Die Zeit - 29.08.2019

(Amelia) #1

  1. August 2019 DIE ZEIT No 36


Normalerweise sind solche Kraftwerke so
gebaut, dass bei einer Explosion das Dach
wegfliegt. »Doch wir haben skifahrer da
oben!« Jetzt fliegt hier bei zu viel Druck die
hintere Außenwand weg. »Wir sorgen aber
dafür, dass wir den Druck unter allen um-
ständen kontrollieren.« Doch damit ist das
Werk, es gehört den umliegenden gemein-
den, immer noch nicht fertig. Der Chef
sucht derzeit nach der intelligentesten tech-
nik, um das entstehende CO₂ aufzufangen
und daraus mit Ökostrom den Flüssigkraft-
stoff der Zukunft zu machen.
Kopenhagen ist nur 334 Kilometer von
Hamburg entfernt – und doch ein ganzes
Jahrhundert. Fahrräder dominieren den Ver-
kehr, Kreuzungen wurden zu wild verwach-
senen gärten, die bei starkregen das Hoch-
wasser aufnehmen. In den neuen trendquar-
tieren der 600.000-Einwohner-stadt, die
jeden Monat um mehr als tausend Bewohner
wächst, entstehen reihenweise Passiv-Wohn-
häuser. stadtplaner und Jungunternehmer
basteln ständig an Ideen. Im Hafen dürfen
Besucher dank eines start-ups kostenlos Ka-
jak fahren – wenn sie dabei Müll aus dem
Wasser fischen und im Bootsbehälter mit-
bringen. Jetzt soll eine neue Metrolinie ein-
geweiht werden – in einer stadt, die vor zwei
Jahrzehnten noch keine u-Bahn besaß.
Kopenhagen war schon vom greta-Virus
erfasst, als es greta thunberg noch gar nicht
gab. Die hier führenden sozialdemokraten
wurden sehr früh grün und stellten schon
1971 den ersten dänischen umweltminister.
In den 1980er-Jahren, als Kopenhagen öko-
nomisch und ökologisch am Boden lag, be-
gann das große saubermachen mit dem Ziel,
dass die Bürger dereinst im Hafen schwim-
men könnten. Damals heizten noch viele
Dänen mit Petroleumöfen, nach und nach
wurden 99 Prozent der Haushalte aber ans
Fernwärmenetz angeschlossen. Der geplante
Bau einer Autobahn quer durch die stadt
scheiterte zum glück am geld. stattdessen
begann die Arbeit an einem 450-Kilometer-
Netz aus breiten Fahrradwegen.


»Wir können nicht auf alle
anderen warten«


Vor hundert Jahren war das Fahrrad in
Kopenhagen ein Zeichen bescheidenen
Wohlstands. Zur Wirtschaftswunderzeit
stiegen die meisten aufs Auto um, in den
1970er-Jahren trat kaum noch jemand in
die Pedale. Die Ölpreiskrise brachte die
Wende. Heute nutzen etwa die Hälfte aller
Pendler das Rad. Regelmäßig fragt die stadt
ihre Bürger, wo neue Wege entstehen sollen
und wo Radparkplätze fehlen. gerade wur-
de die zweite futuristisch designte Fahrrad-
brücke über den großen Kanal eröffnet, um
Räderstaus aufzulösen. Radfahren soll cool
sein. und bequem.
»Ich habe fünf Fahrräder«, sagt der
Oberbürgermeister Frank Jensen. Wenn er
dienstlich Auto fährt, dann möglichst elek-
trisch. seit Jahren schafft die stadt keine
Benziner mehr an und tut auch sonst alles,
um das 2012 verabschiedete Ziel zu errei-
chen: 2025 will Kopenhagen klimaneutral
sein. »Mit Regulierung können sie eine
Menge erreichen«, sagt Jensen. so seien die
Busunternehmen zwar privat, aber die
stadt habe sich mit ihnen geeinigt, dass sie
ab 2025 alle elektrisch fahren. Ebenso die
Hafenfähren. Auch technisch will die stadt
vorn sein. Die neuen Wohn- und Büro-
häuser haben riesige Fens ter, bei sonnen-
schein heizen sie sich auf. um Klimaanla-
gen zu vermeiden, bieten die Kopenhage-
ner deshalb Fernkälte an, gespeist aus dem
ziemlich kühlen Hafenwasser.
Der Plan für 2025 ist einfach: grünes
Wachstum und neuer Wohlstand ohne zu-
sätzliche Kosten für die Bürger. Alle Betrof-
fenen werden früh in Entscheidungen einbe-
zogen. Die stadt arbeitet eng mit Firmen
und universitäten zusammen, und fast alle
Inves ti tio nen kommen aus dem privaten
sektor. Am Ende soll die Energie vollständig
erneuerbar sein und der Verkehr unter dem
strich neutral. Außerdem versucht Kopenha-
gen klimaschonende Baumaschinen zu ent-
wickeln. Weil die dänische Wirtschaft allein
zu klein ist, arbeitet die stadt viel mit den
schweden und Norwegern zusammen.
Am meisten fühlen sich die stadtreformer
von all den nationalen und europäischen Re-
geln gestört. so verwehrte das eigene Land
ihnen eine Citymaut. »Wir können nicht
auf alle anderen warten«, heißt es verärgert
bei den Klimastrategen. Kopenhagen, in vie-
len Rankings der Klassenbeste, will vorn
bleiben. Dafür soll künftig auch ehrlicher ge-
messen werden. Bisher berechnet die stadt
nur die Klimaeffekte, die auf ihrem eigenen
gebiet entstehen. Doch was ist mit der
Landwirtschaft, die die Nahrung liefert?
und was mit all den Betonplatten für die
Neubauten, die in Polen hergestellt und mit
dem Frachtschiff herübergeschippert wer-
den? In den nächsten großen Plan soll all
dies einfließen.
Künftig werde es schwieriger, fürchtet
Cecilia Lonning-skovgaard, die liberale Bür-
germeisterin für Arbeit und Integration. Die
stadt diskutiere einen Fleisch-Bann für Kitas


oder eine Fahrerlaubnis lediglich für grüne
Lastwagen. so etwas schaffe Missmut, be-
drohe kleine Firmen und Lehrstellen. Bis-
her hätten ehrgeizige Klimaziele die Dänen
zusammengeschweißt und stolz gemacht,
sagt die Managerin. »Aber noch wurde die
Öffentlichkeit nicht wirklich ausgetestet,
und nur zehn bis fünfzehn Prozent sind
echte gläubige.«
trotzdem ist es kaum vorstellbar, dass
Kopenhagen vom grünen Weg abkommt:
Es ist die stadt von Dan stubbegaard,
dem gründer der international erfolgreichen
Architekturfirma Cobe Architects. Er baut
alte Hafenspeicher zu Wohnhäusern um und
bringt seinen Kunden bei, Neubauten so fle-
xibel zu planen, dass sie möglichst lange von
Nutzen sind. seine Erfahrung: »Menschen
sind gut in Veränderung, wenn sie an der
Klippe stehen.«
Es ist die stadt des spitzenkochs Matt
Orlando, der in seinem Restaurant Amass
die CO₂-Bilanz radikal verbessert, indem er
neue Verfahren für die Weiterverwertung
von Essensresten entwickelt, viele Zutaten
im eigenen Restaurantgarten anbaut und
jeden tropfen Wasser sammelt. Amass ist ein
Klimaschutz-Experiment, das Köchen über-
all zugutekommen soll.
Es ist die stadt der unternehmerin Mette
Lykke, die »too good to go« führt. Das grüne
start-up vermittelt in ganz Europa übrig
gebliebenes Essen von Bäckern, supermärk-
ten oder Buffetküchen als Überraschungs-
pakete zum Billigpreis. 13 Millionen regis-
trierte Kunden können sie buchen und ab-
holen. »Ich habe eine Berufung«, sagt sie.

Aus Kopenhagen kommt diese opti mis-
tische Botschaft: Klimaschutz wirkt anste-
ckend, wenn man sich ihm verschrieben hat.
große Ziele machen erfinderisch, und das,
was eben noch ungemütlich wirkte, wird
zum Alltag. geschieht vieles parallel, verlie-
ren die meisten Bürger zwar etwas an irgend-
einer stelle, gewinnen aber woanders an
Wohlstand und Lebensqualität hinzu. strei-
tet die Politik dagegen dauernd über einzelne
Maßnahmen, die bestimmte gruppen belas-
ten, türmt sich die Abwehr.
Alles auf einmal! Das ist der Weg in dieser
Zeit, in der die Welt schon über das CO₂-
Ziel hinausgeschossen ist. soll man klima-
schädlichen Konsum verteuern und verbie-
ten – oder auf die Moral der Konsumenten
setzen? Beides!

soll man treibhausgase einsparen oder auf
geoengineering setzen? Auch das ist keine
Alternative. Rechnet man von 2050 zurück,
wird klar: Es bleiben wenig Optionen. Ja, der
Preis für CO₂ muss steigen, und gleichzeitig
werden Deadlines notwendig. Wer heute
noch ein fossiles Kraftwerk genehmigt, sollte
sich nicht als Klimaschützer dicketun. Neue
gebäude müssen ohne gas- und Ölheizun-
gen auskommen. In zehn Jahren darf kein
Benzinauto mehr gebaut werden. Mit der
Flug- und der schiffsbranche sind Verfallsda-
ten für klimaschädliche Antriebe zu verein-
baren. Man sieht: In den verlorenen 30 Jahren
seit 1990 wurde aus dem Entweder-oder des
Klimaschutzes ein sowohl-als-auch.

Ein Minister reicht nicht. Eine
Klimaregierung ist nötig

Vielleicht brauchen die Nationen dieses Fünf-
nach-zwölf-gefühl. Die Einsicht, dass alles auf
einmal zu geschehen hat. Dass ein umwelt-
ministerium nicht reicht, das mit anderen Res-
sorts um Aufmerksamkeit ringt – sondern eine
Klimaregierung nötig ist. Eine Klimanation.
Ottmar Edenhofer ist eine deutsche Mi-
schung aus Jeffrey sachs und James Hansen:
Ökonom und Klimakenner, aktiv als Forscher
und politischer Berater. Der 58-jährige Chef
des Potsdam-Instituts für Klimafolgenfor-
schung hält nichts vom Denken in Alternativen,
die Natur gibt das nicht mehr her. Zwischen
2030 und 2040 müssten strom und Wärme
vom CO₂ befreit sein, sagt er. Danach gelte es,
weltweit treibhausgas einzusparen. »Durch
Aufforstung. Durch das Auffangen und Ver-
pressen von CO₂. Muss alles dabei sein.«
Edenhofer denkt darüber nach, wie eine
gesellschaft das schaffen soll. Das Klima be-
rühre die ganze Politik, sagt er, »steuer-,
Finanz-, Ausgabenpolitik und so weiter«.
Wenn die E-Autos kommen, fällt die Mine-
ralölsteuer weg. Wenn der Klimaschutz das
Leben für Ärmere zu teuer macht, müssen
diese ent las tet werden. Die öffentlichen Ein-
nahmen müssten dann aus anderen Quellen
kommen, sagt Edenhofer. Bleibt die Frage,
ob die Bürger dem staat einen solchen um-
bau noch zutrauen. und der es sich selbst.
»In Deutschland haben wir eine tolle Kli-
marhetorik, aber eine grauenvolle Praxis«,
kommentiert der Experte. Der staat greife
überall ein und reguliere vieles weich, statt
wenige harte grenzen zu setzen. so hätten

gut gemeinte subventionen bei der Energie-
wende von 2011 ein Revival klimaschädli-
cher Kohlekraftwerke ausgelöst, die eigent-
lich verboten gehörten. Auch bei den Immo-
bilien sei der staat zu weich. 80 Prozent der
Preissteigerungen in den städten seien dem
Boden geschuldet, nicht den gebäuden:
»Das Klima könnte gewinnen, wenn niedrige
Bodenpreise mehr spielraum für umwelt-
freundlichen Wohnungsbau ließen.« Doch
eine grundsteuerreform, die am Boden an-
setzt, werde kaum diskutiert.
Dass Berlin mit der CO₂-steuer zögert, passt
ins Muster. Doch worauf warten? Wenn das
CO₂-geld an die Bürger verteilt wird, lassen
sich sogar skeptiker für den Klimaschutz ge-
winnen. und ein steigender CO₂-Preis könnte
verhindern, dass fossile Energie durch neue
gewinnungstechniken wie das Fracking wieder
billig wird und den Weg aus der CO₂-Falle
blockiert. stattdessen wird die steuer im klas-
sischen Entweder-oder-stil gegen den euro-
päischen Emissionshandel ausgespielt. Dabei
bräuchte Deutschland die steuer zusätzlich zur
Eu-Lösung, um wenigstens die bisher gemach-
ten Klimaversprechen zu erfüllen.
Alles auf einmal – der radikale Wandel ist
der einfachste. Deutschland kann dabei von
den Dänen lernen oder auch von den Fin-
nen, die alle Bürger, Wissenschaftler und un-
ternehmer ausdrücklich einladen, am Bau
eines »grünen Kapitalismus« mitzuwirken.
Das würde dem Planeten helfen.
und dem Land. gegen das, was die Na-
tio nen in diesem Jahrhundert klimatechnisch
und gesellschaftlich auf die Beine stellen
müssen, war das Internet ein Kinderspiel. Ar-
beitnehmer werden in einer digital-ökologi-
schen Wirtschaft umlernen, Konsumenten
ihre Vorstellung von shoppen und Lebens-
qualität ändern, unternehmen sich völlig
neu orientieren müssen. Die grüne Innovati-
onswelle wird früher oder später kommen
und neben enormen Verwerfungen auch ge-
waltigen Wohlstand bereithalten.
Klima könnte das größte geschäft des 21.
Jahrhunderts werden – gerade für die Deut-
schen, die vor 20 Jahren schon einmal führend
waren bei der umwelttechnik und der umwelt-
politik und die dann abkamen vom grünen
Weg. Das Land der Ingenieure und Exporteure,
der Mülltrenner und Waldschützer muss dies-
mal vorneweg laufen. Nach dem silicon Valley
darf nicht auch noch das Climate Valley weit
weg am Pazifik entstehen.

WIRTSCHAFT 19


15,
USA

14,
Kanada

10,
Russland

9,
Japan

8,
Deutschland

6,
China*

5,
Großbritannien

5,
Italien
4,
Frankreich

2,
Brasilien
1,
Indien

300

1960 2018

400

350

2019, 25. August


außergewöhnliche Dürre

2016, 31. August


extreme Dürre schwere Dürre
moderate Dürre ungewöhnlich trocken

*ohne Hongkong

TITELTHEMA: WAS KOSTET DIE RETTUNG DER WELT?


Der Fußabdruck


Ländervergleich


Zu wenig Regen


CO₂-Konzentration in der Erdatmosphäre,
gemessen in CO₂-Partikel pro eine Million Luftpartikel (ppm)

Jährliche CO₂-Emissionen pro Kopf der
Bevölkerung, 2016 in tonnen

so wich die trockenheit der Böden vom historischen
Durchschnitt ab – jetzt und vor drei Jahren

So wie in diesem Entwurf soll die Zukunft Kopenhagens aussehen:
Spielen in der Idylle – gleich gegenüber dem modernen Müllverbrennungswerk

Rinderfarm in der brasilianischen
Stadt Marabá

CO 2 inklusive: Rohölfeld bei
Bakersfield in Kalifornien

Fotos: D. Galdieri/Bloomberg/Getty Images; P. Edmondson/Mint Images/vario images

Rendering: Amager Bakke/CopenHill by Bjarke Ingels Group

ZEIT-GRAFIK/Quellen: Helmholtz Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Scripps Institution of Oceanography (SIO), IEA
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