er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1

ne erwirtschaften durften, wurde
jetzt alles stramm auf Profit ausge-
richtet. Die Politik hat das unter-
stützt. Zwar gibt es noch eine Letzt-
verantwortung des Staates, aber
die konkrete Leistung hat er an die
privaten Akteure abgegeben, die
er danach mit großem bürokrati-
schem Aufwand wieder kontrollie-
ren und regulieren muss, um die
Daseinsvorsorge zu gewährleisten.
SPIEGEL:Was war daran für Politi-
ker attraktiv?
Wirsching:Man konnte die Folge-
probleme des Strukturwandels
scheinbar – ich betone scheinbar – an den
Markt wegdelegieren! Jeder Amts- oder
Mandatsträger konnte sagen: Es gibt das
Konzept, dass der Markt das besser macht.
Das war eine riesige Versuchung zur Berei -
nigung der immer komplizierteren poli -
tischen Agenda.
SPIEGEL:Sie beklagen den Rückzug des
Staates in der Kohl-Ära. Mit der deutschen
Einheit explodierten jedoch die Staatsaus-
gaben: Von 1991 bis 1995 flossen 615 Mil-
liarden Mark als Nettotransferleistung in
die Ex-DDR. Wie passt das zusammen?
Wirsching:Es gibt eine Paradoxie: Der
Staat hat sich damals partiell aus Kern-
funktionen zurückgezogen und zugleich
die Sozialausgaben gesteigert, was für
viele erforderlich war, die durch die Ent-
industrialisierung in Ostdeutschland ihren
Arbeitsplatz verloren hatten.
SPIEGEL:Gab es Alternativen zum Ver-
kauf der ehemaligen DDR-Betriebe?
Wirsching:Seinerzeit habe ich keine ge-
sehen, auch wegen des maroden Zustands
der DDR, was Infrastruktur und Betriebe
anging. Mit der Währungsunion mussten
die ostdeutschen Unternehmen auf dem
Weltmarkt konkurrieren, und unter Welt-
marktbedingungen war der Schrumpfungs-
kurs wohl unvermeidlich. Heute frage ich
mich, ob man tatsächlich alles der Ökono-
mie hätte unterordnen müssen.
SPIEGEL:Zum Beispiel?
Wirsching:Die Treuhandanstalt sollte die
Betriebe verkaufen, sie sollte keine Struk-
turpolitik betreiben. Erst Ende 1992 gab
es von Kanzler Kohl den Auftrag, »indus-
trielle Kerne« aufrechtzuerhalten, etwa im
Chemiedreieck um Bitterfeld, dazu die
Stahlindustrie in Brandenburg und die
Werften an der Ostseeküste.
SPIEGEL:Das war zu spät?
Wirsching:Für viele ehemalige DDR-
Bürger gewiss. Die Treuhand hat etwa
250 Milliarden Mark Verlust gemacht, da
ist die Frage erlaubt, ob man zum Beispiel
über Holdings oder Übergangsgesellschaf-
ten einen anderen Weg hätte beschreiten
und den Mitarbeitern den Eindruck vermit-
teln können, sie würden noch gebraucht.
Das wäre weniger ein ökonomischer als ein
sozialpolitisch-kultureller Ansatz gewesen.


SPIEGEL:Hat die deutsche Regierung da
eine Chance verpasst?
Wirsching:Viele Menschen in Ostdeutsch-
land haben den Eindruck, sie seien um die
Anerkennung ihrer Lebensleistung ge-
bracht worden. Das ist eine Identitäts- und
Befindlichkeitsfrage – und das Narrativ,
um das es heute vielfach geht.
SPIEGEL:Haben Sie eine Erklärung, wa-
rum die Treuhanddebatte in diesem Som-
mer entflammt ist, wo doch die Betroffe-
nen oft schon im Rentenalter sind?
Wirsching:Zunächst einmal spielen Poli-
tiker das Thema im Hinblick auf die Land-
tagswahlen. Aber es ist auch eher ein kul-
turelles Phänomen als ein ökonomisches.
Die Primärerfahrung derer, die ihre Jobs
verloren haben, die umschulen mussten,
in Frührente geschickt wurden, hat sich in
eine Art kollektives Gedächtnis einge-

brannt. Auch Jüngere, die in ihrem Ort ge-
blieben sind und es nun mit teilweise ver-
ödeten Landschaften zu tun haben, fühlen
sich betroffen. Das ist der Wurzelboden
für die freilich allzu flache Erzählung, der
Westen habe den Osten plattgemacht.
SPIEGEL:Hatten die DDR-Bürger das
Pech, zur falschen Zeit auf die Straße ge-
gangen zu sein? Die friedliche Revolution
fand in dem Moment statt, als der Westen
die Idee des fürsorgenden Staats aufgab.
Wirsching:Diese Koinzidenz gibt es. Da
treffen zwei Entwicklungen relativ kalt
aufeinander. Die Revolution von 1989 fand
exakt zu einem Zeitpunkt statt, als im
Westen das neoliberale Paradigma auf den
Höhepunkt seines Einflusses zusteuerte.
Allerdings ist das nicht nur ein West-Ost-

* Mit den Redakteuren Klaus Wiegrefe und Alfred
Weinzierl in Berlin.

Thema gewesen, es ist auch ein
Ost-Ost-Thema, denken Sie an die
ehemaligen DDR-Bürger, die ihr
Glück im Westen gesucht haben.
Aber auch in Ostdeutschland selbst
empfinden sich längst nicht alle als
Opfer der Wiedervereinigung.
SPIEGEL:Was hätte die DDR-Bür-
ger angesichts ihrer gebrochenen
Erwerbsbiografien mit dem Wes-
ten versöhnen können?
Wirsching:Ich bin nicht sicher, ob
alle Anstrengungen unternommen
wurden, jüngere Ostdeutsche, die
nicht unter Ideologieverdacht stan-
den, in höhere Positionen zu bringen. Das
andere Problem ist die Arbeitslosigkeit als
solche: Der Betrieb hat in der DDR nicht
nur die Erwerbstätigkeit garantiert und das
Auskommen, er war auch meist der Le-
bensmittelpunkt. Das war ein integriertes
System an sozialen Funktionen, von der
Kita bis zum Sportverein oder Betriebsfest.
SPIEGEL:Das hat der Staat so organisiert,
um die Bürger zu domestizieren.
Wirsching:Natürlich war das System eine
Diktatur, in der die Bürger kontrolliert
wurden. Dennoch: Für nicht wenige Men-
schen war es eine gravierende Verlust -
erfahrung, als die Betriebe dichtmachten.
SPIEGEL:Wahr ist aber auch: Neue Unter-
nehmen und Arbeitsplätze entstanden, et-
liche Betriebe haben den Sprung in die
Marktwirtschaft geschafft.
Wirsching:Selbstverständlich, es gibt eine
Fülle ostdeutscher Erfolgsgeschichten. Al-
lerdings wurden die Erwartungen zu hoch
geschraubt, nach dem Motto, es werde so
etwas geben wie ein zweites erhardsches
Wirtschaftswunder. Das führte zu Enttäu-
schungen, zumal es in den frühen Neunzi-
gerjahren auch Anmaßungen und empa-
thielose Investoren gab.
SPIEGEL:1998 wurde Kohl abgewählt, mit
Gerhard Schröder führte nun ein Sozial-
demokrat das Land. Wieso setzte sich der
Trend des Neoliberalismus fort, spitzte
sich mit der Agenda-Politik gar zu?
Wirsching:Er entsprach dem Zeitgeist,
auch international. Die Globalisierung war
kein Naturereignis, sie ist ein politisches Pro-
jekt des Westens. Die Europäische Union
hatte das Ziel ausgegeben, Europa fit zu ma-
chen für die globalisierte Weltwirtschaft.
Unter dem Stichwort »Wissensgesellschaft«
gibt es im Jahr 2000 die Idee, Europa zum
stärksten wissensbasierten Wirtschaftsraum
der Welt zu machen. Das fußte auf zwei
neoliberalen Säulen: möglichst viel Markt
auch in den Bereichen staatlicher Daseins-
fürsorge; und die Bereitschaft des Einzelnen,
sich lebenslang fortzubilden, um seine Be -
schäftigungsfähig keit dauerhaft zu sichern.
SPIEGEL:Ist es nicht auch Selbstverwirk-
lichung, ein Leben lang lernen zu dürfen?
Wirsching:Das kann man emanzipativ
lesen, völlig klar. Bis hin zur berühmten

38 DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019


HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL
Wirsching beim SPIEGEL-Gespräch*
»Die Globalisierung ist ein politisches Projekt des Westens«

»Die SPD hat Schwierig-


keiten, sich auf die


Lebenspraxis der breiten


Schichten einzulassen.«

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