er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1

DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019 117


Nachrufe


Toni Morrison, 88
Geboren wurde sie als Chloe Ardelia Wofford, das zweite
von vier Kindern eines zornigen Vaters und einer immer-
fort singenden Mutter – so erinnerte sie sich als alte Dame.
Das Erbe beider Eltern hat die Nobelpreisträgerin für Lite-
ratur (1993) geprägt; ihre Sprache ist musikalisch, auch wo
sie von Qual und Gewalt erzählt. Toni Morrisons Groß -
eltern mangelte es an Schulbildung, ihr Vater war ein Arbei-
ter, der die Familie in Ohio mühsam über Wasser hielt. Sie
lernte mit drei Jahren lesen, studierte an der Howard Uni-
versity und schloss an der Cornell mit einer Arbeit über Vir-
ginia Woolf und William Faulkner ab. Die Geschichte der
Afroamerikaner, Scham und Stolz ihrer Leute, ist das The-
ma von Morrisons literarischem und essayistischem Werk.
»Sehr blaue Augen«, ihr erster Roman, hat zur Heldin ein
schwarzes Mädchen, das sich nichts so sehr wünscht wie die
Augenfarbe der Weißen. Verdrehung, Entfremdung, Ablen-
kung analysierte Morrison als moderne Wirkungen des Ras-
sismus, die weniger offensichtlich sind als Gewalt, aber den-
noch tiefgreifend: »Jemand sagt, dass du keine Sprache hast,
und du verbringst 20 Jahre damit zu beweisen, dass du sie
hast.« Als Patriotin fühlte sich die amerikanische Pionierin
der schwarzen Literatur zum ersten Mal bei der Amtsein-
führung von Barack Obama – »für ungefähr eine Stunde«;
die Medal of Freedom war ihr die wichtigste Ehrung, weil
er sie ihr verlieh. »Menschenkind« (»Beloved« ), Morrisons
bekanntester, mit Oprah Winfrey verfilmter Roman von
1987, berichtet von der Sklavin Sethe, die ihrem Kind die
Kehle durchschnitt, denn wenn »ich sie nicht getötet hätte,
wäre sie gestorben«. Morrison stieß auf diese wahre
Geschichte bei ihrer Recherche für die Anthologie »The
Black Book« (1974), die die alleinerziehende Mutter zweier
Söhne während ihrer Zeit als Lektorin beim Verlag Random
House in New York zusammenstellte. Es entstand eine wirk-
mächtige Dokumentation afroamerikanischer Erfahrung
von Unterdrückung und Eigenständigkeit. In ihrem letzten
SPIEGEL-Gespräch, 2017, zitierte sie aus einem Brief aus
dem Gefängnis; der Häftling bat um drei Exemplare ihres
Buches: » ›Ich brauche eines, um es an die Wand zu schleu-
dern, ich brauche eines, um es im Arm zu halten, und ich
brauche ein drittes, um es jemandem zu geben, den ich lie-
be.‹ Das hat mir gefallen: schleudern, festhalten, teilen.«
Toni Morrison starb am 5. August in New York. ES

D. A. Pennebaker,^94
Das Glück des Dokumen -
tarfilmers ist es, die Szene
zu finden, die die Sache
auf den Punkt bringt. Eine
Szene wie die, in der Bob
Dylan den Kollegen Dono-
van gönnerhaft lobt – und
ihn dann mit »It’s All Over
Now, Baby Blue« in Grund
und Boden spielt. Der Fil-
memacher Donn Alan Pen-
nebaker begleitete Dylan
1965 auf seiner Großbritan-
nientour, filmte in Hotels,
Garderoben, auf der Bühne,
und dann war diese Szene
dabei, die zeigte: Dieser
Dylan ist nicht bloß ein
Folksänger, er ist mehr, er
ist ein echter Star. Weil
Pennebaker immer wieder
in solchen Momenten mit
der Kamera dabei war, hat
er unser Bild von der Popge-
schichte geprägt: Jimi Hen-
drix und Jefferson Airplane
im »Summer of Love« 1967
beim Festival im kaliforni-
schen Monterey. Das letzte
Konzert von David Bowie
als Kunstfigur Ziggy Star-
dust. Die scheuen Synthie-
popper Depeche Mode, die
in den USA zur Stadion-
band werden. Pennebaker
zeigt die Protagonisten
ganz unmittelbar, ihre Bli-
cke, ihre Worte, sortiert
wird im Schnitt, der Off-
Kommentar ist Nebensache.
Diese Methode entwickelte
Pennebaker an Politiker -
porträts, über die Kennedys,
aber auch – im Februar
1965 – über Franz Josef
Strauß. Seine wohl berühm-
teste Szene war übrigens
inszeniert: Die Pappkarten
mit dem Text von »Sub -
terranean Homesick Blues«,
die Dylan beim Singen nach
und nach fallen ließ, waren
schon vor den Aufnahmen
entstanden. Manchmal

muss man das Glück eben
erzwingen. D. A. Penne -
baker starb am 1. August in
Sag Harbor im US-Bundes-
staat New York. FEB

Schoschana Rabinovici, 86
»Wir schließen das Tor zur
Vergangenheit.« An diesen
Leitspruch ihrer Mutter
hielt sich die Autorin und
Holocaust-Überlebende
nach Kriegsende mehr als
40 Jahre lang. Schoschana
Rabinovici, 1932 in Paris
geboren, stammte aus einer
großbürgerlichen jüdischen
Familie im damals polni-
schen Wilna (Vilnius). Kurz
nach dem Einmarsch der
Deutschen 1941 wurde ihr
Vater erschossen, sie selbst
musste mit ihrer Mutter ins
Getto. 1943 wurden sie

deportiert, sie kamen in die
Konzentrationslager Kaiser-
wald und Stutthof. Es folgte
der Todesmarsch nach
Tauentzien, wo die Zwölf-
jährige schließlich gemein-
sam mit ihrer Mutter von
der Roten Armee befreit
wurde. Über all das sprach
sie also erst nicht. Und dann
eben doch. Die Frauen im
KZ, so erzählte sie später,
hätten sie ermahnt: »Schau
gut hin, vergiss das nicht.«
Wer überlebte, hatte die Ver-
pflichtung, Zeugnis ab zu -
legen. So schrieb Rabinovici,
die seit 1950 überwiegend
in Tel Aviv lebte, schließ-
lich ihre Erinnerungen auf;
ihr Buch »Dank meiner
Mutter« erschien 1991. In
einer bewegenden Theater-
produktion zum 75. Jahres-
tag der Pogromnacht trat
sie 2013 am Wiener Burg -
theater auch als einer der
»Letzten Zeugen« auf. Scho -
schana Rabinovici starb am


  1. August in Tel Aviv. AND


KATHY WILLENS / AP

EVELYN ROIS & BRUNO STUBENRAUCH / LAIF

KOBAL COLL. / REX FEATURES
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