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Ausland
Auslöser Ausgang
2012 Patriotismus-Unterricht
an Schulen
Plan von
Regierung
zurückgezogen
2007 Demonstration für ein
allgemeines Wahlrecht
bis heute nicht
eingeführt
2014 »Regenschirm«- und
»Occupy Central«-Bewe-
gung fordern freie Wahlen.
bis heute nicht
eingeführt
2019 Auslieferungsgesetz Gesetzentwurf
ausgesetzt
2003 Sicherheitsgesetz: u.a.
Einschränkung der Presse-
und Meinungsfreiheit
Gesetzentwurf
zurückgezogen
HONGKONG
Große Proteste in Hongkong seit 1997
Bay Sports Center
chinesische Truppentransporter
Flughafen
zeitweise geschlossen
20 km
SHENZHEN
CHINA
Peking
Karten-
ausschnitt
Gandhi, Martin Luther King und Nelson
Mandela. »Wir glauben nach wie vor an
den gewaltlosen Widerstand«, sagt er.
Die Bewegung müsse den Einfluss der ge-
waltbereiten »Randelemente« zurückdrän-
gen, im Interesse der jungen Radikalen
selbst – und dem des übergeordneten Ziels.
Wong, Mitglied der Menschenrechts -
organisation Civil Human Rights Front,
zählt zu den Organisatoren der jüngsten
Proteste und sagt: »Wir brauchen beide,
die Friedlichen und die Radikalen.«
Die Bewegung von 2019 habe ihre Leh-
ren aus dem Scheitern von 2014 gezogen,
sie sei führungslos und dezentral, beweg-
licher und innovativer. »Wir stimmen un-
sere Positionen in anonymen Onlineforen
ab«, sagt er. »Es zählt, wie viele ›likes‹ ein
einzelner Vorschlag erhält, nicht der Name
des Mitglieds.« Auch technisch seien die
Demonstranten von heute ihren Vorgän-
gern von 2014 überlegen – sie kommuni-
zieren mit wechselnden, immer neuen
Apps, warnen sich gegenseitig vor Polizei-
aktionen und drohenden Übergriffen.
»Wir machen Fehler, aber wir lernen« –
etwa, indem die Protestierenden am Mitt-
woch beschlossen, sich nach der Besetzung
des Flughafens öffentlichkeitswirksam bei
Mitarbeitern und Reisenden für die Behin-
derungen zu entschuldigen.
Exakt steuern freilich könne man die
Bewegung mit diesen Mitteln nicht, räumt
Wong ein. Das Prinzip Schwarmintel -
ligenz bedeutet, dass die Zahl der mög -
lichen Entscheidungen so groß ist wie die
der Mitglieder in der jeweiligen Chatgrup-
pe – mit den entsprechenden Folgen.
Avery Ng sieht in dieser Struktur eine
Gefahr, zumal die Mehrheit der Demons-
tranten sehr jung sei und seiner Einschät-
zung nach das Risiko gewaltbereiter Ak-
tionen unterschätze. Ng wurde kurz nach
Beginn der jüngsten Protestbewegung für
mehrere Wochen inhaftiert und erlebte
deren Höhepunkte im Gefängnis. Dort
habe er den Studentenführer Joshua Wong
getroffen, die Ikone der Regenschirmbe-
wegung von 2014. Staunend und zur Un-
tätigkeit verurteilt hätten sie zusammen
die Ereignisse im Fernsehen verfolgt – Ng
selbst zunehmend besorgt, je mehr »un -
sichere Techniken« und »inkohärente Stra-
tegien« er wahrgenommen habe.
Selbst Edward Leung, der zu einer
sechsjährigen Haftstrafe verurteilte Be-
gründer der radikalen Unabhängigkeits -
bewegung, rief vor gut zwei Wochen zur
Besonnenheit auf. Sein Motto war in den
vergangenen Wochen zum Kampfruf der
jungen Demonstranten avanciert: »Befreit
Hongkong. Die Revolution unserer Zeit.«
In seinem offenen Brief aus dem Gefängnis
plädiert Leung für Zurückhaltung: »Lasst
euch nicht von Hass dominieren. In Zeiten
der Krise muss man wachsam sein und
nachdenken.«
dass die Kundgebung friedlich endet und
ein deutliches Signal an die Regierungen
in Hongkong und Peking sendet: Die
Mehrheit steht nach wie vor hinter den
Forderungen der Opposition. Und sie ist
nicht gewaltbereit.
Für Peking wäre eine solche Botschaft
deutlich schwieriger zu kontern als die
Ausschreitungen in den vergangenen Ta-
gen. Besonders schädlich für das Image
der Protestierenden war, dass einige von
ihnen am Dienstag am Flughafen einen
vermeintlichen Spion verprügelten, der
sich dann als Journalist der chinesischen
Regierungszeitung »Global Times« ent-
puppte. Bereits davor hatten die Bilder ei-
nes Angriffs auf die chinesische Vertretung
in Hongkong auf dem Festland für große
Empörung gesorgt.
Um eine militärische Intervention in
Hongkong zu rechtfertigen, braucht die
Führung auch ihrer eigenen Bevölkerung
gegenüber einen triftigen, augenfälligen
Vorwand. Dafür eignen sich Bilder zor -
niger Vermummter besser als die Hundert-
tausender still marschierender oder Kir-
chenlieder singender Demonstranten.
Ob China offen in Hongkong interve-
nieren wird, kann derzeit niemand sagen.
Der Hongkonger Willy Lam, 67, Zeitzeuge
des Tiananmen-Aufstands, Professor an
der Chinese University of Hong Kong und
einer der besten Chinakenner, hält einen
militärischen Einmarsch für unwahrschein-
lich. Er sagt: »Sie werden nicht den Weg
einer Besatzung wählen. Die Volksbefrei-
ungsarmee einzusetzen würde die USA zu
sehr herausfordern.«
Diese Einschätzung ist nicht als Entwar-
nung misszuverstehen. Lam sieht in Hong-
kong einen chinesischen Plan ablaufen,
der vor der jüngsten Protestbewegung be-
gann und sie lange überdauern wird. Pe-
king, sagt er, verfolge in Hongkong eine
ähnliche Strategie wie in den Autonomie-
gebieten Tibet und Xinjiang, nämlich eine
schleichende Integration, die sich auf vie-
len Ebenen abspiele – der politischen, der
wirtschaftlichen und der polizeilichen.
»Wir haben zum Beispiel starke Hinwei-
se darauf, dass Polizeibeamte der chinesi-
schen Nachbarprovinz Guangdong bereits
die Grenze überschritten und ihre Uniform
gewechselt haben.« Genau das werde auch
das Muster der Zukunft sein: polizeiliche
und geheimdienstliche Maßnahmen, die
Verhaftung Hunderter Demonstranten.
»Ab September, Oktober werden wir einen
immer festeren Zugriff sehen und einen
noch festeren in den kommenden Jahren.«
Schon heute übe Peking über sein Ver-
bindungsbüro in Hongkong starke Kontrol-
le über die örtliche Politik, die Medien, die
Polizei und Sicherheitsdienste aus. Die Pro-
testbewegung sei längst unterwandert, sagt
Lam: »Dass Polizisten sich als Demonstran-
ten getarnt haben, ist belegt.« Bei Geheim-
Das Verhältnis der Protestbewegung
zur Gewalt ist nicht endgültig geklärt. Die
Positionen reichen von strikter Gewalt -
losigkeit bis zur sogenannten Theorie der
marginalen Gewalt, die Provokationen der
Polizei zu einem gewissen Grad zulässt.
Einen »terroristischen« Ansatz, wie Pe-
kings Propaganda unterstellt, befürwortet
allerdings niemand auch nur im Ansatz.
Im Gegenteil, zwei Vorfälle der vergan-
genen Tage haben erneut das Lager der
Besonnenen gestärkt: Am Wochenende
war eine junge Frau am Rande einer De-
monstration von einem Geschoss getroffen
worden und hat offenbar ihr rechtes Auge
verloren. Gleichzeitig wurde ein Video
von der Festnahme eines Protestierenden
bekannt, der, stark aus dem Mund blutend
und um Hilfe bittend, noch minutenlang
brutal zu Boden gedrückt wurde.
»Solche Bilder«, sagt der Aktivist Wong
Yik-mo, »machen vielen Menschen Angst.
Sie brauchen jetzt eine friedliche Demons-
tration.« In diesem Punkt sind sich Wong
und Avery Ng einig.
Für Sonntag ist, nach Wochen der ver-
einzelten und oft in Straßenschlachten aus-
artenden Aktionen, wieder eine große De-
monstration wie zu Beginn der Bewegung
im Juni geplant, als Hunderttausende auf
die Straße gingen. Beide Aktivisten hoffen,