Frankfurter Allgemeine Zeitung - 23.08.2019

(Barré) #1

SEITE 2·FREITAG, 23. AUGUST 2019·NR. 195 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


BRÜSSEL, 22. August. Sosehr sich die
Geister von Boris Johnson und den übri-
gen 27 EU-Staats- und -Regierungschefs
an der geplanten Auffanglösung („Back-
stop“) für Nordirland auch scheiden – alle
28 Regierungen haben sich zur Suche
nach „alternativen Vereinbarungen“ ver-
pflichtet, die nach dem für den 31. Okto-
ber geplanten Brexit und einer bis Ende
2020 währende Übergangsphase Grenz-
kontrollen auf der Grünen Insel verhin-
dern sollen. So steht es zumindest in dem
dreimal im britischen Unterhaus abge-
lehnten Austrittsvertrag. Mit seinem in ei-
nem Brief an EU-Ratspräsident Donald
Tusk vorgelegten Vorschlag, den Back-
stop durch die Verpflichtung zu ersetzen,
„solche Vereinbarungen so weit wie mög-
lich“ noch vor Ende der Übergangsphase
zu verwirklichen, blitzte Johnson in Brüs-
sel umgehend ab.
Als der britische Premierminister am
Donnerstagmittag in Paris nach seinem
Berliner Gespräch mit Bundeskanzlerin
Angela Merkel den französischen Präsi-
denten Emmanuel Macron traf, zeigte er
sich wie gewohnt demonstrativ zuversicht-
lich. Wo ein Wille sei, da sei auch ein
Weg, sagte Johnson. Hoffnungen hat er in
Berlin wohl durch Äußerungen von Ange-
la Merkel geschöpft. Die Bundeskanzle-
rin, die Neuverhandlungen über den Aus-
trittsvertrag wie alle 27 EU-Partner ab-
lehnt, erwähnte die Möglichkeit, dass
sich Grenzkontrollen zwischen dem zum
Vereinigten Königreich gehörenden Nord-
irland und dem EU-Mitglied Irland ver-
meiden ließen, wenn es Klarheit über das
künftige Verhältnis zwischen der EU und

Großbritannien gebe. Eigentlich ist ge-
plant, eine Lösung bis Ende 2020 zu errei-
chen. In Großbritannien wird derweil in-
tensiv über „alternative Vereinbarungen“
nachgedacht.
Relativ weit gediehen sind die Überle-
gungen einer unter dem Namen „Prosperi-
ty UK“ firmierenden und unter dem Vor-
sitz der konservativen Unterhausabgeord-
neten Nicky Morgan und Greg Hands ste-
henden „unabhängigen Plattform“. Die
Gruppe, der Unternehmer, Wissenschaft-
ler und politische Akteure angehören, hat
Ende Juni ein aus unterschiedlichen Bau-
steinen bestehendes Modell angeregt.
Johnson sprach in Paris unter Bezug dar-
auf von einem „exzellenten Papier“.Da
auch nach dem Brexit weder der Nord-

noch der Südteil Irlands zum Schengen-
Raums gehören werden, dürfte sich an
der inneririschen Grenze im Reisever-
kehr der Bürger wenig ändern. Auch für
den Warenverkehr soll die innerirische
Grenze nach den Vorstellungen von
„Prosperity UK“ möglichst unsichtbar
bleiben. Statt auf „futuristische High-
tech-Lösungen“ komme es auf flexible
Antworten an.
Bei pflanzlichen und tierischen Pro-
dukten seien Kontrollen zwar unerläss-
lich; dies könnten jedoch mobile Einhei-
ten außerhalb der Grenzübergänge über-
nehmen. Die Vereinbarkeit von Produk-
ten mit EU-Standards solle stärker privat
kontrolliert werden. Für die Vereinfa-
chung der Formalitäten im grenzüber-

schreitenden Handel mit Industriegütern
regt die Arbeitsgruppe erprobte neuere
Technologien zur Erfassung von Waren-
strömen sowie Wirtschaftssonderzonen
zur Erleichterung des Handels in grenz-
nahen Gebieten an. Die Zollformalitäten
für größere Unternehmen sollen einfa-
cher werden, indem sie als sogenannte zu-
gelassene Wirtschaftsbeteiligte („Autho-
rized Economic Operators“) bevorzugt
behandelt werden sollen. Bis dieses Sys-
tem anwendungsreif ist, dürften nach An-
gaben von „Prosperity UK“ drei Jahre ver-
gehen.
Solch positive Erwartungen sind der-
zeit die Ausnahme. Als das britische Un-
terhaus im Januar auf Vorschlag des kon-
servativen Abgeordneten Graham Brady

dafür stimmte, den Backstop durch „alter-
native Vereinbarungen“ zu ersetzen, sag-
te die damalige stellvertretende Brexit-
Chefunterhändlerin Sabine Weyand zu
den von britischer Seite angestrebten Ver-
einbarungen: „Das Problem mit dem Bra-
dy-Änderungsantrag ist, dass darin nicht
ausbuchstabiert wird, worin sie bestehen.
Das ist keine Kritik an ihnen, da sie nicht
bestehen.“ Auch das oft als vorbildlich ge-
rühmte Modell für den Handelsverkehr
zwischen dem EU-Mitglied Schweden
und Norwegen, das de facto dem europäi-
schen Binnenmarkt, aber nicht der EU-
Zollunion angehört, kommt nicht gänz-
lich ohne Grenzkontrollen aus.
Skeptisch bewertet auch Julia Pfeil, in
der internationalen Wirtschaftskanzlei
Dentons auf Außenwirtschaftsrecht und
Exportkontrolle spezialisiert, die Aussich-
ten, rasch technologische und andere Lö-
sungen zur Vermeidung einer „harten
Grenze“ in Irland zu entwickeln. Ange-
sichts der bei einem ungeregelten Brexit
drohenden wirtschaftlichen Nachteile für
die EU und vor allem für das Vereinigte
Königreich gelte es, rasch die Spielregeln
für das Verhältnis nach Ablauf der bis
Ende 2020 geplanten Übergangsperiode
zu klären.
„Bedenkt man, wie schnell vor 30 Jah-
ren die damaligen Zwei-plus-vier-Gesprä-
che die Rechtsgrundlage für die deutsche
Einheit geschaffen haben, dann weiß
man, dass sich Verträge in Rekordzeit ver-
handeln lassen“, sagte Pfeil dieser Zei-
tung. Die befürchteten schlimmen Folgen
eines ungeregelten Brexits mit vom Kanal-
tunnel bis in den Raum London reichen-
den Lastwagenstaus müssten eigentlich
zur Suche nach gemeinsamen Lösungen
anspornen.
Allerdings sei die Suche nach einem ge-
meinsamen Nenner nicht leicht. So sei
für die EU ein Beziehungsgeflecht nach
dem Muster der vielen Einzelverträge
mit der Schweiz nicht hinnehmbar. Eine
enge Anbindung Britanniens an den Bin-
nenmarkt nach dem Muster des Verhält-
nisses Norwegens zur EU sei dagegen
London schwer zu vermitteln, da dies
mit weiteren Beitragszahlungen an den
EU-Haushalt einhergehe. Als eine Mög-
lichkeit bietet sich aus Sicht der Juristin
das Handels- und Wirtschaftsabkommen
der EU mit Kanada (Ceta) an, das die
Streichung von 98 Prozent aller Zölle vor-
sieht sowie Handel und Investitionen bei-
derseits des Atlantiks fördern soll. Das
Problem sei jedoch, dass Britannien sich
bisher nicht auf eine klare Vision für das
künftige Verhältnis zur EU festgelegt
habe.

Kein Bedarf für Entlastung von Topverdienern
Das „Badische Tagblatt“ schreibt zu der vom Bundes-
kabinett gebilligten Abschaffung des Solidaritätszu-
schlags für den Großteil der Steuerzahler:
„Geradezu unredlich ist es, die Soli-Streichung für die
Reichsten zu einer Gerechtigkeitsfrage zu stilisieren, wie
es die Union tut. Denn vor allem jene, die viel haben, ha-
ben in den zurückliegenden 20, 30 Jahren profitiert. Ihre
Einkommen sind übermäßig gestiegen, während Unter-
und Mittelschicht den Gürtel enger zu schnallen hatten.
Der Spitzensteuersatz ist über die Jahre von 53 auf 42 Pro-
zent gesunken, die Vermögensteuer ist entfallen, die Erb-
schaftsteuer ist absurd niedrig... An einer weiteren Ent-
lastung von Topverdienern herrscht wahrlich kein Be-
darf – wohl aber an einem gerechten Steuersystem.“


Die Bundeswehr kämpft gegen Fluchtursachen
Die „Rhein-Zeitung“ (Koblenz) meint zum Bundes-
wehreinsatz gegen den „Islamischen Staat“ (IS):
„Die SPD will ein Ende des Anti-IS-Einsatzes der Bun-
deswehr – so wie AfD, FDP, Linke und Grüne auch. Da


ist es nur zu verständlich, dass sich die neue Verteidi-
gungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU)
nur mit Samthandschuhen und Millimeter für Millimeter
an eine Verlängerung herantastet. Dabei wäre der bis-
lang vorgesehene Abzug der Aufklärungstornados, Tank-
flieger und Ausbilder alles andere als im deutschen Inter-
esse. Hier steht die Koalition tatsächlich an einer Weg-
scheide. Denn es geht auch um die Bekämpfung der
Fluchtursachen. Wenn im ersten Halbjahr die mit Ab-
stand meisten Asylentscheidungen Menschen aus Syrien
und dem Irak betrafen, wie sollen wir dann in ein oder
zwei Jahren unseren Rückzug beim Blick in den Spiegel
vertreten können, wenn die Region noch instabiler ge-
worden ist und noch mehr Menschen flüchten?“

Jahrmarkt der Ungewissheiten
Die italienische Zeitung „La Repubblica“ kommen-
tiert die Regierungskrise in Rom:
„Es ist eine Krise wie ein Rummelplatz der sechziger
Jahre. Die Jahrmarkt-Darsteller sind gekommen. Sie fah-
ren seit Monaten blind, sie sind betrunken von Müdig-

keit, schmutzig von Staub, sie sind alle ein wenig un-
scharf auf dem Bild: Es ist die Hitzewelle im August.
Kommen Sie, die Herrschaften, kommen Sie. Es gibt die
Aufschneider, die falschen Doktoren, die schnellsten Jon-
gleure der Welt, die Frau mit den Flügeln. Kommen Sie,
nehmen Sie Platz. Es ist ein Spektakel. Die Schausteller
sind verkleidet als Minister, Parteichefs, aber die Masken
haben alle etwas, das nicht passt... Ausnahmsweise ist
auch die Geisterbahn geöffnet und das Kettenkarussell.
Es ist eine Last-Minute-Show der Straßenjongleure. Man
versteht nicht, was sie vorhaben und warum und warum
jetzt und was sie morgen machen wollen. Sie wissen es
einfach nicht.“

Speerspitze ungezügelter Europhobie
Die spanische Zeitung „El País“ schreibt:
„Der Rücktritt des italienischen Ministerpräsidenten
Giuseppe Conte ist die letzte Konsequenz für eine vor 14
Monaten geborene Anti-System-Regierung, die jeder Lo-
gik entbehrte und die sich aus einem Bündnis zwischen
der von der nationalistischen Lega verkörperten extre-

men Rechten und dem linken Populismus der Fünf-Ster-
ne-Bewegung zusammensetzte. Sie war kaum mehr als
ein Jahr an der Regierung und hat in dieser Zeit vor al-
lem dazu beigetragen, die institutionelle Krise des Lan-
des weiter zu verschärfen und Italien – eine der Grün-
dungsnationen des modernen europäischen Projekts –
zur Speerspitze einer ungezügelten Europhobie zu ma-
chen. Die illegale Migration ist dabei zum Instrument
des Wahlkampfs geworden, mit dem Lega-Chef Matteo
Salvini jetzt an den Urnen abkassieren will.“

Salvini kann nicht liefern, was Italien braucht
Die „Financial Times“ (London) meint dazu:
„Salvinis Versprechen, ein Paket von Steuersenkungen
in Höhe von 50 Milliarden Euro zur Stimulierung der
Wirtschaft unter Verstoß gegen die EU-Finanzvorschrif-
ten zu verabschieden, würde Italien auf Kollisionskurs
mit Brüssel bringen und seine Kreditkosten in die Höhe
treiben. Die italienische Wirtschaft braucht Auftrieb. Sie
braucht auch einen Plan, um ihr Wachstumspotential zu
erhöhen. Salvini kann keins von beidem liefern.“

STIMMEN DER ANDEREN


Der englische Begriff „Backstop“ lässt
sich im Deutschen etwa mit „Schutz“,
„Absicherung“ oder „Notanker“ über-
setzen. Dahinter verbirgt sich im Ver-
trag über den Austritt Großbritan-
niens aus der EU eine Regelung, die
verhindern soll, dass es nach dem Bre-
xit wieder Kontrollen an der Grenze
zwischen dem EU-Mitglied Irland und
dem zu Großbritannien gehörenden
Nordirland gibt. Der Vertrag sieht vor,
dass Großbritannien auch nach einer
bis Ende 2020 währenden Übergangs-
phase in der Zollunion mit der EU ver-

bleibt, falls bis dahin das künftige Ver-
hältnis zwischen London und der EU
nicht auf eine Weise geklärt ist, die
Grenzkontrollen entbehrlich macht.
Ausschlaggebend für die Aufnahme
dieses Notfallmechanismus in den Bre-
xit-Vertrag war die Sorge sowohl in
Brüssel als auch in London, dass durch
die Wiedereinführung von Grenzkon-
trollen der blutige Nordirland-Konflikt
wiederaufflammen könnte.Darin stan-
den sich katholische Nationalisten,
die einen Anschluss an Irland durch-
setzen wollten, und Protestanten ge-

genüber, die für den Verbleib im Verei-
nigten Königreich eintraten. Seit dem
„Karfreitagsabkommen“ von 1998 ist
Nordirland befriedet. Die EU-Partner
verweisen darauf, dass der „Backstop“
nur eine Notlösung sei. London be-
fürchtet, Großbritannien könnte durch
diese Regelung gezwungen sein, unbe-
fristet in der Zollunion zu bleiben, da
der „Backstop“ nicht einseitig künd-
bar ist. Das würde Großbritannien
den Abschluss bilateraler Handelsver-
träge mit anderen Ländern verbieten.
(now.)

Die berühmteste Klausel im Brexit-Vertrag


PARIS/BERLIN,22. August


E


in herzlicher Handschlag, aber kei-
ne Umarmung: Boris Johnson und
Emmanuel Macron machten gleich
bei der Begrüßung im Innenhof des Ely-
sée-Palastes am Donnerstagmittag klar,
dass sie eine gewisse Distanz wahren wol-
len. Außer einem „Merci, Emmanuel“,
sprach Johnson nicht französisch, wäh-
rend der Präsident zum Abschluss der
Pressestatements dem Gast aus London
„good luck“ („Viel Glück“) wünschte. Ma-
cron gilt seit dem Disput in Brüssel im
April mit Bundeskanzlerin Angela Mer-
kel über die Fristverlängerung für die Bre-
xit-Gespräche als Hardliner unter den Eu-
ropäern. Johnson bemühte sich an der Sei-
ne dann auch sofort, die Unterschiede
zwischen Merkel und Macron hervorzuhe-
ben. Er habe den „Esprit“ in Berlin als
sehr „positiv“ empfunden. Wenn er die
Bundeskanzlerin bei seinem Besuch am
Vorabend richtig verstanden habe – „ich
stand ja neben ihr“ – sei sie der Meinung,
in den nächsten 30 Tagen könne eine Lö-
sung im entscheidenden Streit über die
Backstop-Regelung gefunden werden. Ob
Macron genauso flexibel wie Merkel in
dieser Frage sei, wollte eine Reporterin
wissen, die von Johnson mit ihrem Vorna-
men angesprochen wurde.
Macron wirkte leicht irritiert darüber,
dass ihm mangelnde Flexibilität unter-
stellt wurde. „Die Bundeskanzlerin hat
unsere gemeinsame Überzeugung wieder-
holt, dass wir in den nächsten 30 Tagen
eine Klärung brauchen. Wir werden nicht
bis zum 31. Oktober warten“, sagte der
Präsident. Er hob hervor, dass es eine gro-
ße Einmütigkeit unter den Europäern
gebe. „Es ist nicht Sache eines einzelnen
EU-Partners, die Verhandlungen zum
Austrittsabkommen neu aufzunehmen“,
sagte er. Dann bekannte der Franzose
sich zu seiner Rolle als Hardliner. „Man

hat mich immer als Härtesten der Bande
beschrieben“, sagte er schmunzelnd.
Aber es sei doch wirklich so, dass alle in
den vergangenen Monaten „unter einem
Mangel an Effizienz“ gelitten hätten. Er
sei nicht dafür, die Dinge immer wieder
aufzuschieben. Schon beim EU-Gipfel im
April hatte er sich gegen einen neuen Auf-
schub ausgesprochen, während Merkel so-
gar über eine Fristverlängerung von ei-
nem Jahr verhandeln wollte. „Wir werden
im nächsten Monat nicht eine gänzlich
neue Austrittsvereinbarung finden“, sag-
te er. Der Backstop sei nicht irgendeine ju-
ristische Spitzfindigkeit, sondern ein zen-
trales Element des Austrittsabkommens.
Die Backstop-Regelung sei für die Stabili-
tät auf der irischen Insel ebenso entschei-
dend wie für die Integrität des Binnen-
markts, so der Franzose.
Johnson hingegen warb dafür, alternati-
ve Vereinbarungen zu finden. Er forderte
dazu auf, aufmerksam ein Papier des kon-
servativen Abgeordneten Greg Hands zu
lesen, in dem Vorschläge zu elektroni-
schen Überprüfungen ohne eine Wieder-
errichtung einer inneririschen Grenze un-
terbreitet würden. „Wir wollen auf keinen
Fall eine Grenze zwischen Nordirland
und der Republik Irland erzwingen“, sag-
te Johnson in Paris. Er hoffe auf eine „har-
monische Lösung“. Macron wies darauf

hin, dass es sein wichtigstes Anliegen sei,
die EU vor den negativen Folgen des Bre-
xits zu schützen. „Ich will das europäische
Projekt und unseren Binnenmarkt schüt-
zen und stärken“, sagte er. Wesentlich
mehr Einigkeit demonstrierten die bei-
den Staatsmänner, als es um die Frage ih-
rer bilateralen Beziehungen nach dem
Austritt Großbritanniens ging.
„Die Geographie ist dickköpfig“, sagte
Macron lächelnd. „Auch nach dem Brexit
liegt Großbritannien in Europa.“ John-
son wiederum zählte eine ganze Liste von
gemeinsamen Projekten auf, die Bestand
hätten. Zunächst nannte er die Waffenbrü-
derschaft. Französische und britische Sol-
daten dienten gemeinsam in Mali und in
Estland, sie hätten zusammen den Ein-
satz von Chemiewaffen durch das Regime
des syrischen Diktators Baschar al Assad
geahndet. Macron hob hervor, dass das
Lancaster-House-Abkommen zur Vertei-
digungspolitik in Kraft bleibe. „Wir ha-
ben den Eurotunnel“, sagte Johnson und
erzählte, dass er den britischen Botschaf-
ter in Paris darüber aufgeklärt habe, dass
die Schienen der meisten französischen
Hochgeschwindigkeitszüge vom Unter-
nehmen British Steel gefertigt würden.
„Er wusste das nicht“, sagte Johnson. Lon-
don sei die Stadt mit der größten französi-
schen Auslandsgemeinde, und das werde

auch nach dem Brexit hoffentlich so blei-
ben. Mit Blick darauf, dass Johnson die
EU-Partner für einen ungeregelten Brexit
verantwortlich machen könnte, stellte Ma-
cron schon vor dem gemeinsamen Mittag-
essen im Elysée-Palast klar, dass die Ver-
antwortung dafür allein bei London liege.
„Die britische Regierung kann jederzeit
den Austrittsantrag zurückziehen“, sagte
Macron am Mittwochabend bei einem Ge-
spräch mit der Journalistenvereinigung
„Presse Présidentielle“. Macron sprach
von einer „Krise der Demokratie“ in
Großbritannien, deren Auswirkungen
auch Europa belasteten. „Wir müssen den
Briten helfen, mit ihrer internen demokra-
tischen Krise klarzukommen, aber wir
dürfen nicht zur Geisel ihrer Krise wer-
den“, sagte er. Johnsons Forderung, die
Backstop-Regelung zur Grenze zwischen
Nordirland und Irland fallenzulassen, sei
waghalsig. Der nordirische Frieden sei
ein teures Gut, das nicht leichtfertig aufs
Spiel gesetzt werden dürfe, sagte er. „Der
Frieden auf der irischen Insel ist auch ein
europäischer Frieden“.
Als es am Mittwochabend in Berlin um
die Nordirland-Frage und den Brexit ge-
gangen war, hatte Johnson von seiner
Gastgeberin Angela Merkel einen klaren
Arbeitsauftrag erhalten. Merkel hatte
nach der Methode Zuckerbrot und Peit-

sche erst gesagt, dass man „vielleicht
auch in den nächsten 30 Tagen“ eine Lö-
sung für die künftige Grenze zwischen
der EU und dem zu Großbritannien gehö-
renden Nordirland finden könne. Der so-
genannte Backstop sei ja immer nur als
„Rückfallposition“ geplant gewesen, falls
man eine solche Lösung nicht finde.
Dann die Peitsche: „Auf der anderen Sei-
te muss oder sollte uns Großbritannien
natürlich auch sagen, welche Vorstellun-
gen es hat; denn es ist ja nicht die Kern-
aufgabe einer deutschen Bundeskanzle-
rin, die Verhältnisse zwischen der Repu-
blik Irland und Nordirland so gut zu ken-
nen.“ Deshalb wolle die EU nun die Vor-
schläge Großbritanniens hören. Am Don-
nerstag kam noch ein kleiner Peitschen-
hieb hinzu. Das mit den 30 Tagen wollte
sie nicht mehr wörtlich verstanden wis-
sen. „Besser gesagt, müsste man sagen:
Das kann man auch bis zum 31. Oktober
schaffen. Es geht also nicht um 30 Tage,
sondern sie waren sinnbildlich gemeint“,
sagte sie beim Besuch in Den Haag.
Konkretes ließ Johnson bei seinem kur-
zen Aufenthalt an der Spree kaum verlaut-
baren, außer, dass er von „elektronischen
Vorkontrollen und allen möglichen tech-
nischen Möglichkeiten“ sprach. Es gibt
Hinweise, dass London an ein Freihan-
delsabkommen mit der EU wie etwa das
mit Kanada denkt für die Zeit nach dem
Austritt. Deutlich wurde in Berlin, dass
Johnson im Backstop das letzte, jeden-
falls entscheidende Hindernis für einen
geregelten Austritt sieht. Zu vernehmen
war nach dem Treffen der beiden Regie-
rungschefs, dass es in anderen großen Fra-
gen der internationalen Politik, dem Um-
gang mit Iran, China, Syrien etwa, ver-
wandte Positionen in den beiden Haupt-
städten gebe.
An einem Tag, an dem der amerikani-
sche Präsident Trump mit dem Golfschlä-
ger durch den diplomatischen Porzellanla-
den zog, indem er einen Dänemark-Be-
such nur absagte, weil man ihm Grönland
nicht verkaufen wollte, genoss Johnson in
Berlin geradezu entzückt die Aufmerk-
samkeit, die ihm zuteil wurde. Merkel hat-
te ihn mit militärischen Ehren im Kanzler-
amt empfangen, Johnson schlenderte mit
hinter dem Rücken gekreuzten Händen
über den roten Teppich, als staune er über
das, was ihm gerade widerfahre. „So et-
was Großartiges habe ich, glaube ich, in
meinem Leben überhaupt noch nicht er-
lebt“, jauchzte er. Während des gemeinsa-
men Presseauftritts mit der Kanzlerin
machte er kleine Scherze. „Wir schaffen
das“, sagte er auf Deutsch mit Blick auf
den Brexit. Das sei doch der Satz? Ja, das
war der Satz, der Merkel in der Flücht-
lingskrise oft vorgehalten worden war.

BRÜSSEL, 22. August. Angela Mer-
kel und Gastgeber Mark Rutte sind
sich am Donnerstag treu geblieben.
Während der niederländische Minister-
präsident nach dem schwerpunktmä-
ßig dem Klimaschutz gewidmeten Tref-
fen mit der Bundeskanzlerin im Cats-
huis, seinem Haager Amtssitz, von ei-
ner „wirklich gelungenen Zusammen-
kunft“ schwärmte, fiel die Bewertung
Merkels ebenfalls positiv aus, aber
deutlich weniger überschwänglich. Die
Kanzlerin sprach von einer „sehr pro-
duktiven, auf die Sache konzentrier-
ten“ Sitzung; von deutscher Seite hat-
ten auch Bundesumweltministerin
Svenja Schulze, Finanzminister Olaf
Schulz sowie der gut Niederländisch
sprechende Wirtschaftsminister Peter
Altmaier teilgenommen. Auf uneinge-
schränkte Zustimmung der Gäste konn-
te Rutte jedoch rechnen, als er sagte:
„Wir können voneinander lernen.“ Ei-
nig sind sich beide Seiten über das
Ziel, bis 2050 für Klimaneutralität zu
sorgen. Durch Austausch von Erfah-
rungen und verstärkte grenzüberschrei-
tende Zusammenarbeit in der Klima-
und Energiepolitik wollen sie Wege
aufzeigen, dieses ehrgeizige Ziel zu er-
reichen, ohne dabei die wirtschaftliche
Wettbewerbsfähigkeit deutscher und
niederländischer Unternehmen aufs
Spiel zu setzen.
Vom derzeitigen EU-Ziel, den Aus-
stoß des Treibhausgases Kohlendioxyd
bis 2030 um 40 Prozent gegenüber
1990 zu senken, sind sowohl Deutsche
als auch Niederländer weit entfernt.
Das Land der Polder und Windmühlen
erreichte bis 2017 nur eine Verringe-
rung der Emissionen um 13 Prozent,
während in Deutschland der Ausstoß
bis 2018 um 30 Prozent gesunken war.
Die Niederländer haben zumindest in
einer Hinsicht die Nase vorn: Schon im
Juni wurde ein Klimapakt ausgehan-
delt. Er sieht vor, die Emissionen bis
2030 um 49 Prozent zu senken. Die Ver-
einbarung sieht unter anderem eine
Klimaschutzabgabe für Unternehmen
und Mindestpreise für Kohlendioxyd
bei der Erzeugung von Strom vor. 2030
sollen zudem 70 Prozent des Stromver-
brauchs erneuerbaren Energiequellen
entstammen.
Merkel bekräftige in Den Haag, dass
das Klimakabinett der Bundesregie-
rung am 20. September ebenfalls ein
ehrgeiziges Maßnahmenpaket vorle-
gen wolle. Ziel ist es, über die EU-Vor-
gabe einer Senkung des Ausstoßes von
Kohlendioxid um 40 Prozent hinwegzu-
gehen und eine Verringerung um 55
Prozent bis 2030 anzustreben. Merkel
gab in Den Haag jedoch auch zu beden-
ken, dass Deutschland bisher in der EU
überdurchschnittlich zur Verringerung
der Treibhausgasemissionen beigetra-
gen habe. Umstritten ist in Deutsch-
land insbesondere, ob sich das Minde-
rungsziel besser durch eine Besteue-
rung von Kohlendioxyd oder durch
eine Ausweitung des in der EU gelten-
den Systems des Handels mit Emissi-
onsrechten (ETS) erreichen lässt.
Auf die Frage, was die Niederlande
beim Klimaschutz von Deutschland
lernen könnten, nannte Rutte an ers-
ter Stelle die beim östlichen Nachbarn
resolut vorangetriebene Förderung er-
neuerbarer Energien, nicht zuletzt der
auf dem Land und auf dem Meer ge-
wonnenen Windkraft. Auch der Wah-
rung der internationalen Wettbewerbs-
fähigkeit werde bei Klimaschutzmaß-
nahmen eine hohe Priorität beigemes-
sen. Dass die Niederlande – jahrelang
selbst Gasproduzent – diesem Energie-
träger anders als Deutschland, das
erst jetzt verstärkt auf Gas umsteige,
weniger Bedeutung beimäßen, begrün-
dete Merkel damit, dass man in
Deutschland bisher stark auf umwelt-
belastenderes Heizöl gesetzt habe. Sie
gestand zwar ein, dass das Ziel, in
Deutschland bis 2020 auf eine Million
Elektrofahrzeuge zu kommen, ver-
fehlt werde. 2021 oder 2022 werde es
aber voraussichtlich so weit sein. „Im
Großen und Ganzen sind wir auf dem
richtigen Pfad“, sagte die Kanzlerin.
Sie kündigte an, dass auch bei den An-
fang Oktober stattfindenden deutsch-
niederländischen Konsultationen das
Thema Klimaschutz behandelt wer-
den solle.(Kommentar Seite 8.)


Wenn Johnson die Kanzlerin richtig verstanden hat


Auf gar keinen Fall Kontrollen


Brüssel und London wollen eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland vermeiden / Von Michael Stabenow


Lernstunde in


Den Haag


Deutsche und Holländer


beraten über Klimaschutz


Von Michael Stabenow


Der neue britische


Premierminister lobt in


Paris den „Esprit“, den


er in Berlin gespürt zu


haben glaubt. Präsident


Macron macht ihm


wenig Hoffnung.


Von Eckart Lohse und


Michaela Wiegel


Ein beseelter Gast:Premierminister Boris Johnson am Donnerstag mit Präsident Emmanuel Macron in Paris Foto Reuters

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