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Die Kraft der Sprache
LeitartikelRassistische Reflexe sind menschlich. Enscheidend ist der Umgang damit.
W
er gehört dazu, wer nicht? Das ist eine ewige
Frage der Menschheit, die früher oft mit
Gewalt geklärt wurde, heute eher mit Gesetzen
und Worten, aber manchmal auch noch mit
Gewalt. Und ganz oft mit den falschen Worten, mit Aus-
grenzung und Rassismus, mit Heuchelei, politischem
Missbrauch. Kaum ein anderes Debattenfeld ist so verkom-
men wie dieses.
Eine Erregung folgt der nächsten. Kein Schweinefleisch
für Kitas? Späterer Schulbeginn für Kinder mit mangel -
haften Deutschkenntnissen? Und zeugen Afrikaner viel
Nachwuchs, weil es in Afrika zu
wenig Kraftwerke gibt, die Näch-
te also lang und dunkel sind?
All das spielte in diesen Sommer-
wochen eine Rolle. Dazu immer
wieder fremdenfeindliche und
rassistische Ausfälle aus Kreisen
der AfD. Eine ernsthafte Debatte
ist in diesen Wortgewittern kaum
möglich.
Es wäre ein romantisches Ideal,
könnte man sagen: Alle gehören
dazu. Aber so ist der Mensch
nicht. Er bildet Gruppen und
grenzt sich ab von anderen Grup-
pen, früher vor allem aus einem
Bedürfnis nach Sicherheit. Man
definiert das Eigene und das An-
dere, die Eigenen und die Ande-
ren. Meine Familie, deine Familie,
meine Horde, deine Horde, meine
Siedlung, deine Siedlung. Über
Stämme und Städte entwickelten
sich so Reiche und Nationalstaa-
ten. Dort ist die Entwicklung erst
einmal stehen geblieben, leider. Eine europäische Identität
oder gar eine globale Gesellschaft sind eher Wunschträume
als politische Realitäten. Mit dem, was die Nationalstaaten
mit ihren Gesetzen und Debatten zum Eigenen und zum
Anderen erklären, muss man auf absehbare Zeit umgehen.
Was wäre dabei vernünftig?
Es ist kein Zufall, dass es bei vielen dieser Erregungen
um Kinder geht, bei Sicherheitsfragen auch um Frauen.
Hier kommen Schutzbedürfnisse hoch, nichts macht uns
so verletzlich wie die eigenen Kinder, und diese Verletz-
lichkeit macht uns ehrlich. Vielen fällt es leicht, für die
offene Gesellschaft zu plädieren und das Leben in einem
gemischten Kiez wie Berlin-Kreuzberg cool zu finden.
Aber wenn die eigenen Kinder eine Grundschule mit
hohem Migrantenanteil besuchen müssten, ziehen manche
Eltern lieber einen anderen Bezirk oder eine Privatschule
in Betracht.
Das ist einerseits verständlich. Die Sprache ist der
Kern des Eigenen in Nationalstaaten. Sie schafft die Grund-
lage für Zusammengehörigkeit. Zudem werden über
die Beherrschung der Landessprache Lebenschancen ver-
teilt. Und für die Kinder will man nur das Beste.
Für die eigenen, klar. Aber was ist mit den anderen?
Für eine gute Debatte in dieser Sache sind zwei Schritte
notwendig. Der erste ist, sich von der Romantik zu ver -
abschieden und zu akzeptieren, dass es im menschlichen
Dasein das Eigene und das Andere gibt. Und das zu emp -
finden oder darüber zu reden ist nicht automatisch Rassis-
mus oder Ausgrenzung. Es
kommt allerdings sehr darauf an,
wie man darüber redet.
Wer noch nie einen rassisti-
schen Reflex hatte, der ist am Ziel.
So soll es sein. Wem es passiert
ist, weil er zum Beispiel mit dem
Wort »Neger« oder fremdenfeind-
lichen Stereotypen aufgewachsen
ist, wie viele der Älteren, der
ist kein Unhold, hat jedoch die
Pflicht, dagegen anzuarbeiten.
Ich bin kein Rassist, ist ein
gewagter Satz. Besser: Ich will
auf keinen Fall einer sein. Das
macht einen wachsamer. Dum-
mes, aggressives Gerede ist selbst-
verständlich unentschuldbar.
Der zweite Schritt: Die Sphä-
ren des Eigenen und des Anderen
dürfen nicht streng getrennt sein.
Es muss faire Chancen geben,
nach Deutschland einwandern zu
können. Und Migranten, die ein
Bleiberecht haben, sollten von
der Mehrheitsgesellschaft als Eigene anerkannt werden, egal
wo sie herkommen, welche Hautfarbe sie haben, welchen
Gott sie anbeten. Sind sie legal da, gehören sie zu Deutsch-
land, auch wenn der Status noch nicht dauerhaft geklärt ist.
Es zählt nicht nur, was jemand gerade ist, sondern was er
werden kann, vor allem durch Sprachförderung. Nur das
Beste für die Kinder der ehemals Anderen, das muss ein
Leitsatz für Staat und Gesellschaft sein. Warum nicht zwei,
drei Lehrer vor eine Klasse stellen, um alle Schüler mitneh-
men zu können? Der Reiz von Privatschulen ließe nach.
Jeder soll leben, wie er will, das bleibt ein wichtiger
Grundsatz einer liberalen Gesellschaft. Aber sie erwartet
zu Recht, dass auch Migranten die liberalen Werte im öf-
fentlichen Leben mittragen. Sie darf auch erwarten, dass
man ihr ein Zeichen gibt, dazugehören zu wollen, über das
Erlernen der deutschen Sprache vor allem. Schon damit
man vernünftig miteinander reden kann. Dirk Kurbjuweit
WOLFRAM KASTL / DPA
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DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019