Frankfurter Allgemeine Zeitung - 23.08.2019

(Barré) #1

SEITE 8·FREITAG, 23. AUGUST 2019·NR. 195 Zeitgeschehen FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


VILNIUS,22. August
Angonita Rupsyte war nicht dabei, als sich
die Menschen am Abend des 23. August
1989 um 19.00 Uhr an den Händen fass-
ten. Sie hatte gerade einmal Zeit, zwi-
schen zwei Telefonaten kurz aus dem Fens-
ter auf den Platz vor der Kathedrale in Vil-
nius zu schauen. Was in diesem Moment
geschah, wurde ihr erst in den Tagen da-
nach klar: „Das haben wir erst verstanden,
als wir die ganzen Bilder gesehen haben.“
Dabei hatte sie wochenlang auf diesen Au-
genblick hingearbeitet, in dem sich eine
etwa 670 Kilometer lange Menschenkette
von Vilnius über Riga nach Tallinn
schloss. Der Erfolg der Aktion „Baltischer
Weg“ übertraf ihre Erwartungen: Schät-
zungsweise zwei Millionen Menschen de-
monstrierten für die Unabhängigkeit Li-
tauens, Lettlands und Estlands von der
Sowjetunion – ungefähr jeder vierte Ein-
wohner der drei Länder.
Aufgekommen war die Idee für diese
Aktion im Mai 1989 in Estland, als Vertre-
ter der Unabhängigkeitsbewegungen der
drei Republiken überlegten, wie sie den


  1. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts bege-
    hen sollten. Durch den am 23. August
    1939 geschlossenen Nichtangriffspakt der
    beiden totalitären Diktaturen hatten die


Länder die Unabhängigkeit verloren, die
sie am Ende des Ersten Weltkriegs 1918
errungen hatten. Hunderttausende wur-
den in den ersten Jahren der sowjetischen
Okkupation nach Sibirien deportiert. Die
Erinnerung an die Übereinkunft Hitlers
und Stalins sollte deutlich machen, dass
die Wiederherstellung der Eigenstaatlich-
keit nicht nur eine politische Frage war,
sondern eine der historischen Gerechtig-
keit und der Wahrheit.
Das Datum war für den Widerstand ge-
gen die sowjetische Okkupation schon zu-
vor von großer symbolischer Bedeutung.
Zum 40. Jahrestag des Pakts 1979 hatten
45 litauische, lettische und estnische Dissi-
denten in einem an die UN gerichteten Me-
morandum die Wiederherstellung der Un-
abhängigkeit ihrer Staaten gefordert. Vie-
le der Unterzeichner wurden zu Haftstra-

fen verurteilt. Am 23. August 1987 fand in
Vilnius die erste Demonstration statt, auf
der Litauens Unabhängigkeit gefordert
wurde. Sie hatte nur zwischen 500 und tau-
send Teilnehmer, wirkte aber wie ein
Weckruf. Am nächsten Jahrestag demons-
trierten 1988 in zwischen 250 000 und
300 000 Menschen in Vilnius.
Zum 50. Jahrestag wollten die Unabhän-
gigkeitsbewegungen der baltischen Repu-
bliken gemeinsam ein Zeichen setzen. Ih-
ren Abgeordneten beim Volksdeputierten-
kongress der Sowjetunion war es im Früh-
sommer gemeinsam mit russischen Demo-
kraten gelungen, die Einsetzung einer
Kommission zu erzwingen. Sie sollte die
Wahrheit über die geheimen Zusatzproto-
kolle ans Licht bringen, mit denen Hitler
und Stalin die zwischen ihren Reichen lie-
genden Länder untereinander aufgeteilt
hatten. Die sowjetische Führung leugnete
die Existenz dieses Dokuments, dessen In-
halt im Westen seit 1946 bekannt war, das
im Original aber nicht vorlag, weil das
deutsche Exemplar vermutlich 1945 in
Berlin verbrannt war.
Die Entscheidung, die Hauptstädte Li-
tauens, Lettlands und Estlands mit einer
Menschenkette zu verbinden, fiel Mitte
Juli 1989. „Wir hatten Zweifel, ob das
klappt“, erinnert sich Angonita Rupsyte,
die in Litauen eine der Koordinatorinnen

der Aktion war. „Deshalb haben wir die
Leute aufgefordert, schwarze Bänder und
Kerzen mitzubringen – sie sollten die Lü-
cken als Symbole für diejenigen füllen, die
nicht kommen können, weil sie in den La-
gern in Sibirien umgekommen sind.“ Die
geplante Strecke wurde in Abschnitte un-
terteilt und regionalen Gruppen der Unab-
hängigkeitsbewegung zugeteilt; es wurden
Busse und Lastwagen organisiert, Kommu-
nikationswege vereinbart. „Aber wir ha-
ben die Lage falsch eingeschätzt“, sagt
Rupsyte. „Wir haben nicht geglaubt, dass
sich so viele Leute auf den Weg machen,
und wir konnten uns nicht vorstellen, dass
so viele mit Privatautos kommen.“
Damals hatten nur wenige ein eigenes
Auto, und viele Litauer erlebten an jenem
Tag zum ersten Mal im Leben einen Stau.
Hunderttausende schafften es nicht bis
zum vorgesehenen Abschnitt. Spontan
wurden lange Abzweigungen vom „Balti-
schen Weg“ gebildet, an manchen Stellen
standen die Menschen in vier oder fünf
Reihen. Die Koordinatoren bekamen ein
Lagebild von Piloten, die mit Kleinflugzeu-
gen aufstiegen, obwohl Moskau ihnen mit
Lizenzentzug gedroht hatte, und versuch-
ten die Menschen dann über Mitteilungen
im Radio dorthin zu lenken, wo es noch
Lücken gab. „Zum Teil hat uns dabei sogar
die Miliz geholfen“, sagt Rupsyte.

Die sowjetische Führung unter Michail
Gorbatschow reagierte mit harten Wor-
ten. In den Tagen vor dem 23. August hat-
te sie widersprüchliche Signale ausge-
sandt. Einerseits war der Ton in Kommen-
taren der Moskauer Medien über die Ent-
wicklungen im Baltikum verschärft wor-
den, andererseits veröffentlichte die Par-
teizeitung „Prawda“ ein Interview mit
dem Politbüro-Mitglied Alexander Ja-
kowlew, in dem dieser erstmals die Exis-
tenz der geheimen Zusatzprotokolle zu-
gab und ihren Inhalt verurteilte – mit der
Einschränkung, dass das die Bewertung
des Anschlusses der baltischen Staaten an
die Sowjetunion im Juni 1940 nicht verän-
dere. Am 26. August drohte dann das Zen-
tralkomitee der Kommunistischen Partei
den Litauern, Letten und Esten: Wenn sie
weiter „nationalistischen Führern“ folg-
ten, könne das „katastrophale Folgen“ ha-
ben, dann könne sogar die Existenz ihrer
Nationen in Frage stehen.
Taten folgten dieser Drohung nicht.
Der litauische Parlamentarier Emanuelis
Zingeris, damals in der Führung der Unab-
hängigkeitsbewegung, glaubt, der „Balti-
sche Weg“ habe entscheidend dazu beige-
tragen, dass die Sowjetmacht nicht ernst-
haft versucht habe, die Unabhängigkeits-
bestrebungen gewaltsam zu beenden.
„Die schiere Masse hat sie so beeindruckt,
dass der KGB dazu nicht mehr bereit war,
als wir am 11. März 1990 unsere Unabhän-
gigkeit erklärt haben“, sagt er. „Und die
Welt hat den friedlichen Charakter unse-
res Protests gesehen – das war ja alles aus
Mahatma Gandhis Lehrbuch.“ Im Januar
1991 haben sowjetische Truppen zwar in
Vilnius und Riga zwanzig Menschen bei ei-
nem Versuch getötet, die von den Unab-
hängigkeitsbewegungen gestellten Regie-
rungen zu stürzen. „Aber das war nur
noch ein letzter, verzweifelter, unsystema-
tischer Versuch“, so Zingeris.
In der Erinnerung vieler Litauer hat der
„Baltische Weg“ einen besonderen Platz.
„Wir sind damit aufgewachsen, dass wir ge-
genüber Leuten, die wir nicht kennen, vor-
sichtig sind“, sagt eine Vilniusserin, die da-
mals 20 Jahre alt war. „Und plötzlich hal-
ten sich im ganzen Land fremde Men-
schen an der Hand.“ Angonita Rupsyte,
die an jenem Tag in der Zentrale der Unab-
hängigkeitsbewegung die Telefonhörer
nicht aus der Hand gelegt hat, sagt es so:
„Das war keine Demonstration mehr, das
war ein Referendum.“

WEGMARKEN DER GESCHICHTE


E


swar vermutlich nicht böse ge-
meint, auch nicht sarkastisch, als
Boris Johnson bei seinem Antrittsbe-
such als Premierminister im Kanzler-
amt im Beisein Angela Merkels ausrief:
„Wir schaffen das.“ Das war darauf ge-
münzt, dass das Vereinigte Königreich
die EU vielleicht doch auf Grundlage ei-
nes Abkommens verlassen und somit
eine für alle akzeptable Lösung der iri-
schen Grenzfrage gefunden werden
könne. Aber das „Wir schaffen das“ ge-
hört zum Vokabular der Flüchtlingskri-
se; es ist der Kanzlerin lange um die Oh-
ren gehauen worden und politisch kon-
taminiert. Nach seinen Besuchen in
Berlin und bei Präsident Macron in Pa-
ris ist jedenfalls eines klar: Soll die soge-
nannte Notfalllösung wegfallen, muss
Johnson etwas Brauchbares und Gleich-
wertiges liefern – und dann eben bin-
nen dreißig Tagen. Mays Nachfolger
hat die Bringschuld bei seiner Regie-
rung verortet. Immerhin. Nach wie vor
ist Skepsis angebracht und ein „No-
Deal-Brexit“ wahrscheinlicher als ein
geregelter Austritt. Der freundliche
Empfang für Johnson sollte nicht mit
Optimismus verwechselt werden. Allen-
falls herrscht jetzt mehr Klarheit. K.F.


T


rump ist nicht der Erste, der die
Man-muss-mit-Russland-reden-
Theorie vertritt. Auch in Deutschland
hat sie viele Anhänger. Die Argumenta-
tion geht so: Weil Russland Teil vieler
Probleme auf der Welt sei, müsse man
es zum Teil der Lösung machen. Und
das gehe nur, wenn man sich mit Putin
an einen Tisch setze. Leider hat das bis-
her nie so recht funktioniert. In Wahr-
heit ist Russland oft Urheber von Pro-
blemen; und es gibt aus jüngerer Zeit
kein nennenswertes Beispiel dafür,
dass Gespräche mit dem Kreml, an de-
nen nun wirklich kein Mangel herrscht,
zu dauerhaften Lösungen geführt hät-
ten. Deshalb ist es richtig, dass Deutsch-
land, Frankreich und Großbritannien
dagegen sind, die G-7-Gruppe wieder
um Russland zu erweitern. Putin würde
das ohnehin nicht als Anreiz verstehen,
denn große Entscheidungen haben die-
se Gipfel nie hervorgebracht. Wichtiger
sind die Sanktionen, weil die eine Belas-
tung für Russland sind. Genau deshalb
sollte man sie nicht aufheben. Sie sind
vielleicht das einzige Mittel, um Mos-
kau doch irgendwann zu einem ernst-
haften Gespräch über die Ostukraine
zu bewegen. nbu.


D


ass Klimaschutz nur international
zu schaffen ist, steht für Berlin ge-
nauso fest wie für Den Haag. Bundes-
kanzlerin Merkel und Ministerpräsi-
dent Rutte taten sich bei ihren Klimabe-
ratungen also leicht, der EU ein ehrgei-
zigeres Ziel abzuverlangen – denn die
geforderte Reduktion des CO 2 -Aussto-
ßes bis 2030 um 55 Prozent gegenüber
1990 ist in ihren Ländern längst erklär-
tes Ziel. Diesseits der abstrakten Zah-
len zeigt sich aber, wie sehr selbst die
EU-Länder ihr jeweils eigenes Klima-
süppchen kochen. Die Niederlande set-
zen weiter auf Atomkraft, wollen aber
aggressiv ihren Gasverbrauch reduzie-
ren – und runzeln die Stirn, wenn die
Nachbarn Gas als „saubere“ Alternati-
ve zur Kohle anpreisen. Merkel, die bis-
her nicht einmal ihre Partei, geschwei-
ge denn ihre Koalition auf eine Linie
festlegen konnte, lobte Rutte für die vie-
len runden Tische, an denen seine Re-
gierung ihren Klimaplan mit allen er-
denklichen gesellschaftlichen Gruppen
besprochen hat. Doch auch damit lässt
sich Einigkeit nicht erzwingen: Die nie-
derländischen Provinzwahlen im März
gewann die Partei, die gegen „Klimahys-
terie“ wetterte. anr.


Dies ist die Stunde Nicola Zingarettis.
Gewiss, Staatspräsident Sergio Matta-
rella bestimmt den Ausweg aus der po-
litischen Krise in Rom: Übergangsre-
gierung oder Neuwahlen im Oktober.
Doch der hätte gar keine Wahl, wenn
sich der sozialdemokratische Partito
Democratico (PD) unter Parteichef
Zingaretti nicht grundsätzlich am Mitt-
wochabend bereit erklärt hätte, eine
Koalition mit der linkspopulistischen
Fünf-Sterne-Bewegung zu erwägen.
Nicola Zingaretti wurde im März in
einer Urwahl zum neuen Vorsitzenden
des PD gewählt. Er erhielt 67 Prozent
der Stimmen, nach den Maßstäben der
Partei ein überzeugendes Mandat. Bei
den Europawahlen Ende Mai, dem ers-
ten landesweiten Test für die Partei,
kam der PD auf 22,7 Prozent der Stim-
men. Das war zwar deutlich weniger
als jene 40,8 Prozent, die der PD 2014
unter dem damals als politisches Wun-
derkind gefeierten Matteo Renzi er-
zielt hatte. Aber es bedeutete immer-
hin, dass der PD wieder die führende
Kraft auf der Linken war, mussten sich
die Fünf Sterne doch mit 17,1 Prozent
begnügen. Diese Rangordnung bestäti-
gen auch jüngste Umfragen. Doch in
beiden Kammern des Parlaments stel-
len die Fünf Sterne jeweils die stärkste
Fraktion, weil sie bei den Parlaments-
wahlen vom März 2018 mit 32,7 Pro-
zent der Stimmen triumphiert hatten.
Bei Neuwahlen im Oktober würde
etwa die Hälfte der Mandatsträger der
Fünf Sterne ihren Sitz verlieren, weil
der Protestbewegung seit März 2018
rund die Hälfte der Wähler davongelau-
fen ist. Für die Abgeordneten und Sena-
toren der Fünf Sterne besteht mithin
ein großer Anreiz, nach dem Ende der
Koalition mit Matteo Salvinis rechtsna-
tionalistischer Lega nach knapp 15 Mo-
naten Dauer nun die Zusammenarbeit
mit dem PD zu suchen. Und diese mög-
lichst bis zum regulären Ende der Le-
gislaturperiode im März 2023 fortzu-
setzen. Deshalb kommt es jetzt auf Zin-
garetti an.
Der PD werde die Allianz mit den
Fünf Sternen „nicht um jeden Preis“ su-
chen, sagte der Parteichef am Donners-
tag nach seinem Treffen mit Mattarella
im Quirinalspalast. Denn wenn es jetzt
mit den Fünf Sternen nicht klappt,
könnte sich Zingaretti nach Neuwah-
len und einem mutmaßlichen Sieg von
Salvinis Lega als Oppositionsführer
für eine Regierungsübernahme zu ei-
nem späteren Zeitpunkt in Stellung
bringen. Die Fünf Sterne aber stünden
ohne das neue Bündnis mit dem PD
vor einer ungewissen Zukunft.
Zingaretti ist 53 Jahre alt und
stammt aus Rom. Er begann seine poli-
tische Laufbahn beim Jugendverband
der Kommunisten und gehört heute
zum linken Flügel des PD. Von 2004
bis 2008 saß er im Europaparlament,
wo er die europäische Sparpolitik
scharf kritisierte. Auch daheim ließ
Zingaretti kein gutes Haar am wirt-
schaftsfreundlichen Reform- und Spar-
kurs seines Parteikollegen Matteo Ren-
zi. Seit 2013 ist Zingaretti Präsident
der mittelitalienischen Region Latium.
Bei einem Wechsel von der regionalen
auf die nationale Regierungsebene
müsste er nur von Rom nach Rom um-
ziehen. MATTHIAS RÜB

WASHINGTON, 22. August


I


m Februar dieses Jahres gab Nancy Pe-
losi, die „Sprecherin“ des Repräsen-
tantenhauses in Washington, mit der
gesamten Fraktionsführung der Demokra-
ten eine Erklärung ab, in der Ilhan Omar,
eine Abgeordnete aus den eigenen Rei-
hen, für eine Äußerung scharf verurteilt
wurde. Die Muslimin aus Minnesota, einst
als Flüchtling aus Somalia nach Amerika
gekommen, hatte suggeriert, dass die Un-
terstützung Israels durch Washington er-
kauft sei. Der Tweet „Es dreht sich alles
um die Benjamins“ benutze ein „antisemi-
tisches Stereotyp“ und sei „zutiefst beleidi-
gend“, stellte die Fraktionsführung fest.
Ein Porträt Benjamin Franklins schmückt
den Hundert-Dollar-Schein.
Im März verabschiedete dann die erste
Kongresskammer eine Resolution, in der
wiederum eine Äußerung Omars missbil-
ligt wurde. Diesmal hatte die junge Frau
gesagt, dass proisraelische Interessenver-
treter amerikanische Politiker „zu einer
Loyalität für ein anderes Land drängen“.
Auch weil die Beschlussvorlage von den
Republikanern eingebracht worden war,
stimmten die Demokraten gespalten ab.
Omars Fraktionskollegin aus Detroit, Ra-
shida Tlaib, eine Muslimin palästinensi-
scher Herkunft, hatte sich kurz zuvor ganz
ähnlich geäußert: In ihrer Kritik an einer
Senatsresolution, in der die gegen Israel
gerichtete Boykottbewegung BDS verur-
teilt wurde, warf sie den Initiatoren Ted
Cruz und Jim Risch vor, sie hätten verges-
sen, „welches Land sie repräsentieren“.
Als nun Präsident Donald Trump am
Dienstag im Weißen Haus wieder einmal

Omar und Tlaib vorwarf, Israel zu hassen
und die Demokraten zudem zu einer anti-
jüdischen Partei gemacht zu haben, und er
sich dann gar zu der Bemerkung verstieg,
dass jüdische Wähler der Demokraten ent-
weder „vollkommene Unkenntnis“ oder
aber „große Illoyalität“ offenbarten, sah
er sich unversehens mit den beiden Musli-
minnen in einem Boot. Am Mittwoch,
nachdem ihm mehrere Demokraten und
Kommentatoren Antisemitismus vorge-
worfen hatten, präzisierte er sogar noch
gegenüber Journalisten: Wer für die Demo-
kraten stimme, sei seiner Meinung nach
sehr illoyal zum jüdischen Volk und zu Is-
rael. Den Einwand, dass amerikanische Ju-
den Amerikaner seien, ignorierte er.
Trump behauptet von sich, so viel wie
kein anderer Präsident für Israel getan zu
haben: Er verlegte die Botschaft von Tel
Aviv nach Jerusalem; er erkannte die Go-
lan-Höhen als Teil Israels an und stieg aus
dem Atomabkommen mit Iran aus. Ironi-
scherweise bedient sich der Präsident aber
der gleichen Stereotype wie Omar und
Tlaib, die er Antisemiten nennt. Das Bild
des Juden, dessen primäre Loyalität Israel
gelte und nicht seinem Heimatland, ist ei-
nes der ältesten Ressentiments in der Ge-
schichte des Antisemitismus.
In einer alltäglichen, häufig unbedach-
ten Form spricht man gegenüber Juden,
ob in Amerika oder in Deutschland, von
„eurem Ministerpräsidenten“, wenn Ben-
jamin Netanjahu gemeint ist. Auch das hat
Trump schon getan, als er vor einer Inte-
ressengruppe jüdischer Republikaner rede-
te. In seiner böswilligen, extremistischen
Form wird das Motiv des jüdischen Spions
benutzt, der gleichsam in klandestiner

Form daran arbeitet, maßgebliche Politi-
ker seines „Einsatzgebietes“ als Agenten
Israels anzuwerben und dauerhaft zu füh-
ren.
Sowohl bei Trump als auch bei den bei-
den muslimischen Abgeordneten vermi-
schen sich Kalkül und kulturelle Sozialisa-
tion. Trump ist weder ein Antisemit noch
ist ihm Israel eine echte Herzensangele-
genheit. Auch Vertreter jüdischer Organi-
sationen in Amerika werfen ihm nicht An-
tisemitismus vor, sondern lediglich eine
gefährliche Sprache, derer sich Antisemi-
ten bedienen könnten. Trump ist in erster
Linie ein Immobilienmann aus dem – sehr
jüdisch geprägten – New Yorker Stadtteil
Queens und Vertreter einer Generation,
in der es vollkommen in Ordnung war zu
sagen, man sollte die Finanz- und Steuer-
angelegenheiten des Unternehmens stets
in die Hände eines Juden legen, denn die
könnten einfach besser mit Geld umge-
hen.
Ansonsten leiten den Präsidenten Inter-
essen. Und diese veranlassen ihn, eine Po-
litik gegenüber Israel zu betreiben, über
die, laut „Pew Research Center“, mehr Ju-
den als Christen in Amerika sagen, sie be-
günstige Israel zu einseitig. Sein wichtigs-
tes Ziel ist nicht der oft zitierte „Jexodus“,
also die Abwanderung jüdischer Wähler
von den Demokraten zu den Republika-
nern. Schon George W. Bush versuchte
vergeblich, mit einer außenpolitisch neo-
konservativen Agenda um jüdische Stim-
men zu werben. Achtzig Prozent der ame-
rikanischen Juden machen relativ kon-
stant bei den Demokraten ihr Kreuz. Hin-
gegen haben achtzig Prozent der evangeli-
kalen Christen in Amerika 2016 die Repu-

blikaner gewählt. Viele von ihnen taten
das 2016 trotz Trump; 2020 sollen sie es
wegen Trump tun. Wenn der Präsident auf
Kundgebungen im „Bibelgürtel“ im Süden
Amerikas seine Leistungsbilanz in Sachen
Israel referiert, wird es in den Hallen so
laut wie an kaum einer anderen Stelle.
Auch den Evangelikalen geht es dabei
nicht um die älteren Brüder des Christen-
tums; sondern um die biblische Endzeit,
die ihrem im Kern fundamentalistischen
Glauben nach eintritt, wenn alle Juden
nach Israel heimkehren und den auf die
Erde zurückgekehrten Christus als ihren
Messias anerkennen.
Dieser christliche Zionismus ist ein
recht junges Phänomen. Einst waren Teile
der Bewegung selbst Hort des Antisemitis-
mus. Heute sind Evangelikale und Organi-
sationen wie Aipac, das „American Israel
Public Affairs Committee“, enge Verbün-
dete. Für Omar und Tlaib freilich ist Aipac
Ausdruck einer Systemkrise in der ameri-
kanischen Politik, in der (angeblich) der is-
raelische Schwanz mit dem amerikani-
schen Hund wackelt. So wie Trump soziali-
siert wurde mit Klischees über den ge-
schäftstüchtigen Juden, haben die beiden
Frauen das muslimische Narrativ über
„die jüdische Lobby in Amerika“ und „Isra-
el als Wurzel allen Übels“ gleichsam mit
der Muttermilch aufgesogen. Manchmal
tappen sie unbedacht in Fallen des ameri-
kanischen Diskurses, manchmal provozie-
ren sie bewusst und entschuldigen sich spä-
ter (halbherzig). Sie wollen so auf der poli-
tischen Linken nach und nach die Koordi-
naten verschieben. Für das liberale Juden-
tum Amerikas stellen sie eine ebenso gro-
ße Herausforderung dar wie Trump.

Schaffen sie das?


NicolaZINGARETTI Foto Reuters


Linke Option


1989


Der baltische Weg


Wie der 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts selbst ein historisches Datum wurde / Von Reinhard Veser


G 7 ohne Putin


Klimasüppchen


MillionenHand in Hand:Demonstranten am 23. August 1989 in Tallinn Foto Eastblockworld


Zwischen Donald Trump und Ilhan Omar


Amerikas liberales Judentum wird doppelt herausgefordert / Von Majid Sattar


F. A. Z. W O C H E J E T Z T G R AT I S T E S T E N A U F FA Z W O C H E. D E


D i e w i c h t i g e n T h e m e n. K o m p a k t a u f b e r e i t e t u n d e i n g e o r d n e t.


W I S S E N , W O R A U F

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