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Wissenschaft
W
er den Hashtag #cryotherapy bei
Instagram eintippt, bekommt Bil-
der zu sehen, auf denen Menschen
in Tonnen stecken. Nur Köpfe schauen he-
raus, Nebelschwaden wabern. Die Leute lä-
cheln glücklich – obwohl lebensfeindliche
Kälte sie umweht: ein Thermometer zeigt
minus 125 Grad Celsius an.
Die Frostkur dauert etwa drei Minuten
und ist bei Profisportlern und Promis be-
liebt. Lindsay Lohan veröffentlichte auf
Instagram ein Foto, wie sie im Bikini aus
der Kältekammer kommt. Von Jennifer
Aniston und Daniel Craig wird berichtet,
dass sie ihren Körper auf diese Weise stäh-
len. Und nach dem knappen Sieg gegen Al-
gerien im WM-Achtelfinale 2014 war dem
Fußballnationalspieler Per Mertesacker die
Spielanalyse »völlig wurscht« – er kündigte
an, sich erst mal »drei Tage in die Eistonne«
zu legen.
Die »Ganzkörper-Kryotherapie« wurde
Ende der Siebzigerjahre in Japan erfunden,
um die Beschwerden von Menschen mit Ar-
thritis zu lindern. Heute haben Kryosaunen
in Hamburg, Berlin, München oder Wies-
baden für jedermann geöffnet und locken
mit allerlei Versprechen: Das Saunieren in
der Kälte soll beim Abnehmen helfen, das
Immunsystem stärken, gegen Stress wirken,
das Wohlbefinden steigern, das Hautbild
verschönern, das Altern bremsen und gute
Laune machen. Manche Anbieter verheißen
gar eine »Potenz- und Libido-Steigerung«.
Wer in das Frostfass steigt, ist mit Bikini,
Badehose oder Unterwäsche bekleidet und
muss teilweise einige Stellen des Körpers
schützen. Flüssiger Stickstoff kühlt die Ton-
ne. Üblich sind minus 110 Grad Celsius,
ein Tonnengang kostet um die 50 Euro.
In Krankenhäusern werden Kältekam-
mern (die allerdings mit Eisluft und nicht
direkt mit Stickstoff gekühlt sind) schon län-
ger eingesetzt: für Menschen mit Rheuma.
»Wir beobachten, dass Kälte die Schmerzen
bei den meisten Patienten kurzfristig lin-
dert«, sagt Andreas Michalsen, Arzt für Na-
turheilkunde am Immanuel Krankenhaus
Berlin. Heilen lasse sich das Rheuma so al-
lerdings nicht, aber die Behandlung schaffe
Zeit, um mit Physiotherapie zu arbeiten.
Auch Menschen mit anderen chronischen
Schmerzkrankheiten oder mit Schuppen-
flechte würden versuchsweise mit Kälte be-
handelt, sagt Michalsen. »Bei Neurodermi-
tis sind wir vorsichtig, sie kann sich dadurch
verschlimmern.« Der Arzt sieht mit Befrem-
den, wie die Kryotherapie gerade zu einem
Trend wird: »Versprechen werden oft über-
trieben, die Betreuung dagegen reduziert.«
Die Studienlage ist dürftig. Die wenigen
Untersuchungen, die es gibt, sind eher
klein und methodisch mangelhaft. Mög -
liche Nebenwirkungen werden nicht aus-
reichend erfasst. Und keine der Verheißun-
gen ist wissenschaftlich bewiesen. So soll
die Frosttonne Muskelkater lindern und
die Leistung steigern. Routinemäßig nut-
zen Sportler Kältekammern, um nach ei-
nem Spiel oder einer Verletzung schneller
wieder fit zu sein.
Wissenschaftler des internationalen
Netzwerks Cochrane suchten bereits 2015
nach belastbaren Studien zur Wirkung der
Kryotherapie. Sie fanden vier Publikatio-
nen, die sich überwiegend auf junge Män-
ner bezogen. Ihr Fazit: Belege, dass Kälte
Sportlern nutzt, seien »unzureichend«.
Eine neuere Übersicht ergab eine unklare
Lage. Mal zeigte sich ein Effekt, mal nicht.
Ähnlich unbefriedigend ist die Studien -
lage bei rheumatischen Erkrankungen.
Wie ließe sich eine heilsame Wirkung
überhaupt erklären? Zum einen werden
die Hautnerven durch die Extremkälte wo-
möglich so gereizt und stimuliert, dass
man kaum etwas anderes spüren kann,
nicht einmal Schmerz. »Wie wenn ich
mich stark zwicke – der Reiz überlagert
alles«, sagt Michalsen. Zum anderen könn-
* Bei minus 210 Grad Fahrenheit, rund minus 100 Grad
Celsius.
te der Frostschock entzündungshemmen-
de und schmerzstillende Vorgänge im Kör-
per fördern. Möglicherweise wirkt er zu-
sätzlich wie ein Placebo, das den Schmerz
überwinden hilft und Euphorie auslöst.
Der Kälteschock kann aber auch scha-
den. Die US-Aufsichtsbehörde FDA wies
bereits 2016 darauf hin, dass flüssiger Stick-
stoff zu Erfrierungen führen kann. Und
vor einiger Zeit starb die 24-jährige Mit-
arbeiterin eines Zentrums für Kryothera-
pie im US-Bundesstaat Nevada. Sie war
nach Dienstschluss offenbar noch allein in
eine Kältekammer gegangen und erstickt.
In Deutschland ist die Kryotherapie
nicht sonderlich streng geregelt. Kälteton-
nen müssen nicht einmal als Medizin -
produkt zertifiziert sein. Dabei würde
Anna Weißbeck, 22, Inhaberin einer Käl-
tesauna in Hamburg, das durchaus befür-
worten. »Es gibt viele Billigkabinen auf
dem Markt«, sagt sie, »die unter Sicher-
heitsaspekten nicht vertretbar sind.« Sie
hat sich für ein geprüftes Kältesaunamodell
entschieden. Stickstoffdampf wird abge-
saugt; Sensoren warnen, wenn der Sauer-
stoffgehalt im Raum bedrohlich sinkt.
Nicht jeder Kunde darf in die Tonne;
das gehört zu Weißbecks Vorsichtsmaß-
nahmen. Wer einen hohen Blutdruck hat,
sollte darauf verzichten; auch Herzproble-
me und Lungenerkrankungen sprechen ge-
gen die Frostkur.
»Bei Wundheilungs- oder Durchblutungs-
störungen sollte man ebenfalls vorsichtig
sein«, sagt Michalsen. Selbst Gesunde, die
das Bibberbad als vergnügliche »Lifestyle-
Anwendung« betrieben, sollten Maß halten
und »den Körper nicht durch zu häufige
Kältekicks überfordern«. Lea Wolz
Chillen im
Fass
GesundheitFit, schlank, schön
bei minus 110 Grad? Kältesaunen
werden beliebter, doch ihr
medizinischer Nutzen ist ungewiss
- der Frost kann sogar schaden.
BACKGRID / BESTIMAGE
Schauspieler Hugh Jackman in Kältekammer*: Placebo für Euphorie