Der Spiegel - 17. August 2019

(Ron) #1

E


in Mythos gerät ins Wanken. Über
Jahre war die schwarze Null, also
ein Bundeshaushalt ohne neue
Schulden, eherner Fixpunkt deut-
scher Finanzpolitik. Nach mehr als vier
Jahrzehnten chronischer Kreditfinanzie-
rung stand sie für die Abkehr vom Schul-
denstaat und wurde zum Symbol soliden
politischen Wirkens.
Jetzt steht sie zur Disposition, wegen
teurer politischer Vorhaben und weil eine
Rezession droht. Noch hält die Bundes -
regierung fest am ausgeglichenen Haushalt.
Zu Wochenbeginn ließ Kanzlerin Angela
Merkel (CDU) verkünden, sie strebe auch
weiterhin einen Bundesetat ohne neue
Schulden an.
Ihr Vizekanzler, Finanzminister Olaf
Scholz (SPD), beeilte sich, ihr beizupflich-
ten. Abbau des Solidaritätszuschlags, neue
Investitionen fürs Klima, Wirtschaftsflau-
te? Egal. »Wir können die Aufgaben, die
wir stemmen, ohne neue Schulden leis-
ten«, sagte Scholz.
Das Bekenntnis der beiden höchsten Re-
gierungsmitglieder zur schwarzen Null ist
keineswegs selbstverständlich. Das Ziel,
auch künftig ohne neue Kredite auszukom-
men, ist in den zurückliegenden Wochen
unter Druck geraten, gerade in der SPD.
Viele Genossen, die sich um den Partei-
vorsitz bewerben, wollen von der schwar-
zen Null nichts mehr wissen, die Vorgaben
der im Grundgesetz verankerten Schulden-
bremse betrachten etliche als Hindernis
für ihren Gestaltungswillen.
Breite Unterstützung bekommen die fi-
nanzpolitischen Lockerungsübungen aus
der Ökonomenzunft. Schon seit Monaten
fordern Wirtschaftswissenschaftler unter-
schiedlicher Glaubensrichtungen, etwa
DIW-Chef Marcel Fratzscher oder Michael
Hüther vom arbeitgebernahen Institut der
deutschen Wirtschaft, wieder mehr Kredi-
te aufzunehmen. Die Maßgabe der Schul-
denbremse, die dem Bund eine konjunk-
turbereinigte Neuverschuldung von höchs-
tens 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung
erlaubt, also rund zwölf Milliarden Euro,
erscheint ihnen zunehmend als Korsett,
die schwarze Null als Fetisch.
Ihre Argumentation: In einer Zeit, in
der der Staat noch Geld bekommt, wenn
er Schulden aufnimmt, solle die Politik or-
dentlich in den Dispo gehen, um Investi-


tionen anzuschieben. Die finanzierten sich
bei Minuszinsen quasi von selbst, weil sie
über höheres Wachstum eine ordentliche
Rendite abwerfen. Da ist etwas dran, doch
drohen auch Gefahren: Wer garantiert,
dass sich die Regierungen nur für Investi-
tionen Geld leihen und nicht für soziale
Wohltaten? Und wer, dass die Zinsen ewig
niedrig bleiben?
Dennoch, die Rufe, die schwarze Null
endlich wieder rot zu färben, dürften bald
noch lauter werden. Die Kosten, die der
Abbau des Soli für mehr als 90 Prozent
der Steuerzahler ab 2021 verursacht, sind
mit jährlich rund zehn Milliarden Euro
zwar in der Finanzplanung berücksichtigt,
doch nach fast zehnjährigem Aufschwung
steht Deutschland an der Schwelle zur
Rezession.

Selbst Vertreter der Wirtschaft, zuletzt
der Industrieverband BDI, fordern die
Politik auf, sich endlich von der selbst auf-
erlegten Fessel zu befreien, um die Wirt-
schaft anzuschieben. Dabei waren es nicht
zuletzt die Wirtschaft und ihre Verbände,
die die Politik früher zu Haushaltsdisziplin
und Sparsamkeit aufgerufen hatten.
Angesichts des Drucks von allen Seiten
muten die Aussagen des Spitzenduos Mer-
kel und Scholz an wie ein Machtwort. Zu-
mindest dem Finanzminister dürfte das
nicht leichtgefallen sein, und das nicht nur,
weil der Glaube an die Sinnhaftigkeit von
Schuldenbremse und schwarzer Null in der
SPD schwindet. Auch im Bundesfinanzmi-
nisterium (BMF) gibt es eine einflussreiche
Fraktion, die es für unmöglich hält, all die
anspruchsvollen Wünsche und Vorhaben,
die die Ressorts für den Klimaschutz an-
gemeldet haben, ohne frische Kredite zu
finanzieren. Die Wünsche summieren sich
bis 2023 auf rund 32 Milliarden Euro.
Insgesamt 66 Maßnahmen reichten die
sechs zuständigen Ressorts ein. Darunter fin-
den sich beispielsweise 50 Millionen Euro
für die Zentralafrikanische Waldinitiative

genauso wie ein Programm für eine bessere
Material- und Ressourceneffizienz in der In-
dustrie (110 Millionen Euro) oder ein Infra-
strukturprogramm für Radwege von rund
einer Milliarde Euro. Das Problem: Für all
diese Vorschläge fehlt bislang das Geld.
Allenfalls zwischen 5 und 15 Milliarden
Euro für neue Klimaschutzmaßnahmen
bis 2023 seien mit dem Ziel eines ausgegli-
chenen Haushalts vereinbar, rechneten sei-
ne Beamten Scholz vor. Und auch nur
dann, wenn zusätzliches Geld in die Kas-
sen komme. Insofern bedeuten Merkels
und Scholz’ Bekenntnisse zur schwarzen
Null zugleich, das Klimaschutzprogramm
von der Luxus- auf die Schmalspurvarian-
te einzudampfen.
Die erforderlichen Mittel für die kleine
Lösung könnte Scholz mobilisieren, indem
er im Etat umschichtet oder einspart, vor
allem aber durch eine neue Abgabe auf
den Kohlendioxidausstoß, auf die sich
Union und SPD bis zum 20. September
einigen wollen. CDU und CSU favorisie-
ren eine Lösung, bei der Rechte für den
Ausstoß von Kohlendioxid versteigert wer-
den. Die Sozialdemokraten bevorzugen
eine Steuer auf jede Tonne des ausgesto-
ßenen Treibhausgases.
So oder so: Das Geld soll in den beste-
henden Energie- und Klimafonds fließen,
aus dem die Maßnahmen finanziert wer-
den. Ende 2019 wird er einen Kontostand
von rund sieben Milliarden Euro aufweisen,
was zumindest fürs nächste Jahr reichen
dürfte, um die schwarze Null zu halten.
Daran liegt vor allem der Kanzlerin. Ihr
Anhang ist notorisch unzufrieden damit,
wie wenig die Union im Koalitionsvertrag
durchsetzen konnte. Zwei Erfolge immer-
hin reklamiert sie für sich. Zum einen den
Verzicht auf Steuererhöhungen, zum an-
deren die dort vereinbarte schwarze Null.
Die erste Zusage könnte durch die neue
Klimapolitik schon bald ausgehöhlt werden.
Gleichgültig, wie Kohlendioxid künftig be-
preist wird, es läuft auf eine zusätzliche
Belastung von Bürgern und Wirtschaft hi-
naus. Deshalb kann Merkel unmöglich
auch noch das zweite Ziel opfern.
»Die schwarze Null ist eine Errungen-
schaft, die wir nicht leichtfertig aufgeben
dürfen«, sagt Andreas Jung, Fraktionsvize
von CDU und CSU im Bundestag. Er ist
zuständig für Haushalt und Finanzen und

54 DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019


Wirtschaft

Rot durch Nichtstun


FinanzpolitikNoch halten Kanzlerin Merkel und Finanzminister Scholz eisern an einem


ausgeglichenen Haushalt fest – obwohl sie Milliarden für Klimaschutz und Steuersenkungen
ausgeben wollen. Doch wenn die Konjunktur weiter einbricht, wird die schwarze Null fallen.

Angesichts der
Wirtschaftsflaute sei
nicht mit Mehrein -
nahmen zu rechnen.
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