inkl. Berlin)

46%

34%

12%

7%

34%

31%

18%

16%

2000 bis 29 99 Euro

ab 40 00 Euro

3000 bis 39 99 Euro

unter1 999 Euro

ab 40 00 Euro

3000 bis 39 99 Euro

2000 bis 29 99 Euro

unter1 999 Euro

Betriebe
nach dem monatlichen Bruttodurchschnittsverdienst

Anteil der Betriebe mit Tarif
an allen Betrieben
23%

21%

20%

41%

31%

29%







Betrie be mitpositiv em Geschäftsergebnis
AnteileinProzent

63%

67%

75%

76%

77%

69%

81%
80%

71%

2016
2014

2016

2015

73%

2014

72%

2012

68%

2009

2009

2007

2010

78%

2012

2010

2007

Bruttomonatslohn
für Vollzeitkräfte, Durchschnitt in Euro

3620 3080

mitBetriebsrat und Tarifvertrag

2800 2250

keinBetriebsrat und kein Tarifvertrag

Tarif-Beschäftigte
in Prozent


67


59


58


57


56


54


45


49


47


44

Wochenarbeitszeit


Teilzeitbeschäftigte mit fest vereinbartem Stundenumfang

38,9% 39,5%

Vollzeitbeschäftigte

61%

18%

21%

32%

33%

mehr als 24 Std.

15 bis 24 Std.

weniger als 15 Std.

mehr als 24 Std.

15 bis 24 Std.

weniger als 15 Std.

35%

QUELLE: IAB

M a de in Berlin


6 * Berliner Zeitung·Nummer 201·Freitag, 30. August 2019 ·························································································································································································································································································


Faire


Job-Börsefür


Kuriere


D


assFahrradkurierezwargernge-
nutzte Dienste leisten, ihreAr-
beitsbedingungen indes oft lausig
sindundsiezudemschlechtbezahlt
werden, trug jüngst der Essensliefer-
dienst Deliveroo ins Konsumenten-
bewusstsein.Vonheute auf morgen
hattedasbritischeUnternehmensei-
nen Rückzugvomdeutschen Markt
verkündetundebensoschnellverlo-
rendamitrund1000Fahrradkuriere
ihrenJob. AlleininBerlinsollenetwa
500RadbotenfürDeliveroogefahren
sein.Lediglich14Tageslöhnebotdas
Unternehmenseinen Mitarbeitern
mit der Kündigungan, wenn sie auf
weitereAnsprücheverzichten.
In der Regel waren die Fahrer
Selbstständige,dieaufRechnungfür
Deliveroo fuhren.„Scheinselbststän-
dige“,heißtesbeidenGewerkschaf-
ten.InzwischenzeigteLieferandoIn-
teresseanFahrerndes ehemaligen
Konkurrenten und lockt mit Festan-
stellung,VersicherungundE-Bikes.
Völliguneigennützigistindesdas
Interesse vonMartin Hawelanden
Fahrer.Erwill mit ihnen kein Geld
verdienen, sonderndafür sorgen,
dass sie fair bezahlt werden. „Ein
FahrradkuriersollvonseinemJobgut
leben können“,sagt der 32-Jährige,
der die InternetplattformRadku-
rier24 gegründetund aufgebauthat.
SeitMaiistdasPortalonline.Kuriere
können sich dortregistrieren und
sind dann samt Foto und Telefon-
nummer für potenzielle Kunden
sichtbar.

AppundKartefolgen
Soll etwas schnell und umwelt-
freundlichvonAnach Bgebracht
oder fix imSupermarkt gekauftwer-
den,sokanneinBoteüberdasPortal
gebuchtwerden.DasEntscheidende
dabei: DieFahrradkurieresind nicht
beidem Portalbeschäftigtundzahlen
keine Provision. DerZahlungs- wie
auch Kommunikationsverkehr ge-
schiehtausschließlichzwischenEnd-
kunden und dem jeweiligenRadku-
rier.„So,wie es sich für eine selbst-
ständige Arbeit gehört“, sagtHawel
und nennt es das„fairsteModell für
Fahrradkuriere“.
Hawelhat das Portal allein und
mitUnterstützungvonFreudenauf-
gebaut und dafür sogar seinenJob
als Verwaltungsfachangestellter in
Bayernanden Nagelgehängt.Inden
nächsten zwei, dreiWochen sollen
endlich auch eineAppsowie eine
Kartefertigsein.Damitkannsichder
RadkurierdannperSmartphoneauf
Radkurier24anmeldenundwirdauf
der Seite mit jeweils aktuellem
Standortangezeigt.PotenzielleKun-
densehendann,wosichdernächste
verfügbareBote befindet und kön-
nenihndirektkontaktierenundbe-
auftragen.
DieAussicht, fürAufträge keine
Provision zahlen zu müssen, macht
dasPortalfür SyamGabilondointer-
essant.Seitvier Jahrenistdergebür-
tige Argentinier inBerlin als Radku-
rier unter wegs.Wie er sagt, gingen
ihm bis zu 25Proz ent vomAuftrags-
volumenbeieinerFahrtanP rovision
verloren.
Hawelhofft nun aufFahrer ,die
mitmachen beiRadkurier24, sowie
eine rege Nutzungdes Portals.Daer
Provisionen ausschließt, soll sich die
Plattformirgendw ann mitWerbung
finanzieren.NochistdieResonanzal-
lerdingsverhalte n. AusBerlinhaben
sich bislang knapp 30Fahrer auf der
Seiteregistriert.

NEU IN DER STADT


VonJochen Knoblach

PHOTODISC

DieZeit


als


Allzeit-Hit


E


swirdSeptember,Zeit der gro-
ßenAusstellungen.Einegute Ge-
legenheit also,mal wieder insMu-
seumzugehen.Unddort,dasgehört
jaeinfachdazu,auchwiederimMu-
seumsshopzustöbern.Einesfälltin
diesenLädenauf:Esfindetsichmin-
destensaucheinDauerbrenner:die
„StandardTime“. Dasist eine von
Hand gemachteZeit-Performance,
die sich auf dem Computeroder
Smartphoneabspielen lässt. Man
sieht eine überdimensionierte Uhr
mit digitalenZifferninder Groß-
stadtkulisse,von Minute zu Minute
wirdsieumgebautvoneinemBauar-
beitertrupp.SeitzehnJahrengibtes
die DVDoder den Downloadnun
schonzukaufen–einAllzeit-Hit.
Beim Installieren vonStandard
Timesynchronisiertsichdie24Stun-
denlangeFilmdateimitderUhrdes
Geräts des Käufers.Von da an sind
die handgemachtenMinuten und
Stunden entweder der Bildschirm-
schonerodermansiehtsieimextra
Zeit-Fenster.Und da wuseln dann
also ständig die Arbeiterin Echtzeit
herum. DerKünstler Mark Forma-
nekhattesichdasimJahr2007aus-
gedachtund gemeinsammit einer
Medienagenturumgesetzt.


DrehortaufdemMauerstreifen

Eine Brachflächean der Alten Jak-
obstraße,auf dem früheren Mauer-
streifen zwischen Kreuzbergund
Mitte,war der Drehort, gleich ne-
benan vomheutigen Sitz der Berli-
ner Zeitung.Vorzwölf Jahren stand
hier noch kaum eines der jetzigen
Gebäude.EinenTagundeineNacht
lang haben die Künstlerdamals im
SommerdieZeitimwahrstenSinne
aufdieBeinegestellt.EsgibtvierZif-
fernwie bei einem Retro-Digitalwe-
cker,nur besteht hier jede einzelne
aus Holzlattenund ist vier Meter
hoch. DieArbeiter musstenschnell
sein, immer wieder auf Leiternstei-
gen,umdieLattenzuwechseln,da-
mitdierichtigeneueZifferentsteht.
IsteineMinuteumgestellt,sollten
sie wenigstens einmal aus demBild
verschwinden,damiteinenMoment
langwirklichdiereineZeiterscheint.
SoerklärteesdamalseinBeteiligter.
BisheutewirktdieChoreografiefas-
zinierend,wennmansichdennein-
malganzdaraufeinlässtundderZeit
beimVergehen zuguckt.Dasist wie
ein kontemplatives „SlowTV“, wie
diegefilmteDauer-S-Bahnfahrtoder
eineYoutube-DampferreiseinNord-
norwegen.
Fastunweigerlichgerätmanins
Zählen:WievieleZiffernmüssenjetzt
gerade wieder verändertwerden?
Manchmalwirdesfasthektisch.Istes
etwa12:59Uhr,habendieArbeiterei-
gentlichauchnureineMinuteZeit,
umzur„13:00“unddamitzudrei
neuenZiffernzukommen.Habensie
dasneueBildfertig,schwankendie
HolzlattennochetwasimBildundes
ist schon einige Sekunden nach
Punkt13 Uhr–aberegal.
1611-malwechseltdieUhrin
Stunden ihr Aussehen, dahinter
dämmertesamHimmel, trübt sich
ein, klartwieder auf, irgendwann
wirdesN acht und dieUhrist ange-
strahlt. DieEinstellung08:08Uhrbe-
nötigt übrigens die meistenHolz-
planken, nämlich 26, und dieDigi-
talanzeigevon11:11 Uhrhat, kein
Wunder,diewenigsten:achtLatten.


BERLINER BEKANNTE


VonJörg Niendorf

24 Stunden lang bauen Arbeiter die Zif-
fernum–Minute für Minute. MARK FORMANEK


E


ssindnurdreiStundenpro
Woche,aber die machen
den Unterschied. Während
BeschäftigtevonThales,die
seit 2014 bei demTechnologiekon-
zern am StandortBerlin angestellt
sind,38 StundendieWochearbeiten
müssen, beträgt dieWochenarbeits-
zeit vonvielen anderenBeschäftig-
ten, die schon länger demKonzern
angehören, nur 35Stunden, um auf
denselbenMonatslohnzukommen.
DieSituation ist so,seit der Kon-
zern vorfünf Jahren vonTempelhof
nachMitteindieSchützenstraßege-
zogenist. UnddamitvomWestender
StadtindenOsten,ineinanderesTa-
rifgebiet. Auch 30 Jahrenach dem
Mauerfall trennt die ehemalige
Grenzedas Tarifgebiet I(West-Ber-
lin) vomTarifgebiet II (Ost-Berlin
undBrandenburg).Zwarunterschei-
den sich vieleTarifverträge kaum
noch,eineunterschiedlichhoheWo-
chenarbeitszeitistabervielfachgang
undgäbe.
SoentstandauchdieSituationbei
Thales.ImZ uge des Umzugs konn-
tenzwarallebiszudiesemZeitpunkt
angestelltenMitarbeiter ihreWest-
verträgemitnehmen,allespäteran-
gestellten erhielten jedoch den hier
gültigenOsttarif,dereinelängereAr-
beitszeitvorsieht.
SolcheFällewiebeiThalesgibtes
mehrer eind erStadt.DaistSiemens
MobilitymiteinemStandortinTrep-
towundeineminSiemensstadt–
zu35 StundenArbeitszeitinderWo-
che.ZwaristderMonatslohngleich,
der Stundenlohn unterscheidet sich
durch die Arbeitszeit aber um acht
Proz ent.
Auch im Handel finden sichBei-
spiele.„InOst-und West-Berlinkonn-
tenwirfastalletariflichenArbeitsbe-
dingungen inzwischen angleichen:
Gehälter,Urlaubs- undWeihnachts-
geld, Urlaubstage und Zuschläge“,
sagtErikaRitter ,Landesfachbereichs-
leiterin vonVerdi Berlin-Branden-
burg.OffenseiaberweiterhindieAn-
gleichungderWochenarbeitszeiten–
in West-Berlin gilt die 37-Stunden-
Woche,imO stteil die 38-Stunden-
Woche.Davon sind laut Ritter bei-
spielsweise BeschäftigtevonRewe
undEdekabetroffen.Anderetarifge-
bundene Unternehmen wie H&M
wenden in ganzBerlin die 37-Stun-
den-Wochean.
Einaktueller umfassender Über-
blick zu Tarifunterschieden zwi-
schen Ost- und West-Berlin findet
sichnicht.Wohlaber Datenfür Ost-
und Westdeutschland insgesamt.
LauteinerArbeitgeberbefragungdes
Instituts für Arbeitsmarkt- undBe-
rufsforschung(IAB)liegtdievertrag-
lich vereinbarte Wochenarbeitszeit
in den neuenBundesländernim
Schnitt bei 39,5Stunden, in den al-
ten Bundesländernbei 38,9. Ost-
deutscheBeschäftigte arbeiten da-
mitim MittelrundeinehalbeStunde
längerproWoche.ImWestengibtes
mehrtarifgebundeneUnternehmen
als im Osten. Auch ein Grund,
warum beim Gehalt eine Lücke
klafft. Während der durchschnittli-
che Monatsbruttoverdienst imWes-
ten2018bei3340Eurolag,betruger
imOsten2790Euro–wobeiderUn-
terschied zwischenOstundWest in
Berlingeringerist.
WarumaberwurdedieWochenar-
beitszeitnochnichtangeglichen?

DieArbeitgeberseiteverweist auf
das geringereProduktivitätsniveau
imOsten.TatsächlichistdieProdukti-
vität hier laut einerVeröffentlichung
des Leibniz-Instituts fürWirtschafts-
forschungHalle(IWH)vonMärz
immer noch 20Proz ent geringer als
im Westen –auch wenn man außer
Acht lässt, dass es imOstenweniger
Großbetriebe undKonzernzentralen
gibt,diegenerelleinehöhereProduk-
tivitätaufweisen.DieForschergehen
davonaus,dassdiegeringereProduk-
tivitätauchmitSubvention enzusam-
menhängt, die zwar mehr Arbeits-
plätzegesch affen,aberdieProdukti-
vitätnichtindemMaßegestärktha-
ben. Auch Folgen der
ZwangsverstaatlichungzuDDR-Zei-
ten und vonAbwanderungen sind
noch nicht wieder ausgemerzt. Für
Arbeitgeber ist es attraktiv,bei den
höherenWochenstundenzubleiben,
um die geringereProduktivität ein
wenigauszugleichen.
DochistBerlinin Ostdeutschland
ein Sonderfall.„InBerlinkann man
sicherlich davon ausgehen, dass die
ProduktivitätvonOst und West fast
gleich ist“, sagt JoachimRagnitz,
Ökonom amIfoInstitut fürWirt-
schaftsforschung.Insbesonderebei
Großunte rnehme nwie Siemen s.
DochhabenbeideSeiten–Arbeitge-
berundArbeitnehmer–wenigInte-
ressedaran,füreinzelneBetrie bein-
dividuelle Tarife auszuhandeln.
Wenn,dannmüssesichinderFläche
etwasä ndern,fürdasgesamteTarif-
gebietOst-BerlinundBrandenburg.
„Und in der Peripherie Branden-
burgsistdieProduktivitätdanndoch
wiederniedriger“,sagtRagnitz.
DerzeitlaufenGespräche zwi-
schendenArbeitgebernundGewerk-
schaften über eine Angleichung der
Arbeitszeiten.„DieMetall-undElek-
troindustrie bietet attraktiveArbeits-
bedingungen, die die Tarifpartner
überJahrzehntehinwegimInteresse
vonArbeitgebernund Ar beitneh-
mernentwickelt undvereinbartha-
ben“, sagt ChristopherBach,Spre-
cher vonThales.WennsichdieTarif-
parteien auf ein Ergebnis einigen,
werdeman das auch übernehmen.
„Für uns hat dieSicherun gvon Ar-
beitsplätzen amStandortBerlin ab-
solute Priorität.“ Gerade deswegen
müsse man sich dieWettbewerbsfä-
higkeit langfristig bewahren. Auch
SiemensMobilityverweistandenAr-
beitgeberverbandGesamt metall,der
eineLösungfürdenFlächentariffin-
denwill.VerdiwillnachderSommer-
pause mit demHandelsverband zur
HarmonisierungderWochenar beits-
zeitenein Konzepterarbeiten,dasbis
zurTarifrunde2021vorliegensoll.
Es geht also langsamvoran–
JahrenachdemMauerfall. Einewirt-
schaftlicheAngleichungdesProduk-
tivitätsniveaus vonOst- an West-
deutschland insgesamt könne hin-
gegennochJahrzehntedauern,sagt
Ifo-ÖkonomRagnitz. Vorallem der
Fachkräftemangel, der im Osten
noch einmal ausgeprägter ist,
bremse das Wirtschaftswachstum.
„Gerade deshalb ist es aber wichtig,
die Tarifbedingungen anzuglei-
chen“, sagt Dorothea Lay,Betriebs-
ratsvorsitzendevonThalesin Berlin.
„WiewillmanFachkräf tenerklären,
dasssielängerarbeitenmüssen,nur
weilwirunserenSitzzehnMeterne-
bendemMauerstreifenhaben?“

Dieunsichtbare


Mauer


BeiTarife nistBerlinimmernocheinegeteilteStadt.


EinigeBeschäftigteimOstenmüssenweiterhin


mehrarbeitenalsdieWestkollegen–fürden


identischenMonatslohn.Wielangenoch?


VonTheresa Dräbing (Text) und
Isabella Galanty (Infografik)
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