Frankfurter Allgemeine Zeitung - 23.08.2019

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SEITE 4·FREITAG, 23. AUGUST 2019·NR. 195 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


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Köpping mit Tod bedroht
Unbekannte haben Sachsens Integra-
tionsministerin Petra Köpping (SPD)
mit dem Tode bedroht. Eine konkrete
Morddrohung sei vor einer Buchlesung
am Mittwochabend im nahe Leipzig ge-
legenen Brandis eingegangen, berichte-
te die „Leipziger Volkszeitung“. Eine
Sprecherin von Köppings Ministerium
bestätigte den Bericht am Donnerstag.
Demnach haben Polizisten die Lesung
abgesichert. Köpping bewirbt sich ge-
meinsam mit Niedersachsens Innen-
minister Boris Pistorius um den SPD-
Bundesvorsitz. (AFP)

Giffey: Freifahrten für Freiwillige
Bundesfamilienministerin Franziska
Giffey (SPD) hat sich für kostenlose
Bahnfahrten für Menschen im Freiwil-
ligendienst ausgesprochen. Mit der
Deutschen Bahn wolle sie darüber re-
den, sagte Giffey am Donnerstag. Zu
einer entsprechenden Forderung des
Paritätischen Gesamtverbands sagte
Giffey: „Freie Fahrt für Freiwillige, das
ist eine Forderung, die ich absolut rich-
tig finde.“ Der Weg dahin sei aber
nicht von heute auf morgen gemacht.
Richtig sei es aber, damit anzufangen,
„zum Beispiel beim Freiwilligenjahr
mit einem Zuschuss für das Ticket im
öffentlichen Nahverkehr vom Wohn-
ort zur Einsatzstelle“, sagte Giffey. Ihr
im Dezember vorgelegtes Konzept für
ein neues Jugendfreiwilligenjahr sehe
dies bereits vor, allerdings fehlten
noch die nötigen Mittel im Bundes-
haushalt. Verteidigungsministerin An-
negret Kramp-Karrenbauer (CDU) hat-
te zuvor erreicht, dass Soldaten in Uni-
form vom 1. Januar an kostenlos in
Fernzügen fahren dürfen. (dpa)

Südkorea kündigt Abkommen
In einer Verschärfung des Streits über
Handelsbeziehungen hat Südkorea am
Donnerstag ein Sicherheitsabkommen
mit Japan über den Austausch von mili-
tärischen Geheimdienstinformationen
aufgekündigt. Die Entscheidung von
Präsident Moon Jae-in fiel nach einer
Sitzung des nationalen Sicherheitsrats
in Seoul. Das unter Druck der Vereinig-
ten Staaten erst 2016 geschlossene Ab-
kommen, mit dem Südkorea und Japan
ihre Verteidigungsbereitschaft gegen-
über der nordkoreanischen Bedrohung
stärken wollten, wird damit im Novem-
ber nicht mehr automatisch verlängert.
Südkorea eskaliert mit dem Beschluss
eine diplomatische Krise mit Japan,
nachdem die beiden Länder sich in
den vergangenen Wochen schon gegen-
seitig Handelsvorteile als bevorzugter
Handelspartner entzogen hatten. Hin-
tergrund des Konflikts ist der Streit dar-
über, ob japanische Unternehmen
noch Entschädigung für den Einsatz
früherer koreanischer Zwangsarbeiter
während des Zweiten Weltkriegs zah-
len müssen. (pwe.)

DRESDEN,22. August


A


ls das Urteil ergeht, ist es still im
Saal. Zu neun Jahren und sechs
Monaten Haft verurteilt das Land-
gericht Chemnitz am Donnerstag den
Asylbewerber Alaa S., weil er Ende Au-
gust vergangenen Jahres auf dem Chem-
nitzer Stadtfest den Familienvater Daniel
H. getötet hat. „Anhand der erwiesenen
Tatsachen sind jegliche Zweifel ausge-
räumt“, betont die Richterin unerwartet
deutlich. Der Angeklagte sei des gemein-
schaftlichen Totschlags und der gefährli-
chen Körperverletzung schuldig.
Der letzte Verhandlungstag in dem Ver-
fahren hatte mit einem emotionalen Plä-
doyer der Vertreter der Nebenklage be-
gonnen. Es sei tragisch, wenn man das ei-
gene Kind zu Grabe tragen müsse, „noch
dazu, wenn es durch eine sinnlose und
brutale Tat aus dem Leben gerissen
wird“, sagte der Anwalt der Mutter von
Daniel H., die ebenso wie seine Schwes-
ter jeden Tag dem Verfahren beiwohnte.
„Der Tod hat ein tiefes Loch in das Leben
der Familie gerissen, die Trauer ist uner-
messlich.“ Es sei der verständliche
Wunsch der Mutter, der Schwester sowie
der Lebensgefährtin Daniel H.s, den Tä-
ter zur Verantwortung zu ziehen. „Wir
sind überzeugt, dass Alaa S. der Täter ist,
und wir hätten es als anständig empfun-
den, wenn der Angeklagte ein Geständnis
abgelegt hätte.“ Elf Jahre Haft hatte die
Nebenklage gefordert, ein Jahr mehr als
die Staatsanwaltschaft.
Die Verteidigung hatte dagegen auf
Freispruch aus Mangel an Beweisen plä-
diert. „Es war nicht aufzuklären“, sagte
die Anwältin des Angeklagten. Man wisse
lediglich, dass es am Tattag eine Ausein-
andersetzung mit vielen Beteiligten gege-
ben habe, in der Summe aber passten die
Beweise für die Schuld ihres Mandanten
„vorne und hinten nicht zusammen“. Der
genaue Tatort sei unbekannt; ebenso, ob
ein oder zwei Messer verwendet wurden
und wer überhaupt alles in die Auseinan-
dersetzung verwickelt gewesen sei. Der
Hauptbelastungszeuge, auf den sich die
Staatsanwaltschaft stütze, habe sich in Wi-
dersprüche verwickelt und sei unglaub-
würdig. Im Übrigen habe man es mit kei-
nem normalen Schwurgerichtsverfahren,
sondern mit einem politisch überformten
Prozess zu tun. „Die Erwartungen der Po-
litik und die Angst vor neuen Auseinan-
dersetzungen“ hätten die Agenda be-
stimmt. „Man brauchte einen Schuldigen,
damit in Chemnitz Ruhe herrscht.“ Die
Richterin wies das ausdrücklich zurück,


die Kammer sei „unbeeindruckt von der
politischen und medialen Dimension des
Falls zu ihrem Urteil gelangt“, sagte sie.
Tatsächlich ist das politische Signal,
das von dem Urteil ausgeht, nicht zu un-
terschätzen. Es ergeht fast auf den Tag ge-
nau ein Jahr nach der Tat und zehn Tage
vor der Landtagswahl in Sachsen. Zwar
hat die Tat bisher im Wahlkampf keine
Rolle gespielt, doch lagen von Anfang an
auch enorme politische Erwartungen auf
dem Prozess. Sie hoffe, dass damit die
Umstände der Tat öffentlich würden, hat-
te etwa die Chemnitzer Oberbürgermeis-
terin Barbara Ludwig (SPD) im März er-
klärt und hinzugefügt: „Ich hoffe aber
noch mehr, dass es eine Verurteilung gibt,
damit die Angehörigen Ruhe finden kön-
nen.“ Ludwig ist dafür heftig kritisiert
und an die Unabhängigkeit der Justiz erin-
nert worden – auch am Donnerstag von
den Verteidigern des Angeklagten.
Die Ereignisse indes haben die Politike-
rin schwer mitgenommen. „Es gab schon
mal Tränen, weil ich so fertig war und
weil ich mit dieser Stadt leide“, sagte sie
dieser Zeitung im Frühjahr. Vor dem


  1. August des vergangenen Jahres habe
    überregional kein Bild von Chemnitz exis-
    tiert, danach seien es „Aufmärsche, Hit-
    lergruß und ein nackter Arsch“ gewesen,
    den einer der Rechtsextremen Reportern
    entgegengestreckt hatte. Den Demonstra-
    tionen, zu denen die rechtsextreme Grup-
    pierung „Pro Chemnitz“ sowie Hooligan-
    gruppen via Internet Tausende Menschen
    aus ganz Deutschland blitzschnell mobili-


siert hatten, war die Falschmeldung eines
Boulevard-Portals vorausgegangen, in
der es hieß, dass Daniel H. einer von Asyl-
bewerbern bedrängten Frau zu Hilfe ge-
eilt und daraufhin erstochen worden sei.
Die Polizei dementierte das schnell, doch
da nahmen die Ereignisse schon ihren
Lauf. Die AfD und die islamfeindliche Pe-
gida-Bewegung nutzten umgehend das po-
litische Potential der Tat, sie riefen zu De-
monstrationen gegen die Flüchtlingspoli-
tik der Bundesregierung auf und liefen da-
für auch Seite an Seite mit Rechtsextre-
misten durch die Stadt.
Chemnitz war daraufhin tagelang und
weltweit in den Schlagzeilen, und im
Nachgang der Ereignisse wäre beinahe
die Bundesregierung am Streit über den
damaligen Präsidenten des Bundesverfas-
sungsschutzes, Hans-Georg Maaßen, zer-
brochen. Der hatte in einem Interview er-
klärt, keine Erkenntnisse über Hetzjag-
den in Chemnitz zu haben, und die Echt-
heit eines Handy-Videos, das eine solche
vermeintlich zeigte, bezweifelt. Tatsäch-
lich stellte sich das Video als echt heraus,
ob darauf jedoch eine Hetzjagd zu sehen
ist und ob es überhaupt eine solche gege-
ben hat, ist bis heute umstritten. Der Chef-
redakteur der Chemnitzer Zeitung „Freie
Presse“, Torsten Kleditzsch, schrieb da-
mals, der Begriff sei nicht zutreffend. Es
habe Angriffe aus den Demos heraus auf
Migranten, Andersdenkende und die Poli-
zei gegeben, aber man habe weder Hetz-
jagden beobachtet, noch kenne man Vi-
deos, die solche zeigten. „Der offen zuta-

ge getretene Hass war schrecklich genug.
Er bedarf keiner Dramatisierung.“
Das Verbrechen und die nachfolgenden
Ereignisse haben Chemnitz verändert.
An der Stelle im Zentrum, an der Daniel
H. zu Tode kam, ist eine Gedenkplatte ein-
gelassen, Blumen und Kerzen stehen da-
neben. Die Hoffnung, dass der Prozess
Licht in die der Tat vorausgehenden Ereig-
nisse bringen würde, hat sich jedoch
kaum erfüllt. Von Beginn an glich das Ver-
fahren einer mühsamen Puzzlearbeit, die
zudem durch andauernde verbale Schar-
mützel zwischen Staatsanwalt und Vertei-
digung überlagert wurde. Was jedoch zu
der Auseinandersetzung in jener Nacht
führte und warum sie eskalierte, war nur
schwer zu ermitteln. Fast 100 Zeugen wur-
den in 20 Verhandlungstagen vernom-
men, die sich meist einsilbig auf Erinne-
rungslücken oder Verständigungsschwie-
rigkeiten beriefen. In den polizeilichen
Vernehmungen in den Tagen nach der Tat
hatten viele von ihnen noch präzisere An-
gaben gemacht, darunter auch der einsti-
ge Mitarbeiter eines Döner-Imbisses, der
in unmittelbarer Nähe des Tatorts liegt.
Der aus dem Libanon stammende Mann
hatte sich aus eigenem Antrieb bei der Po-
lizei gemeldet und geschildert, wie er ge-
sehen habe, dass der Angeklagte Schlag-
und Stichbewegungen gegen das Opfer
ausgeführt habe. Ein Messer habe er je-
doch nicht erkannt.
Vor Gericht wollte der 30 Jahre alte
Mann jedoch zunächst gar nicht aussagen
und berief sich, als er von der Richterin

dennoch verpflichtet wurde, auf Erinne-
rungslücken und darauf, missverstanden
worden zu sein. Dabei dürfte eine Rolle
spielen, dass er laut eigener Aussage seit
seiner Vernehmung bei der Polizei be-
droht werde. Er befindet sich heute im
Zeugenschutzprogramm und wurde auch
vor Gericht von Personenschützern be-
gleitet. Der Staatsanwalt berief sich in sei-
nem Plädoyer vor allem auf die Aussage
des Libanesen, dessen Glaubwürdigkeit
die Verteidigung wiederum während des
gesamten Verfahrens zu erschüttern ver-
suchte. An dessen Kernaussage aber habe
sich nichts geändert, erklärte der Staats-
anwalt, vielmehr habe der Zeuge sie
„stets gleichartig“ wiedergegeben und
obendrein beide Täter, die unmittelbar zu-
vor in dem Imbiss weilten, in dem er als
Koch arbeitete, zumindest vom Sehen ge-
kannt.
Nach Überzeugung des Gerichts löste
der als streitsüchtig und gewalttätig be-
kannte irakische Asylbewerber Farhad A.
den verhängnisvollen Gang der Ereignis-
se aus, als er in jener Nacht zunächst in ei-
nem Döner-Imbiss randalierte, Gäste als
„Nazis“ beschimpfte, sich, ohne zu bezah-
len, ein Bier nahm und anschließend drau-
ßen auf das spätere Opfer traf, das er
nach Kokain fragte. Daniel H. soll darauf-
hin „Verpiss dich“ geantwortet haben,
woraufhin eine Rangelei mit mehreren
Beteiligten entstand. Der Angeklagte
Alaa S. eilte daraufhin einem beteiligten
Bekannten zu Hilfe; er habe Daniel H. am
Nacken gepackt, ihn geschlagen und dann
mehrfach auf ihn eingestochen und
schließlich während des Weglaufens ei-
nem weiteren Mann ein Messer in den Rü-
cken gestoßen. Das Messer mit Blutspu-
ren beider Opfer wurde später auf dem
Fluchtweg gefunden. Farhad A. hielt sich
noch einige Tage in Chemnitz versteckt,
ehe er außer Landes flüchtete; er wird bis
heute mit internationalem Haftbefehl ge-
sucht. Alaa S. hingegen musste sich vor
Gericht verantworten. Als ihm die Richte-
rin am Donnerstag die Gelegenheit für
letzte Worte gab, brach er erstmals kurz
sein Schweigen. „Ich kann nur hoffen,
dass hier die Wahrheit ans Licht gebracht
wird“, sagte er mit Hilfe seines Dolmet-
schers. „Es tut mir leid, was der Familie
widerfahren ist. Ich hoffe nicht, das zwei-
te Opfer des eigentlichen Täters sein zu
müssen, indem ich für etwas bestraft wer-
de, das er getan hat. Das ist meine einzige
Hoffnung.“
Die Stadt Chemnitz indes hofft, nun
wieder Ruhe zu finden und künftig ande-
re Bilder in die Welt zu senden. Anstelle
des Stadtfestes, das wegen der Ereignisse
für dieses Jahr abgesagt wurde, soll am
Wochenende ein Bürgerfest stattfinden.
Unter dem Titel „Herzschlag“ wollen
Chemnitzer Bürger ein unbelastetes Festi-
val mit Musik, Kleinkunst und Vergnügun-
gen feiern. Doch auch die rechtsextreme
Vereinigung „Pro Chemnitz“ hat für Sonn-
tag eine Demonstration angemeldet. Die
Angehörigen Daniel H.s wandten sich am
Donnerstag noch im Gerichtssaal ent-
schieden dagegen. Die Tat sei nicht poli-
tisch motiviert gewesen, erklärte ihr An-
walt. Dass sie von politischen Kräften in-
strumentalisiert werde, damit seien sie
„überhaupt nicht einverstanden“.

Wichtiges in Kürze


WIESBADEN, 22. August.Die Vorwür-
fe gegen den Hessischen Verfassungs-
schutz wiegen schwer. Dieser führte nicht
nur über den mutmaßlichen Mörder von
Walter Lübcke, Stephan E., eine Akte, son-
dern auch über den Mann, der E. half, sich
Waffen zu beschaffen und gegen den des-
wegen wegen Beihilfe ermittelt wird: Mar-
kus H. Das teilte Hessens Innenminister
Peter Beuth (CDU) am Donnerstag im In-
nenausschuss des Landtags mit. H. war
ein bekannter Rechtsextremist, trotzdem
gelang es ihm, sich juristisch gegen die
Stadt Kassel durchzusetzen und eine Waf-
fenbesitzkarte mit Munitionsberechtigung
zu erhalten. Auch deswegen, weil das Lan-
desamt für Verfassungsschutz mit der Waf-
fenbehörde offenbar nicht alle Informatio-
nen teilte, die es über H. besaß.
Die Stadt Kassel hatte H. 2007 einen
ersten Antrag auf eine Waffenbesitzkarte
verwehrt, 2012 stellte H. einen weiteren
Antrag und setzte sich damit 2015 in ei-
nem Rechtsstreit durch. Wer eine Waffe
besitzen will, muss sich laut Waffengesetz
einer Zuverlässigkeitsprüfung unterzie-
hen, Informationen von Polizei und Staats-
anwaltschaft werden eingeholt. H. war,


wie es in dem Urteil von 2015 heißt, 2006
wegen des Verwendens eines Kennzei-
chens einer verfassungsfeindlichen Orga-
nisation verurteilt worden. Bis 2009 hat er
an NPD-Veranstaltungen teilgenommen.
Laut Landesamt für Verfassungsschutz –
so zitiert das Gericht – skandierte er 2006
in einer Gaststätte „Sieg Heil“ und zeigte
den Hitlergruß, 2008 nahm er an einer
NPD-Demo in Fulda teil. 2009 wurde er
unter anderem wegen gefährlicher Körper-
verletzung nach einer Demonstration von
Rechtsextremen in Dortmund festgenom-
men, die Vorwürfe wurden dann aller-
dings fallengelassen.
Nach 2009 erfolgten offenbar keine wei-
teren strafrechtlich relevanten Vergehen.
Im Gerichtsbeschluss des Verwaltungsge-
richts Kassel vom März 2015 heißt es: Das
Landesamt für Verfassungsschutz habe
mitgeteilt dass seit 2012 „keine weiteren
Erkenntnisse zur Person des Klägers“ vor-
lägen, „die gegen die Zuverlässigkeit im
Sinne des (.. .) Waffengesetzes sprächen“.
Das Gericht habe „keinen Zweifel“ daran,
dass sich der Kläger in einem rechtsextre-
men Umfeld bewegt habe. Doch Vorgän-
ge, die mehr als fünf Jahre zurücklägen,

lösten die „Annahme der Regel-Unzuver-
lässigkeit nicht aus“. Wer fünf Jahre lang
nicht erkennbar gegen die verfassungsmä-
ßige Ordnung agiert, darf eine Waffenbe-
sitzkarte erhalten. H. soll im „Schützen-
club 1952 Sandershausen“, in dem auch E.
Mitglied war, dann mit eigenen Waffen ge-
schossen haben.
2015, 2016, 2017 und am 1. Februar die-
ses Jahres gab es nach Angaben Beuths
bei H. „unangekündigte Aufbewahrungs-
kontrollen“ der Waffen, jedoch „ohne Be-
anstandung“. So häufig werden Waffenbe-
sitzer normalerweise nicht kontrolliert;
die Behörden hatten H. also weiterhin auf
dem Schirm. Er soll ebenso wie E. Mit-
glied in der rechtsextremen Kamerad-
schaft „Freier Widerstand Kassel“ gewe-
sen sein. Laut NDR, WDR und „Süddeut-
scher Zeitung“, die zuerst über den Fall
berichtet hatten, belegen das Fotos. Un-
klar ist, wie lange H. dort Mitglied war.
Fraglich ist auch, warum der Verfassungs-
schutz diese Informationen nicht mit der
Waffenbehörde teilte.
Das Landesamt reagierte am Donners-
tag zunächst nicht auf eine Anfrage. Ein
Sprecher des Innenministeriums wies dar-

auf hin, dass der Verfassungsschutz ein
„Behördenzeugnis“ ausstellen und damit
den Waffenbehörden mitteilen könne, ob
Erkenntnisse zu einer Person vorlägen.
Das reicht jedoch vor Gericht nicht aus,
um die Zuverlässigkeit zu entsagen. Vor
Gericht muss angeführt werden, warum
die Unzuverlässigkeit gilt. Der Verfas-
sungsschutz dürfe hier jedoch „nur frei zu-
gängliche Informationen mitteilen“, so
der Sprecher, – wie etwa die Tatsache,
dass H. bei der Demonstration festgenom-
men worden sei. Nicht aber „eingestufte“
Informationen. Diese könnten andern-
falls vor Gericht öffentlich werden und da-
durch „die operative Arbeit der Sicher-
heitsbehörden gefährden“. Es gelte, Quel-
len sowie die weitere Ermittlungsarbeit
zu schützen. Das sei ein „grundsätzliches
Problem“, so der Sprecher.
Denn wozu sammelt der Verfassungs-
schutz Informationen, wenn dies im Falle
eines Rechtsextremisten, der sich Waffen
beschaffen will, ohne Auswirkung bleibt?
Wann, wenn nicht dann? Der Parlamenta-
rische Geschäftsführer der SPD-Fraktion
im Hessischen Landtag, Günter Rudolph,
sprach von einem „ungeheuerlicher Vor-

gang“. Wenn es um die Sicherheit und den
Schutz von Menschen gehe, sei es „nicht
akzeptabel“, dass der Verfassungsschutz
wesentliche Informationen als so geheim
einstufe, so Rudolph. Wenn die Behörde
wichtige Erkenntnisse nur sammle, aber
nicht nutze, gefährde sie die eigene Legiti-
mation. Der innenpolitische Sprecher der
Fraktion der Linkspartei, Hermann
Schaus, nannte den Vorgang „absurd“. Der
Verfassungsschutz sei „verpflichtet, ent-
sprechende Informationen weiterzuge-
ben“. Hier werde mit „abwegigen Schutzbe-
hauptungen“ versucht „Fehlleistungen des
Landesamts reinzuwaschen“, so Schaus.
Die Hessische Landesregierung dringt
selbst bereits seit längerem auf eine Geset-
zesänderung. Demnach soll allein die Tat-
sache, dass der Verfassungsschutz Infor-
mationen zu einer Person besitzt, für de-
ren waffenrechtliche Unzuverlässigkeit
ausreichen. Hessen hatte dazu bereits im
vergangenen Jahr einen Vorstoß im Bun-
desrat unternommen, der allerdings da-
mals keine Mehrheit fand. Vor dem Hin-
tergrund des Falls Lübcke ist in Wiesba-
den nun die Hoffnung groß, dass sich das
bald ändern dürfte.

jib.WIESBADEN, 22. August. Die
hessische Landesregierung will
schwangere Frauen, die zu Beratungs-
stellen oder ärztlichen Einrichtungen
kommen, besser schützen. Hinter-
grund ist, dass Abtreibungsgegner wie-
derholt vor Beratungsstellen oder Arzt-
praxen mit sogenannten Mahnwachen
protestiert hatten. Das Landesinnen-
ministerium gab für die Städte und Ge-
meinden einen Erlass heraus, wonach
keine ratsuchenden Frauen vor Bera-
tungsstellen angesprochen, bedrängt
oder belästigt werden dürfen. Zudem
dürfen ihnen keine Gespräche oder In-
fomaterialien aufgezwungen werden.
Demonstrationen oder Mahnwachen
seien nur dort erlaubt, wo „kein Sicht-
oder Rufkontakt mit der Beratungsstel-
le besteht“, heißt es in dem Papier. Ein
solcher Eingriff in das Versammlungs-
recht sei „in der Regel zulässig, wenn
nicht sogar geboten“, um das Persön-
lichkeitsrecht zu schützen. Es sei das
Recht der Frauen, „vertraulich und auf
Wunsch auch anonym“ beraten zu wer-
den. Die innenpolitische Sprecherin
der Grünen-Fraktion Eva Goldbach
sagte, die Ordnungsbehörden der Kom-
munen müssten nun die Demonstratio-
nen und das Bedrängen der Frauen in
Sicht- und Rufweite vor den Beratungs-
stellen unterbinden. Zu dem Thema be-
reitet die Landesregierung einen Ge-
setzentwurf vor, am Donnerstag gab es
dazu eine Anhörung.

Wann, wenn nicht dann?


Hessens Verfassungsschutz hat offenbar Waffenbehörden nicht ausreichend über einen Unterstützer des Lübcke-Mörders informiert / Von Julian Staib


Mehr Schutz für


Schwangere vor


„Mahnwachen“


Eine Tat als Projektionsfläche


Schöne Grüße aus Chemnitz:Vor einem Jahr demonstrieren Tausende Rechtsextreme in der Stadt. Foto AFP


Für die Herstellung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird ausschließlich Recycling-Papier verwendet.


Vor einem Jahr wurde


auf dem Chemnitzer


Stadtfest ein 35 Jahre


alter Mann erstochen.


Nun hat das Gericht


einen der Täter


verurteilt.


Von Stefan Locke

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