er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1

Staat Washington ein Gesetz, das unsere
finanzielle Gesundheit gefährdet und das
ziemlich einmalig ist in den USA«.
Das Volk hört zu und erfährt, dass nur
acht Prozent seiner Immobiliensteuern in
ihrem Städtchen verbleiben, der Großteil
geht an den Landkreis und an den Bun-
desstaat Washington, womit vor allem
Schulen finanziert werden. Und dass die
Gemeinden im Staat Washington seit vie-
len Jahren ihre Einkünfte aus Wohneigen -
tumsteuern jährlich nur um ein Prozent
erhöhen dürfen – andernfalls müssen sie
abstimmen lassen.
Im laufenden Jahr, rechnet Sauerwein
vor, wird Medina nur 2,8 Millionen Dollar
an Immobiliensteuern einnehmen. Die
Stadtverwaltung könnte also 2020 ihre
Einkünfte um lediglich 28 000 Dollar er-
höhen. »Allein die Ausgaben für die Feuer -
wehr sind 2019 um fast das Doppelte die-
ses Betrags gestiegen«, klagt Sauerwein.
Der Staat Washington erhebt wie eine
Handvoll weiterer US-Staaten keinerlei
Einkommensteuer. Washington hält das,
wohl nicht ganz zu Unrecht, für einen
Wettbewerbsvorteil, wenn es darum geht,
Topverdiener und Unternehmen anzu -
locken. Zwar ist in Washington dafür
die Umsatzsteuer vergleichsweise hoch,


doch davon hat ein Schlaf- und Wohnstädt-
chen wie Medina wenig, da hier kaum
Gewerbe betrieben wird. Die USA insge-
samt verlangen weit geringere Abgaben
von ihren Bewohnern als die allermeisten
anderen OECD-Staaten. Das Verhältnis
von Steuerlast zu Bruttoinlandsprodukt
ist mit 27 Prozent nur gut halb so hoch
wie in Frankreich (46 Prozent). Und die
Trump-Regierung hat in den vergangenen
Jahren weitere Steuersenkungen erlassen,
die vor allem den Reichen zugutekommen.
In Medina, sagt Michael Sauerwein sei-
nen Zuhörern, gebe es deshalb zwei Mög-
lichkeiten, um dem Finanzengpass zu ent-
kommen: Ausgaben kürzen oder eben die
Einnahmen steigern.
Für Letzteres müssten die Bürger im
Herbst einer freiwilligen Abgabenerhö-
hung zustimmen, um bescheidene 20 Cent
pro 1000 Dollar Immobilienwert. Für ein
Haus im Wert von zwei Millionen Dollar
»würde das im nächsten Jahr einen Mehr-
betrag von 400 Dollar oder 34 Dollar
pro Monat ausmachen«, sagt Sauerwein.
34 Dollar: So viel kostet eine vernünftige
Flasche Wein im Medina Grocery & Deli.
Eine ältere Dame fragt: »Unser neuer
Nachbar hat 7,3 Millionen für sein Haus
bezahlt. Wir haben unser Haus vor 45 Jah-

ren für 75 000 Dollar gekauft. Wir bezahl-
ten damals etwa 800 Dollar im Jahr an
Immobiliensteuern, heute sind es über
20 000 Dollar. Und du sagst, Michael,
Medina hat von dieser enormen Erhöhung
gar nichts abgekriegt?«
Doch, hat es. Aber eben nur ein paar
Krumen. Sauerwein muss viel rechnen an
diesem Abend. Immer wieder erklärt er,
dass man die Zahlen auseinandernehmen
muss wie eine russische Matroschka, bis
man zum Figürchen kommt, das für ihn
übrig bleibt und das nicht wachsen darf.
Sauerwein weiß, dass nicht jeder in Me -
dina reich ist, und die, die heute herge-
kommen sind, wohnen vermutlich nicht
an der Evergreen Point Road, wo die
schloss artigen Megavillen mit Seezugang
liegen. Dahinter werden die Häuser und
die Haushaltsbudgets rasch kleiner, durch-
schnittlicher, unterdurchschnittlich. 400
Dollar mehr oder weniger pro Jahr bedeu-
ten dort mehr als ein gutes Trinkgeld. Viele
wohnen schon seit Jahrzehnten hier und
haben den Tech- und sonstigen Millionä-
ren, die sich an den Prachtadressen ein-
kauften, beim Einziehen und beim Steuer -
sparen zugesehen.
Die zweite Möglichkeit, laut Sauerwein:
Ausgaben senken. Logisch. Man könnte

DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019 67


DANIEL BERMAN / DER SPIEGEL
Privatgrundstücke in Medina am Ufer des Lake Washington: »Um Verbrechen geht es hier nicht so sehr«
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