Die Zeit - 29.08.2019

(Amelia) #1

Es diskutieren


René Schlott, geboren 1977
in Mühlhausen, Thüringen.
2001 beendete er eine
kaufmännische Lehre in
Gütersloh und ging zum
Studium nach Berlin, wo
er sich an einem Forschungs-
projekt zu den Todesopfern
an der Mauer beteiligte.
Derzeit arbeitet er an einer
Biografie des Holocaust-
Historikers Raul Hilberg.

Die Deutschen und
ihre Kolonien
Das wilhelminische
Weltreich 1884 bis 1918.
Das aktuelle Heft von
ZEIT Geschichte
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Schuhmann: Ich glaube, am prägendsten war die
Erfahrung, in einer Übergangsgesellschaft zu leben.
Denn genau das war die DDR: ein Übergang vom
»Faschismus«, der nie wirklich aufgearbeitet wurde,
zum Kommunismus, der eine Zukunftsverheißung
blieb. Die DDR war das Niemandsland da-
zwischen, eine Gesellschaft, die sich von Feinden
umstellt sah, innen wie außen. Alles Mög liche ließ
sich mit diesem transitorischen Zustand rechtfer-
tigen. Dass es keine Reisefreiheit gab, dass man be-
stimmte Bücher nicht lesen durfte. Das hatte, über-
spitzt gesagt, zur Folge, dass es das Leben in der
Gegenwart kaum gab und Verantwortlichkeiten
permanent verschoben wurden. Und dass die Men-
schen lernten, alles, was von außen kam, als feind-
lich wahrzunehmen. Ich lese das im Osten noch
heute in vielen Gesichtern.
Kowalczuk: Ich sehe im Osten vor allem einen
weitverbreiteten Illiberalismus, Nationalismus und
Rassismus. Was nicht nur, aber auch eine Folge des
Transformationsprozesses seit 1990 ist, den wir alle
unterschätzt haben. Wir hatten es damals mit
16 Millionen Menschen zu tun, die null Ahnung
hatten von dem politischen System und der poli-
tischen Kultur, mit denen sie gleichsam über Nacht
»vereinigt« wurden. Diese Leute sind über Jahre
und Jahrzehnte einer ideologischen Dauerbeschal-
lung ausgesetzt gewesen. Unentwegt war dabei von
Recht, Demokratie und Freiheit die Rede, nur war
damit etwas ganz anderes gemeint als im Westen.
Niemand hat sich nach 1990 aufgemacht, diesen
16 Millionen beizubringen, wie das neue politische
System funktioniert, vor allem denen, die nicht
jung genug waren, um es in der Schule oder an der
Uni zu lernen. Un verständnis dafür, was Demokra-
tie, Freiheit und Pluralismus sind, gibt es natürlich
auch im Westen, aber nicht so massiv.
ZEIT: Man könnte das Gegenteil erwarten – dass
gerade die autoritäre Prägung sensibilisiert für den
Wert der Freiheit, die vielen Westdeutschen wo-
möglich allzu selbstverständlich erscheint.
Kowalczuk: Sicher haben sich viele DDR-Bürger
an den Verhältnissen in ihrem Land abgearbeitet.
Der Effekt aber war nicht unbedingt der, den Sie
schildern. Ralf Dahrendorf hat das schon 1965 in
seinem Buch Gesellschaft und Demokratie in Deutsch-
land festgestellt: Das Abarbeiten an einer tragenden
Ideologie formt die Menschen, ob in Loyalität,
Gleichgültigkeit oder Gegnerschaft. Viele, die die
DDR verlassen haben, sind in der Bundesrepublik
in eine totale Leere gefallen, weil plötzlich ein klarer
Feind fehlte.
Schuhmann: Ich höre da eine Pauschalisierung
heraus, die mir nicht behagt. Ich habe eine Freun-
din aus Frankfurt am Main, und jedes Mal, wenn
sie einen Ostler getroffen hat, sagt sie mir hinter-
her seinen Namen und guckt mich erwartungsvoll
an – als müsste ich den oder die kennen! Es sind
nun mal gut 16 Millionen Menschen. Und es ist
ein Riesenunterschied, ob man in Berlin gelebt hat
oder in der Lausitz. Innerhalb des Westens sind
solche Differenzen selbstverständlich, dem Osten
dagegen schreibt man eine einheitliche Identität
zu, die es so nie gab.
Voigtländer: In den Neunzigern entstand ja auf
diese Weise der »Ossi«. Dessen hervorstechendste
Eigenschaften waren es, einen komischen Dialekt
zu sprechen, zu jammern und faul zu sein.
ZEIT: Interessanterweise ist diese Figur inzwischen
verblasst. An ihre Stelle ist ein neues Bild getreten:
Der Ostdeutsche jammert nicht mehr, sondern ist
wütend und wählt rechts.
Schlott: Wir reden hier über die Ostdeutschen, als
seien sie passive Wesen, die jahrzehntelang »ge-
prägt« wurden, über die dann die Einheit kam und
die jetzt womöglich AfD wählen. Aber so einfach
ist es doch nicht. 1989 haben diese Ostdeutschen
immerhin eine Revolution angestoßen.
Kowalczuk: Ich glaube, es ist ein großer Irrtum,
anzunehmen, dass je eine Revolution von irgend-
einer Mehrheit gemacht worden ist.
Schlott: Das habe ich nicht gesagt.
Kowalczuk: Aber suggeriert. So wie die Bilder, die
alljährlich im Fernsehen flimmern. Die gaukeln
auch etwas vor, was so nie stattgefunden hat. »Das
Volk« auf den Straßen. Ach was! 30 Jahre danach
können wir solche Revolutionsromantik auch mal
vergessen. Das war eine kleine Minderheit.
Schlott: Aber diese Minderheit hat eine schwei-
gende Mehrheit in Bewegung gesetzt.
Kowalczuk: Auch das würde ich so nicht sagen. Die
Menschen sind doch vollkommen hoffnungslos in
das Jahr 1989 hineingegangen. Die Einzigen, die
dem etwas entgegengesetzt haben, waren die-
jenigen, die abgehauen sind und damit viele andere
Prozesse angestoßen haben, bis hin zur Entstehung
einer Bürgerbewegung. Als sich dann tatsächlich
etwas bewegte und die Mauer fiel, war das meist-
gebrauchte Wort »Wahnsinn«. Die Leute haben
sich sozusagen selbst überrannt.
ZEIT: Haben Sie diese Hoffnungslosigkeit auch
selbst verspürt?
Voigtländer: Meine Eltern haben sie gespürt. Es
waren allerdings keine direkt politischen Gründe,
aus denen sie die DDR verlassen wollten. Sie woll-
ten nicht eingesperrt sein, sondern selbst bestim-
men, wo und wie sie leben.
Schuhmann: Wir wussten doch alle: Das Leben ist
zu kurz, um auf Veränderung zu warten. Trotzdem
habe ich mich mit der Entscheidung, einen Aus-
reiseantrag zu stellen, schwergetan. In meiner
Kindheit war ich eher systemloyal, aus Protest ge-
gen meine systemkritischen Eltern. Irgendwann in
den frühen Achtzigerjahren hat meine Mutter
dann zu mir gesagt: Annette, du musst raus hier;
alles, was hier passiert, erinnert mich an die Fünf-
zigerjahre. Sie meinte damit nicht nur die Versor-
gungslücken, sondern die Stimmung im Land, die
Resignation, auch die steigende Aggressivität, von
unten wie von oben.


Kowalczuk: Ich war als Kind politisch so, wie es
meine Eltern wollten. Mit zwölf habe ich mich
verpflichtet, Soldat zu werden. Doch mit 14 wollte
ich nicht mehr, hab mich verweigert, mit allen
Konsequenzen: Ich durfte kein Abitur machen,
nichts. Was mich am meisten fertiggemacht hat,
war aber nicht das Verhalten von Stasi und SED
oder irgendwelchen Lehrern oder Offizieren.
Nein, was einen wirklich fertigmacht in einer Dik-
tatur, ist das Verhalten des Nachbarn, des Schul-
kameraden, des Kollegen, des Poliers auf der Bau-
stelle – ich habe ja auf der Baustelle gelernt –, der
sagt: Halt bloß die Fresse, du stürzt uns alle ins
Verderben. Das angepasste, duckmäuserische Ver-
halten der Leute auf der Straße, die Millionen, die
jedes Jahr zu diesen ganzen Massenaufmärschen
gegangen sind, das hat mich fertiggemacht. Und
aus diesen Menschen sind nicht auf einmal über-
zeugte Anhänger von Demokratie, Freiheit und
Zivilgesellschaft geworden.
Schlott: Der 18. März 1990 war doch ein Beweis
dafür, dass die DDR-Bürger ein demokratisches
Bewusstsein hatten. Sie haben lautstark freie Wah-
len gefordert und sind dann zu über 90 Prozent an
die Urnen gegangen. Rechte Parteien haben damals
kaum Stimmen bekommen.
Kowalczuk: Die Leute blieben aber vollkommen
auf den Staat fixiert. Was wurde denn am 18. März
1990 gewählt? Die Erwartung, dass sich alles von
heute auf morgen ändert, und zwar durch einen
neuen Staat, verkörpert durch Helmut Kohl.
Schlott: Es gab eine demokratische Mehrheits-
entscheidung für die Allianz für Deutschland.
Kowalczuk: Für die AfD, ja.
Schlott: Wenn Sie das so abkürzen wollen ... Zu
dieser »AfD« gehörte neben der Ost-CDU und der
neu gegründeten Deutschen Sozialen Union im-
merhin auch der Demokratische Aufbruch, in
dem sich Bürgerrechtler organisiert hatten.
Kowalczuk: Der Punkt ist doch, dass dieses Wahl-
bündnis auf populistische Weise etwas verspro-
chen hat, von dem jeder wusste, dass es nicht zu
halten ist: Wohlstand für alle durch Einführung
der Marktwirtschaft. Ich behaupte nicht, dass das
Wahlverhalten der DDR-Bürger undemokratisch
gewesen ist. Es geht mir um die Motivation: Es
wurde der starke Staat gewählt.
ZEIT: Vom demokratischen Aufbruch des Jahres
1989 ist also nichts geblieben?
Schuhmann: Der Aufbruch wurde überlagert
durch das, was danach geschah. Der soziale Raum
ist buchstäblich wegrasiert worden. Bereits 1994
war die Mehrheit der VEBs und Kombinate nicht
mehr existent. Als ich damals mit Bürgermeistern
gesprochen habe, etwa in Mecklenburg, haben die
gesagt: Früher hat hier alles die LPG gemacht. Die
haben sich um unsere Alten gekümmert, die ha-
ben den Kindergarten betrieben. Mit dem Regime
ist nach 1989/90 auch diese soziale Infrastruktur
verschwunden.
Voigtländer: ... die ja außerdem sinnstiftend war.
Man hatte in den Produktionsgenossenschaften
und Betrieben Kollegen und Freunde. Ich höre das
in Interviews mit ehemaligen VEB-Beschäftigten
immer wieder: Es habe einen guten Zusammen-
halt gegeben damals, anders als heute.
ZEIT: Ist das nicht bloße Ostalgie?
Voigtländer: Der eine oder die andere schönt in
der Rückschau die Vergangenheit, klar. Aber das
ändert nichts daran, dass Strukturen verschwun-
den sind, die Halt gegeben haben, egal wie proble-
matisch und autoritär sie waren.
Kowalczuk: Was verloren gegangen ist, ist ver-
mutlich weniger eine spezifische Ostidentität,
sondern die Identität als Arbeiter. Didier Eribon
beschreibt den analogen Vorgang für Frankreich:
Die Identität als Arbeiter ist weg, sobald man
nicht mehr arbeitet. Und wenn man fragt, wo
dieser Aufbruch geblieben ist, dann muss man
eben auch feststellen, dass vom 1. Juli 1990 an, als
die D-Mark in der DDR eingeführt wurde, über
Monate hinweg jeden Tag 10.000 Arbeitsplätze
vernichtet wurden. Innerhalb von zwei Jahren
sind aus 9,3 Millionen 6 Millionen Beschäftigte
geworden. Wo sollte da der Aufbruch hin?! Die
Leute hatten existenzielle Sorgen. Sie mussten
sich mit etwas auseinandersetzen, was sie 40 Jahre
lang nur aus dem Fernsehen kannten: mit Arbeits-
losigkeit und sozialem Abstieg.
ZEIT: Naika Foroutan vom Deutschen Zentrum
für Integrations- und Migrationsforschung hat die
Ostdeutschen kürzlich mit Migranten verglichen.
Der Systemwechsel als Migrationserfahrung ...
Kowalczuk: Das ist totaler Unsinn. Wenn ich als
Muslimin aus Nordafrika hierherkomme, bin ich
markiert, ohne dass ich den Mund aufmache. Als
jemand aus Riesa oder Rostock kann ich mich
überall auf dieser Welt als weißer Mensch frei
bewegen, in Deutschland sowieso.
Schuhmann: Als ich ausgereist bin, musste ich ins
Aufnahmelager Marienfelde, um dort meine
Identität zu klären. Ich kam zusammen mit einer
Gruppe Russlanddeutscher und Polen. Und es
zeigte sich ein gravierender Unterschied im Um-
gang der Beamten mit mir, der blonden Deut-
schen, und jenen, die aus Polen und der zerfallen-
den Sowjetunion kamen. Der Tonfall war abfällig
und herablassend, das hat mich sehr empört.
Trotzdem teilen Ostdeutsche und Migranten
auch Erfahrungen.
ZEIT: Welche?
Schuhmann: Fremd zu sein. Das war das überwäl-
tigende Gefühl, als ich mein Studium in West-
berlin begonnen habe. Allerdings habe ich schnell
gemerkt, dass das nicht nur an Leuten wie Arnulf
Baring lag, der 1991 ein Seminar mit der Bitte er-
öffnet hat, dass »all unsere Gäste aus der DDR ein-
mal die Hand heben mögen«. Was mir wirklich
fremd war, war die soziale Klasse, aus der die meis-
ten meiner Kommilitonen kamen. Anfangs dachte

ich immer, wenn ich Studierende getroffen habe,
die mir sympathisch waren: Die sind bestimmt aus
dem Osten! Die kamen aber meist gar nicht aus
dem Osten, sondern aus einem Neubaublock und
nicht aus einem Einfamilienhaus.
Voigtländer: Das ist doch genau der Punkt, den die
Studie machen wollte: Migranten und Ost deutsche
sind in einer ähnlichen sozioökonomischen Lage.
Dem aktuellen Bundesbankbericht zufolge hat der
durchschnittliche Westdeutsche 90.000 bis
100.000 Euro Vermögen, der Durchschnitts-
Ostdeutsche dagegen nur 23.000 Euro. Daraus er-
geben sich, etwa auf dem Wohnungsmarkt in den
Großstädten, ganz konkrete Alltagsprobleme, die
Ostdeutsche in ähnlicher Weise betreffen wie
Migranten – abgesehen natürlich vom Rassismus.
Da liegt der große Unterschied.
Schlott: Der Migrantenvergleich ist ja nicht der
einzige Versuch, den Transformationsprozess auf
eine griffige Formel zu bringen. Ein neu erschie-
nenes Buch spricht vom »Anschluss« und stellt
damit eine Parallele zum »Anschluss« Österreichs
an das nationalsozialistische Deutschland 1938
her. Was soll das? Andere reden von Annexion,
Kolonialisierung oder Übernahme. Ich finde das
alles unpassend.
ZEIT: Welcher Begriff wäre denn passend?
Schlott: Es war schlicht und einfach ein Beitritt,
den die Volkskammer der DDR unter dem Jubel
der Volksvertreterinnen und -vertreter in der
Nacht auf den 23. August 1990 beschlossen hat.
Kowalczuk: Es geht doch darum, den Prozess da-
nach zu beschreiben, nicht den Beitritt selbst, der
de facto am 1. Juli 1990 mit der Wirtschafts-,
Währungs- und Sozialunion erfolgt ist. Und wenn
ich diesen Prozess in meinem neuen Buch als
»Übernahme« bezeichne, dann ist das nicht ein-
fach eine überspannte Formulierung.
Schlott: Das ist sicher verkaufsfördernd, weckt
aber falsche Assoziationen, so als habe eine Firma
die andere feindlich übernommen.
Kowalczuk: Schauen Sie sich doch nur die Milliar-
den an, die in den Neunzigerjahren in Förderpro-
gramme für den Osten gepumpt worden sind, um
das Wissenschaftssystem neu aufzubauen. Am
Ende sind sie denjenigen zugutegekommen, die
aus dem Westen in den Osten gegangen sind.
Auch das Zentrum für Zeithistorische Forschung
in Potsdam ist so entstanden, und es ist kein Zu-
fall, dass es noch nie von einem Ostdeutschen ge-
leitet wurde, weil überhaupt noch nie irgendwo
ein Lehrstuhl oder eine Institution für Zeit-
geschichte von einem Ostdeutschen geleitet wur-
de. Ähnliches gilt für so ziemlich alle Wirtschafts-
und Gesellschaftsbereiche.
ZEIT: Es gab 1989/90 ja auch die Idee, eine neue
gesamtdeutsche Verfassung zu erarbeiten. Hätte
darin eine Chance gelegen?
Voigtländer: Das hätte eine enorme symbolpoliti-
sche Wirkung gehabt. Aber die Frage ist, ob die
Menschen nicht viel zu sehr mit den sozialen Pro-
blemen beschäftigt waren, die 1990 über sie he-
reingebrochen sind. Um einen Verfassungsprozess
zu ermöglichen, der kein bloßes Elitenprojekt
bleibt, hätte die Wiedervereinigung auf jeden Fall
langsamer vonstattengehen müssen – und partizi-
pativer. Das hätte sicherlich auch im Umgang mit
den Betrieben zu anderen Ergebnissen geführt.
Kowalczuk: Der Witz ist ja, dass der Beitritt rein
verfassungstheoretisch im Grunde gar nicht statt-
gefunden hat.
ZEIT: Wieso das?
Kowalczuk: Im Einigungsvertrag steht, dass die
Länder – nicht die DDR als Ganzes – dem Gel-
tungsbereich des Grundgesetzes beitreten. Nur:
Die fünf neuen Länder sind erst am 14. Oktober
gegründet worden, der Beitritt aber fand schon am


  1. Oktober statt, weil man den Termin nach vorn
    gezogen hatte. Helmut Kohl wollte aus gutem
    Grund nicht, dass sich der 7. Oktober, das Grün-
    dungsdatum der DDR, noch einmal jährt.
    ZEIT: Wäre eine neue Verfassung denn überhaupt
    eine kluge Idee gewesen?
    Schlott: Letztlich brauchte es keine neue Verfas-
    sung, weil die wesentlichen Ziele, für die die Men-
    schen 1989 auf die Straße gingen, vom Grund-
    gesetz garantiert werden.
    Kowalczuk: Im Einigungsvertrag war eine Verfas-
    sungsdebatte nach Artikel 146 des Grundgesetzes
    vorgesehen. Es gab verschiedene Initiativen und
    eine gemeinsame Verfassungskommission von
    Bund und Ländern, die zwei Jahre tagte. Nach
    diesen zwei Jahren erklärte man das Projekt für be-
    endet, weil die Westdeutschen keine Notwendig-
    keit für eine neue Verfassung sahen. Ich bin der
    festen Überzeugung, dass eine neue Verfassung die
    Möglichkeit für eine gesamtdeutsche Identitäts-
    bildung geboten hätte, allein deshalb, weil dann
    auch die Menschen in Garmisch-Partenkirchen,
    Flensburg oder Saarbrücken mitbekommen hät-
    ten, dass sich ihr Land verändert.
    ZEIT: 1990 hofften manche, es ließe sich das Gute
    aus beiden Systemen zusammenführen. Gab es in
    der DDR Gutes, das in eine Verfassung hätte ein-
    fließen können?
    Schlott: Das »Gute« an der DDR ist vermutlich
    eher ein diffuses Gefühl, das einen in der Rück-
    schau beschleichen kann. Das Gefühl, es habe ir-
    gendwie mehr Solidarität und Geborgenheit gege-
    ben. Aber das hat weniger mit der DDR selbst als
    mit unseren heutigen Verhältnissen zu tun, in de-
    nen man sich ständig neu orientieren muss.
    Kowalczuk: Für mich war immer klar: Es gibt
    überhaupt nichts, was man aus dem Osten hätte
    retten können – nichts, null, nothing! Und wa-
    rum? Weil ich meine erste Liebe, wenn ich sie ge-
    habt hätte, auch in jedem anderen System gehabt
    hätte, das hat nüscht mit dem Osten zu tun, ge-
    nauso wie meine ersten Fußballschuhe. Und zwei-
    tens: Wenn ich höre, dass zum Beispiel die poly-


technischen Schulen prima gewesen seien oder
was die Leute sonst noch für Märchen erzählen,
kann ich nur sagen: Ich bin heilfroh, dass meine
Kinder – und ich habe vier – keine Sekunde in
einer dieser verfluchten ideologischen Ostschulen
sein mussten.
Schuhmann: Was mich viel mehr stört als solche
ostalgischen Anwandlungen, ist die Respektlosig-
keit im Umgang mit der DDR. Potsdam ist das
beste Beispiel: Die verbliebene DDR-Architektur
wird abgeräumt, die preußische Garnisonsstadt als
eine Art historisierendes Disneyland wieder auf-
gebaut. In der DDR träumte man vom »neuen
Menschen«, jetzt kreiert man ein neues Ambiente.
Warum muss die Pädagogische Hochschule abge-
rissen werden? Warum das Rechenzentrum, in
dem wir hier zusammensitzen? Ich spüre da eine
regelrechte Kahlschlag-Attitüde. Als müsse man
alles wegräumen, was nicht hübsch und behaglich
ist. Diese kleinbürgerliche Überheblichkeit habe
ich von Anfang an als etwas typisch Westdeutsches
wahrgenommen.
ZEIT: Mit dem sozialen und ökonomischen Wan-
del der vergangenen 30 Jahre mussten auch die
Westdeutschen klarkommen. Rühren daher solche
kleinbürgerlichen Regressionswünsche?
Kowalczuk: Mag sein. Aber die Bundesrepublik
hatte jahrzehntelang Zeit, um sich von einer In-
dustrie- in eine Dienstleistungsgesellschaft zu ver-
wandeln. Ostdeutschland hatte dafür ungefähr
eine Nacht lang Zeit. Dann kam durch die Globa-
lisierung noch mal neuer Wandel, wieder neues
Tempo. Das musste in eine Katastrophe führen.
Schlott: Mich ärgert es, dass wir hier alles unter
dem Begriff der Katastrophe subsumieren. Es gab
auf beiden Seiten sicher eine enorme Überforde-
rung. Letztlich aber sind die Ostdeutschen die
Sieger der Geschichte. Sie haben sich selbstständig
gemacht, sind in den Westen zum Arbeiten gepen-
delt oder haben ihre Betriebe übernommen. Und
in Regionen wie dem katholisch geprägten Eichs-
feld, aus dem ich komme, sind auch die sozialen
Strukturen intakt geblieben, weil nicht der Staat,
sondern die Kirche im Mittelpunkt stand.
Schuhmann: Eine große Ausnahme.
Schlott: Aber sie gehört in ein differenziertes Bild
der DDR. Genauso wie es dazugehört, dass es den
Leuten in Sachsen heute ziemlich gut geht. Man
darf die Dinge im Nachhinein nicht als verhäng-
nisvoller darstellen, als sie waren. Zumal die Ost-
deutschen ja auch nach 1990 ihr Schicksal noch
in der Hand hatten. Sie haben in Brandenburg
über Jahrzehnte die SPD gewählt, in Thüringen
und Sachsen über Jahrzehnte die CDU. Eine
Mehrheit hat der neuen Ordnung immer wieder
zugestimmt, trotz der wirtschaftlichen und sozia-
len Verwerfungen.
Kowalczuk: Das Gesamtbild bleibt ein anderes:
Der Osten ist dem Westen 30 Jahre lang hinter-
hergehechelt, ohne auch nur einen Schritt näher
zu kommen. Er verharrte drei Jahrzehnte lang auf
etwa zwei Dritteln der Produktivität des Westens.
Die Schere hat sich nicht geschlossen.
Schuhmann: Und die Bevölkerungszahl ist auf den
Stand von 1905 zurückgefallen. Bereits vor dem
Mauerbau 1961 gab es durch die vielen DDR-
Bürger, die »rübergemacht« haben, einen massiven
Schwund, nach 1989 hat sich das fortgesetzt. Wer
offenen Auges durch die Prignitz fährt oder durch
Mecklenburg-Vorpommern, kann es deutlich se-
hen. In Landlust liest man dann von der adretten
Rückkehrerin, die Spreewaldgurken eingurkt. Aber
Fakt ist diese Lücke.
ZEIT: Welche Aufgabe kommt da den Historikern
zu? Nur anzumahnen, was die Politik versäumt
hat? Oder haben sie auch selbst eine Rolle in die-
sem Transformationsprozess gespielt, die sie sich
kritisch ansehen müssten?
Voigtländer: Ich befasse mich unter anderem mit
dem Rechtsextremismus in der DDR. Meine
Hoffnung wäre schon, dass solche Forschung dazu
beitragen kann, politische Lösungen zu finden.
Schuhmann: Diese Hoffnung haben wir wohl alle,
aber machen wir uns nichts vor: Zumindest die
historische Fachliteratur wird in Deutschland nur
von einer Personengruppe ernst genommen – den
Historikerinnen und Historikern selbst.
Schlott: Dennoch, finde ich, ist es ein gutes Zei-
chen, dass die Debatten über die DDR anhalten
und neue Fragen an die Transformationszeit der
Neunzigerjahre gestellt werden. Wobei man er-
wähnen muss, dass die DDR-Geschichte unglaub-
lich gut aufgearbeitet und erforscht worden ist.
Kowalczuk: Nur war das ja kein Selbstzweck. Da-
hinter stand die politische Idee, die Aufarbeitung
leiste einen Beitrag zur Demokratisierung.
ZEIT: Und, ist das gelungen?
Kowalczuk: Wenn man sich den Zustand der
politischen Kultur in Ostdeutschland, ja in ganz
Osteuropa anschaut, muss man leider sagen:
kaum. Das ist nicht aufgegangen, auch wenn wir
es Anfang der Neunzigerjahre alle so sehr gehofft
hatten – ich selbst auch, ganz innig sogar. Und
wer weiß: Vielleicht hoffe ich es ja insgeheim
noch immer.

Das Gespräch führte Christian Staas

Henrike Voigtländer,
1987 in Quedlinburg
geboren. Ihr Abitur machte
sie 2006 in Köln, danach
ging sie zum Studium nach
Berlin. Zurzeit arbeitet sie an
ihrer Doktorarbeit zum
Thema »Geschlecht und
Herrschaft im Betriebsleben
der DDR in den 1970er-
und 1980er-Jahren«.

Ilko-Sascha Kowalczuk,
Jahrgang 1967, aufgewach-
sen in Berlin Köpenick.
Seit den Neunzigerjahren
hat er zahlreiche Bücher
zur DDR-Geschichte ver-
öffentlicht. Dieser Tage
erscheint bei C. H. Beck
»Die Übernahme. Wie
Ostdeutschland Teil der
Bundesrepublik wurde«.

Annette Schuhmann,
geboren 1960 in Ost-Berlin,
Historikerin am Zentrum
für Zeithistorische
Forschung Potsdam
und Redakteuerin bei
zeit geschichte-online.de.
Kürzlich erschien ihr
autobiografisches Essay
»MauerKind« in dem
von Jürgen Danyel
heraus gegebenen Band
»Ost-Berlin. 30 Erkundun-
gen« (Ch. Links Verlag).


  1. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 36 15


VOR DEN WAHLEN IM OSTEN

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