Die Zeit - 29.08.2019

(Amelia) #1

Jetzt ist er da!


Der große
Kirill Petrenko
gibt seinen Einstand
bei den Berliner
Philharmonikern
Feuilleton, Seite 39

PREIS DEUTSCHLAND 5,50 € 29. AUgUST 2019 No 36

Klimaschutz und Wohlstand sind


vereinbar. Das sagen führende


Forscher auf der ganzen Welt.


Der Preis dafür ist sogar überraschend


niedrig – man muss es nur wollen


WIRTSCHAFT

Was kostet

die Rettung

de r We lt?

Titelillustration: Davide Bonazzi für DIE ZEIT
Jetzt weltweit

runde Ecken


Die Waldorfschulen
werden 100
Chancen, Seite 61

Der Osten wählt


Wie Dresdens beste
Buchhändlerin zur
Sympathisantin der
Af D wurde
Dossier, Seite 11

Wenn die Vermieter
aus dem Westen
kommen Wirtschaft, S. 23

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DIE ZEIT


Nacktes Risiko


Das Vergnügen, nackt im Meer zu
baden, vermindert sich stark, wenn
man bei der Rückkehr feststellt,
dass geld und Klamotten geklaut
wurden. Weil dies an den Stränden
Barcelonas häufig vorkommt, ver‑
schenkt die Polizei Hilfspakete mit
T‑Shirt, Hose, Sandalen und ei‑
nem Fahrschein für die Metro.
Man kann natürlich auch beklei‑
det ins Wasser gehen und sich hin‑
terher ausziehen. Dann ärgert sich
der Dieb. GRN.

PROMINENT IGNORIERT

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36

I


mmer noch steigen Rauchsäulen über dem
Amazonas auf – ein Desaster für die im
Urwald lebende indigene Bevölkerung, für
das globale Klima und die Tiere in einem
der artenreichsten Biotope der Welt.
Aber es geht hier noch um etwas
anderes. Der Qualm der Brandrodungen, den
man aus dem All sehen kann, zeigt drastisch
das zentrale Dilemma der internationalen Poli‑
tik: Die Welt hat es mit Problemen zu tun, die
die Reichweite nationaler Souveränität über‑
steigen. Wenn der Regenwald am Amazonas
entscheidend für das Weltklima ist, kann keine
Regierung allein über ihn verfügen. Man
brauchte also dringend mehr Kooperation.
Und doch lebt derzeit überall in der Welt der
Nationalismus wieder auf.
Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro
verkörpert diesen geist auf besonders krasse
Weise. Als Beschöniger der Militärdiktatur, als
stolzer Homophober, als Freund der Agrarlobby
bietet er das ideale Feindbild für alle, denen an
Bürgerrechten und Umweltschutz gelegen ist.
Mit dem Regenwald, so sieht
er es, kann Brasilien machen,
was es will.
Der französische Präsident
Emmanuel Macron bezog als
gastgeber beim g 7 ‑Treffen
die gegenposition, indem er
den Urwald »unser gemein‑
gut« und die Brände eine
»globale Katastrophe« nannte.
Bolsonaro witterte darin eine
»koloniale Mentalität«. Und drehte dann doch
bei. Derselbe Mann, der die Feuer erst geleugnet,
dann dreist behauptet hatte, Umweltschützer
hätten sie gelegt, schickt nun das Militär in die
Region und gelobt, das auch nach brasilianischen
gesetzen illegale Brandroden zu verfolgen.
Zweifel sind angebracht, wie ernst er es meint.
20 Millionen Dollar Soforthilfe von den g 7 ‑
Staaten lehnte Bolsonaro ab. Trotzdem: Seine
Wende zeigt, dass Europa in der neuen Weltord‑
nung der rauen, lauten Männer sehr wohl mit‑
spielen kann. Es reicht nicht, die falsche Politik
der Autoritären nur zu rezensieren. Man muss
sich weder von der Macht der anderen noch von
der vermeintlichen eigenen Ohnmacht lähmen
lassen. Da geht mehr.
Dafür steht die zweite Initiative des französi‑
schen Präsidenten beim Treffen der mächtigsten

westlichen Staaten. Er ließ überraschend den
iranischen Außenminister einfliegen. Der US‑
Präsident schien überrumpelt, behauptete aber,
jederzeit informiert gewesen zu sein. Am Ende
war gar von einem möglichen Treffen Trumps
mit Präsident Ruhani die Rede und von Kredi‑
ten an den Iran, falls das Land sich als »guter
Spieler« zeige. Noch eine Wende.
Es stimmt: Bei Trumps notorischer Inkon‑
sistenz kann das alles morgen schon Makulatur
sein. Auch der iranische Präsident zeigte sich in
seiner ersten Reaktion zurückhaltend. Und
doch hat Macron mit einer Mischung aus
Schmeichelei und Frechheit den Raum für
diplomatische Lösungen in zwei großen Welt‑
konflikten geöffnet.
Der deutschen Bundesregierung kann das nur
recht sein. Warum bloß traut sie sich selbst nicht,
dergleichen zu tun? Sie wirkt merkwürdig ver‑
zagt, wenn es gilt, die europäische Macht zur Ret‑
tung des Regenwalds einzusetzen. Entscheidend
sind dabei die Drohungen europäischer Politiker,
das unterschriftsreife Freihandelsabkommen der
EU mit den Mercosur‑Staaten
(Argentinien, Brasilien, Para‑
guay und Uruguay) nicht zu
ratifizieren, solange »die brasi‑
lianische Regierung die Zer‑
störung der grünen Lunge des
Planeten erlaubt« (so Ratsprä‑
sident Donald Tusk).
Die Bundesregierung sieht
das als unzulässige »Politisie‑
rung« der Wirtschaft. Angela
Merkel will das Abkommen darum nicht infrage
stellen. Das ist ein Fehler: Das Handelsabkom‑
men von der Schonung der Urwälder abhängig
zu machen ist eben kein Missbrauch eines ver‑
meintlich unpolitischen Vertrags. Nachhaltig‑
keit und Klimaschutz sind ja bereits ein Kern
des Abkommens.
Die EU mag politisch und militärisch keine
großmacht sein. Aber als größter Binnenmarkt
verfügt sie über mehr Einfluss, als sie wahrhaben
will – durch Handelspolitik.
Diese Macht sollte sie ohne Scheu einsetzen –
gegen Trumps Erpressung, gegen Chinas Wett‑
bewerbsverzerrung, vor allem aber gegen die
Zerstörung der gemeinsamen Lebensgrundlagen
wie jetzt im Amazonas.

Da geht mehr!


Europa kann seine Macht zur Rettung des Regenwalds stärker
einsetzen. Präsident Macron hat es gerade vorgemacht VON JÖRG LAU

http://www.zeit.de/audio

BRASILIEN


  1. JAHRgANg C 7451 C


N


o


36


W


enn die politischen Vor‑
schläge, die ein Land dis‑
kutiert, etwas darüber aus‑
sagen, was die Menschen
bewegt, dann muss man
annehmen: Die Deutschen
verzweifeln gerade an der Marktwirtschaft. Das
geld, es macht einfach nicht, was es soll. Entweder
es vermehrt sich nicht mehr (die Zinsen), oder es
wird zu viel davon verlangt (die Mieten) oder
beides. Arbeitsplätze waren die soziale Frage der
2000er‑Jahre, die soziale Frage des aktuellen Jahr‑
zehnts sind Mieten und Zinsen. Und die Vor‑
schläge von links wie rechts zu diesen Themen
prasseln nur so herunter.
Das ist eine scheinbar schöne Abwechslung zur
jahrelangen wirtschaftspolitischen Ideen‑Dürre.
Und Ideen sind nötig, denn die Entwicklung der
Mieten und Zinsen bekümmert sogar Ökono‑
men. Fatal ist allerdings, dass die Vorschläge
furchtbar schlicht geraten sind. Die bekanntes‑
ten stammen vom bayerischen Ministerpräsiden‑
ten Markus Söder (CSU) und von der rot‑rot‑
grünen Landesregierung in Berlin. Söder will
Negativzinsen auf Sparkonten verbieten, also
den Banken untersagen, vom Spargeld ihrer
Kunden regelmäßig etwas abzuziehen, statt etwas
dazuzutun; einige Banken machen das schon.
Berlin hat gegen steigende Mieten den Mieten‑
deckel erfunden.

Preise staatlich festzulegen
ist fast immer eine schlechte Idee

Die beiden Vorschläge gleichen einander. Sie
sind verzweifelte Versuche, einem wirtschaftli‑
chen Problem Herr zu werden. Das Mittel ist
eine willkürliche Preisgrenze, das Motto lautet:
Deckel drauf. Und das einzig gute, was man
über diese Vorschläge sagen kann, ist, dass sie so
eingängig sind, dass man damit sicher glänzend
Wahlkampf machen kann.
Dabei ist nicht nur fraglich, ob sie wirken. Sie
können, falls sie wirken, sogar gefährlich sein.
Denn beide bekämpfen nicht die Ursache, son‑
dern manipulieren am Symptom: am Preis. Preise
staatlich festzulegen ist aber eine schlechte Idee.
Preise sind Signale, die anzeigen, wo etwas knapp
ist (Wohnungen) oder im Überfluss vorhanden
(geld). Sie zu regulieren ändert nichts an der
Knappheit oder dem Überfluss. Es hat aber fast
immer üble Nebenwirkungen.

Zum Beispiel das Negativzins‑Verbot, eine
Art Zinsdeckel von unten. Es führt entweder
dazu, dass die Banken sich das geld auf andere
Art vom Kunden holen. Die gebühren steigen,
nichts ist gewonnen. Oder es kommt schlimmer:
Die Banken geraten in Bedrängnis. Denn sie
müssen zwar weiterhin Negativzinsen zahlen an
die Notenbank, dürfen selbst aber keine Negativ‑
zinsen von ihren Kunden verlangen. Das könnte
angesichts der miserablen Ertragslage deutscher
geldhäuser schneller zu Rufen nach Staatshilfe
führen, als Markus Söder das Wort »Strafzins«
aussprechen kann. Und das will keiner.
Zum Beispiel der Mietendeckel. Er wird,
wenn es bei dem bleibt, was bislang bekannt ist,
erst einmal Mietern in guten Vierteln helfen.
Denn seine Höhe soll sich allein nach Erst‑
bezugsjahr und Ausstattung richten, nicht aber
nach dem Wohnviertel. Folglich würden die
Mieten im teuren Prenzlauer Berg sinken müs‑
sen, im Brennpunktviertel dürften sie weiter
steigen. Doch selbst wenn man solch offensicht‑
lichen Blödsinn noch behebt, wird ein Mieten‑
deckel zu Problemen führen. Die Immobilien
werden vernachlässigt, weil der Anreiz zu inves‑
tieren fehlt. In New York, wo es jahrzehntelang
von der Stadt kontrollierte Mieten gab, war das
in den 1970er‑Jahren zu beobachten: Die Häu‑
ser verfielen. Erst als man die Mieten wieder teils
dem Markt überließ, besserte sich die Lage.
Lasst also die Preise in Ruhe! Die Fantasie
könnte man besser dafür einsetzen, echte Lösun‑
gen zu finden. Ja, es gibt zu wenig Wohnungen in
den Städten. Die Antwort darauf ist simpel: bau‑
en, bauen, bauen. Was die Zinsen angeht, so ist es
komplizierter. Denn sie werden so schnell nicht
steigen. Es geht also höchstens darum, den Bür‑
gern trotzdem zu Ersparnissen zu verhelfen. Eine
Idee ist der deutsche Bürgerfonds, den der Öko‑
nom Clemens Fuest ins gespräch gebracht hat.
Dafür verschuldet sich der Staat und lässt das
geld ähnlich wie der norwegische Staatsfonds
anlegen. Jeder Bürger ist Anteilseigner und
bekommt ab dem Renteneintritt jährlich einen
Teil ausgezahlt. Das funktioniert natürlich nur,
solange Politiker nicht über das geld verfügen
und es in ihre Lieblingsprojekte stecken kön‑
nen. Wenn es aber wirklich um Rendite geht, ist
die Idee bedenkenswert, denn sie ist zumindest
kein offensichtlicher ökonomischer Irrsinn.

In der Ideen-Dürre


Weil Mieten und Zinsen verrückt spielen, ist ein neues Mittel
angesagt: Deckel drauf! Klingt gut, ist es aber nicht VON LISA NIENHAUS

MARKTWIRTSCHAFT

http://www.zeit.de/audio

Amazonas


Wie der Regenwald gerettet
werden kann, Politik, S. 4
Der Dschungel als Apotheke
der Welt, Wissen, S. 31

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