Frankfurter Allgemeine Zeitung - 23.08.2019

(Barré) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton FREITAG, 23. AUGUST 2019·NR. 195·SEITE 9


Wer die Nachrichten darüber hört, dass
der Film „Systemsprenger“ von Nora
Fingscheidt „für Deutschland ins Ren-
nen um den 92. Oscar für den Best Inter-
national Feature Film gehen“ wird, wie
es in der Pressemitteilung von German
Films heißt, der Branchenvertretung
des deutschen Films, die solche Ent-
scheidungen verkündet, könnte den Ein-
druck gewinnen, ein Oscar-Gewinn sei
in Reichweite. Auch der Verleih freut
sich mitzuteilen, das „preisgekrönte
und hochgelobte Kinospielfilmdebüt“
vertrete „Deutschland bei den 92. Aca-
demy Awards 2020“. Je länger die
Meldung vom Mittwoch im Raum steht,
desto wahrscheinlich klingt ein deut-
scher Auftritt bei der nächsten Oscar-
Verleihung am 9. Februar. Was aber ist
tatsächlich geschehen? Eine deutsche,
von German Film berufene un-
abhängige Jury hat unter sieben deut-
schen Filmen einen, möglicherweise
den besten, jedenfalls einen ungewöhn-
lichen Film ausgewählt, der einer Aus-
wahl der gut sechstausend stimmberech-
tigten Mitgliedern der amerikanischen
Academy of Motion Picture Arts and
Sciences zur Abstimmung über eine No-
minierung in der Kategorie des besten
internationalen Films vorgelegt wird –
im Verein mit Vorschlägen aus den an-
deren Ländern der Welt. Ob aus der
Gruppe dieser Stimmberechtigten aus
allen Gewerken des Kinos genügend Vo-
ten für eine Nominierung von „System-
sprenger“ zusammenkommen, ist unab-
sehbar. Es wird sich erst am 13. Januar
2020 zeigen, wenn die Oscar-Kandida-
ten verkündet werden. Ein wenig ist es
mit der deutschen Oscar-Obsession (ge-
wonnen haben nach dem Krieg erst
drei deutsche Filme) wie mit der Einla-
dung nach Cannes. Es klingt aus der
Branche immer so, als gelinge es dieses
Mal. „Systemsprenger“ kommt am 19.
September ins Kino. lue.

Der gebürtige Südtiroler Robert Peroni
kam in den achtziger Jahren als Extrem-
abenteurer nach Grönland, bestieg unbe-
nannte Gipfel und überquerte das Inland-
eis. Heute leitet er an der Ostküste in Ta-
siilaq das von ihm gegründete „Rote
Haus“, das gleichermaßen als Sozialstati-
on für Einheimische wie als Hotel für Ur-
lauber dient. F.A.Z.

Was halten Sie von Donald Trumps
Plan, Dänemark Grönland abzukaufen?
Alle Medien berichteten zunächst, es
sei ein Scherz. Ich dachte das auch. Aber
es ist leider keiner. Die Vereinigten Staa-
ten versuchen seit Jahrzehnten auf Grön-
land militärisch und ökonomisch Fuß zu
fassen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat
es ein Verteidigungsabkommen gegeben,
das eine besondere Zusammenarbeit zwi-
schen Grönland und den Vereinigten Staa-
ten regelt. So entstand der amerikanische
Luftwaffenstützpunkt Thule. Die Verei-
nigten Staaten betrachten Grönland zu-
dem als Luftbrücke über den Atlantik.
Das Schlimme an den jüngsten Äußerun-
gen Trumps ist, dass er die Grönland-Fra-
ge mit dem Präsidentschaftswahlkampf
verknüpft. So wird Grönland zum geopoli-
tischen Spielball. Grönlands Bodenschät-
ze, die noch unter Eisschichten verborgen
sind, wird man mit den technischen Mit-
teln der Zukunft abschöpfen können. Au-
ßerdem sind wir ein menschliches Schutz-
schild für die Vereinigten Staaten, die
sich mit Raketenstützpunkten gegen Chi-

na und Russland absichern. Die Stationie-
rung läuft seit Jahrzehnten, schon in den
fünfziger Jahren haben die amerikani-
schen Militärs B2-Raketen auf die Insel
gebracht. Wenn eine fremde Macht die
Vereinigten Staaten angreift, kommt sie
nicht an Grönland vorbei.

Wie realistisch sind die Ankaufspläne?
Überhaupt nicht. Aber die politische
Realität, die dahinter steht, ist bedrohli-
cher als Trumps Aussage. Er hat alle ge-
gen sich aufgebracht. Die dänische Regie-
rung, andere Nato-Mitglieder, die Men-
schen hier. Die Grönländer selbst sehen
das alles recht locker, sie fragen: „Was
will dieser Mann mit unserem Land?“ Sie
nehmen es nicht ernst.

Hat es eine politische und mediale De-
batte in Grönland darüber gegeben?
Eine politische Debatte ist gerade erst
im Aufflammen. Es gibt natürlich einige
Aktivisten und Politiker die sich zu Wort
gemeldet haben, aber auch sie belächeln
Trump.

Glauben Sie, dass das nun entstandene
Medieninteresse positive Aspekte für
Grönland hat – dass etwa die soziale
Lage in den Mittelpunkt rückt?
Das ist möglich. Im Moment allerdings
sind wir für die Welt einfach eine große,
weiße Insel. Politisch hat Grönland kein
Gewicht, aber das wird sich in Zukunft
massiv ändern. Für die soziale Frage inter-
essiert sich kaum ein Medium.

Denken Sie, dass durch die Bodenschät-
ze das geopolitische und wirtschaftliche
Interesse an Grönland zunehmen wird?
Das glaube ich ganz sicher. Es wird ein
Ringen zwischen Großmächten wie Chi-
na, Russland und Amerika um das Land
und seine Ölvorkommen geben. Alle drei
sind jetzt schon auf die eine oder andere
Weise auf der Insel tätig. Die Chinesen en-

gagieren sich sehr stark. Sie bauen Mine-
ralien und seltene Erden ab und beliefern
Grönland mit Maschinen. Das sind die
Dinge, um die es geht. Vor allem Erdöl,
denn Grönland gehört zum Kontinental-
schelf, seltene Erden und Gas. Wie und
wo das beginnt und weitergeht, kann ich
allerdings nicht voraussagen.

Welche Auswirkungen wird das auf die
Bevölkerung der Insel und die soziale
Lage haben?
Ich glaube nicht, dass es positive Aus-
wirkungen auf die Menschen hier haben
wird. Das wird uns zwar von allen Seiten
seit Jahren eingeredet. Aber wie wir in an-
deren Ländern sehen – im Irak oder Af-
ghanistan –, kann eine Pipeline durch die
Wildnis führen, und die Menschen dane-
ben leben in sozialem Elend und verhun-
gern. Die Amerikaner denken, Grönland,
das sind 60 000 Menschen. Die kosten we-
nig im Vergleich zu den Rohstoffpotentia-
len. Wir kaufen sie einfach mit ein. Aber
auch das entmündigt und kolonialisiert.

Wird die Nutzbarmachung von Grönland
auch Auswirkung auf das Klima haben?
Wenn Amerika nach Grönland
kommt, wird das massive Auswirkungen
auf das globale Klima haben. Die Ameri-
kaner dringen mit Baggern, Baufahrzeu-
gen, schweren Maschinen in die fragile
Natur Grönlands ein. Sie werden die Eis-
decke zerstören. Gletscher werden
schmelzen. In den fünfziger Jahren ha-

ben die Amerikaner unter der Eisdecke
eine mit Atomstrom betriebene Stadt ge-
baut. Wenn sie das unter diesem Präsi-
denten im großen Stil fortführen wür-
den, wäre das für die klimatischen Bedin-
gungen des gesamten Planeten katastro-
phal. Die sich immer weiter verschärfen-
de Eisschmelze wird auf der ganzen Welt
zu Überschwemmungen führen. Die Ark-
tis ist extrem verwundbar. Wir haben
hier in Ostgrönland schon genug zu tun
mit den Abfällen und Umweltproblemen
der Airbase.

Was halten Sie von Grönlands Streben
nach Unabhängigkeit von Dänemark?
Jedes Land möchte Freiheit und Unab-
hängigkeit. Das ist ein legitimer Wunsch.
Aber im Falle von Grönland ist das nicht
realistisch. Dänemark ist eine Schutz-
macht, auch wenn es nur ein kleines Land
ist. Dänemark hat vergleichsweise gute
Absichten mit der Insel. Es will den Le-
bensstandard verbessern. Ich sehe die Zu-
kunft von Grönland nicht unabhängig,
denn das Land wäre schutzlos. Gerade sol-
chen Angriffen, wie der jetzige von
Trump oder in Zukunft von China, wären
wir machtlos ausgeliefert. Grönland hat
kein Militär, keine Verteidigungsmittel.
Ich glaube, dass wir auch in Zukunft eine
starke dänische Schulter brauchen. Frei-
heit ist eine großartige Sache, aber im
Fall von Grönland hätte sie einen viel zu
hohen Preis.
Das Gespräch führteKevin Hanschke.

Ein Gespräch mit dem Extremabenteurer Robert Peroni


Was will dieser Mann mit unserem Land?


Donald Trumps Einfall, Grönland zu kaufen, sorgt bei den Inuit für Heiterkeit, aber auch andere Länder spekulieren auf die Erschließung


L


eider vergeblich, das ist zuzuge-
ben, hatten wir uns an dieser Stelle
und das auch noch wiederholt in den
Kampf gegen die sogenannte schwarze
Null gewagt (F.A.Z. vom 21. März 2009
und 26. November 2014), uns einbil-
dend, der aus unserer Sicht immer noch
stichhaltige Hinweis darauf, dass die
Zahlen unter null rot und die darüber
schwarz sind, die Null selbst aber farb-
los, würde schon noch verfangen und
dann nur noch und richtigerweise von
einer haushaltspolitischen Null die
Rede sein. Diese Hoffnung hat getro-
gen. Es bringt nichts mehr, besserwisse-
risch dagegen vorzugehen; die Leute re-
den ja doch weiter, wie sie wollen. Wo-
bei – diese letzte Anmerkung sei viel-
leicht noch erlaubt – man die schwarze
Null, für die einst Finanzminister
Schäuble (CDU) stand, rein theoretisch
auch eine rote nennen könnte, denn
ein Verzicht aufs Schuldenmachen bei
jedem neuen Bundeshaushalt wird
vom jetzigen Minister Scholz (SPD)
nicht minder energisch angestrebt; eine
rote Null wäre genauso sinnvoll wie die
schwarze, aber beides ist und bleibt
Quatsch. Oder könnten mit einer
schwarzen, wahlweise auch roten Null
am Ende die Politiker der entsprechen-
den farbentragenden Parteien gemeint
sein? Dass es jedenfalls gerade der Un-
sinn ist, der sich auf der Welt vermehrt,
das wissen auch wir, aber das ist noch
lange kein Grund, ihm nicht hin und
wieder die Stirn zu bieten. Die schwar-
ze Null hat ein – tja, wie nennen wir’s?


  • Geschwisterchen oder ein Töchter-
    chen bekommen, und das ist nun auch
    schon vier Jahre alt, es kann längst lau-
    fen und macht sich neuerdings ganz
    schön breit in der Öffentlichkeit. „Wir
    brauchen die grüne Null“, hieß es im
    März 2015 im „Klimaretter“, dem „Ma-
    gazin zur Klima- und Energiewende“.
    Damals mochte man noch fragen: Wo-
    her nehmen und nicht stehlen? Die grü-
    ne Null bezeichnet einen Zustand, in
    dem es keine Kohlendioxid-Ausstöße
    mehr geben wird – ein zweifellos ehrgei-
    ziges Ziel, dessen Erreichung man zu-
    nächst für das Jahr 2070 in Aussicht
    stellte. Aus Gründen, die jedermann be-
    kannt sind, wurde es mittlerweile vor-
    verlegt. Schwarze, rote und grüne Politi-
    ker scheinen dieses Ziel für realistisch
    zu halten, die Einschätzungen bewegen
    sich zwischen „kein Problem“ und
    „schaffen wir“. Ob es auch Anlass für
    diese Zuversicht gibt, mag man nach
    den ganzen Weltklimagipfeln bezwei-
    feln. Tatsache ist aber, dass sich die
    schwarze Null mit der grünen nun in
    die Haare kriegt; insofern wird es sich
    wohl doch um Geschwister handeln.
    Dass die grüne Null dermaleinst Wirk-
    lichkeit wird, wird man sich nämlich et-
    was kosten lassen und damit Abschied
    von der schwarzen nehmen müssen, de-
    rer man sich bisher so sicher wähnte.
    „Wir brauchen statt einer schwarzen
    eine grüne Null“, lautet jetzt immer
    häufiger die Parole. Anders als sonst,
    wenn zwei sich streiten oder gegenein-
    ander ausgespielt werden, zeichnet sich
    ein lachender Dritter hier noch nicht
    ab, keine gelbe, keine blaue und keine
    braune Null. Wer eine sieht, möge sich
    daher melden bei edo.


D


ass er unvergleichlich ist, hat-
ten wir nicht vergessen. Aber
es tut gut, es sich wieder ein-
mal vor Augen führen zu las-
sen, jetzt, elf Jahre nach Pe-
ter Rühmkorfs Tod und wenige Wochen
vor seinem neunzigsten Geburtstag. Also
raus aus dem Zug, ein paar Schritte
durchs schöne Hamburg, rein ins Altona-
er Museum, dann noch quer durch die
Säulenhalle mit den alten Schiffsmodel-
len, rasch ein Blick in den Galionsfigu-
ren-Saal, und schon befinden wir uns wie-
der in Rühmkorfs Reich. Existiert es
nicht nur auf dem Papier? Besteht es
nicht nur aus Worten? Nein, Gedichte,
wenn sie gut sind, sind nie allein aus Wor-
ten gemacht.
Sondern aus Einfällen. Aus „Lyriden“
und „Quanten“, wie Rühmkorf seine
Wortschnuppen, Schnipsel, und Fragmen-
te nannte, denen er unablässig nachjagte,
die er auflas und hortete wie Strandgut:
Fragmente, Bauteile, Querstreben, Stütz-
balken und Schlusssteine zu einem poeti-
schen Gesamtwerk, das nie nach Ab-
schluss und Vollendung strebte, sondern
nach Wahrheit, Witz und Dauer. Gedich-
te werden gemacht aus und für Ewigkeit
und Augenblick, sie werden destilliert aus
Identitäten und Emotionen, Tradition
und Anverwandlung, Artistik und Arbeit,
Abwehr und Verehrung. Sie sind Selbst-
enthüllung und Maskenspiel, Narrenkleid
und Krönungshermelin zugleich.
Im Gedicht zeigt sich der Lyriker nicht
zuletzt auch selbst: „als Wechselbalg von
Persönlichkeit, halb der Natur entsprun-
gen, halb ins Kostüm verwickelt“. Der
Dichter im Zeitalter seiner vermeint-
lichen Entbehrlichkeit, unter den Bedin-
gungen der Warenförmigkeit aller Kunst-
produktion, ist ein Anachronismus, ein
Exot und „anthropologisches Monstrum“,
wie Rühmkorf Mitte der siebziger Jahre
schrieb. Er ist aber auch und immer noch
„Einmalig wie wir alle“ (1989), ein Exem-
plum für sich und uns, für alles und nichts,
das überdies nicht aufhören kann, Fragen
zu stellen: „,Was ist der Mensch?‘ / (sein
Wesen?) – schwer zu fassen. / Lauter so
Sprenkel, die nicht zueinander pas-
sen. / Von wo entsprungne, woraufhin ver-
mengte? / Vielleicht, daß die mal jemand
logisch aneinanderhängte.. .“
All das kann man sehen, wissen, erfah-
ren und erleben, wenn man nur die Ge-
dichte von Peter Rühmkorf liest und
nichts sonst. Zeitgenossenschaft, Selbst-
beobachtung zu verschärften Bedingun-
gen, festgehalten im poetischenjournal
intime, und anregendster Dichteraus-
tausch über die Jahrhunderte hinweg, von
Brecht, Benn, Brockes und Bellman über
Ringelnatz und Klopstock bis zurück zu
Walther von der Vogelweide, „des Rei-
ches genialster Schandschnauze“, all das
ist bei ihm zu finden. Man könnte damit
zufrieden sein.
Rühmkorf selbst wäre mit einem sol-
chen Leser nicht zufrieden gewesen. Da
hatte er andere Vorstellungen. Wenn er
träumte, dann aber richtig. Einerseits von
einem „Individuum / aus nichts als Wor-
ten“, andererseits von einer aufgeklärten
Masse, zusammengesetzt und vermengt
aus Einzelwesen, entsprungenen und ge-
sprenkelten, vor allem aber aufgeklärten,
mündigen, selbstbestimmten Einzelwe-
sen, die sich aus Not, Überzeugung und
freiem Willen zusammengetan haben, um
den Umständen, also den politischen Ver-
hältnissen, zu trotzen: „Finsternis kommt
reichlich nachgeflossen; / aber du mit –
such sie dir! – Genossen! / teilst das Dun-
kel, und es teilt sich die Gefahr, / leicht
und jäh --- / Bleib erschütterbar! / Bleib
erschütterbar – und widersteh.“
Rühmkorfs Verständnis von Lyrik war
politisch. Vor Ausrufezeichen empfand
er keinerlei Scheu, obwohl er, Jahrgang
1929, mit ihnen und ihrem ideologischen

Gebrauch aufgewachsen war. Aber bevor
die Hamburger Ausstellung mit Herkunft
und Biographie des Autors vertraut
macht, begrüßt sie den Besucher mit
Rühmkorfs hochkant in die erste Vitrine
genieteter Schreibtischplatte, einem ech-
ten, redlich abgearbeiteten, narbenge-
sichtigen Sudelbrett. Es folgt eine abge-
dunkelte Gedichtgrotte mit großen, verti-
kal im Raum stehenden Projektionswän-
den, auf denen sich auf Knopfdruck die
Buchstaben zu den Versen jener zehn Ge-
dichte zusammenfinden, die Nora Gom-
ringer, Jan Wagner, Jan Philipp Reemts-
ma und andere ausgewählt haben. Ob
der orange leuchtende Pop-Art-Teppich-
boden und die reichlich umschattete At-
mosphäre, die auf Verner Pantons legen-
däre Hamburger „Spiegel“-Kantine aus
dem Jahr 1969 anspielen soll, immer so
ganz passend sind, etwa im Fall des von
Reemtsma ausgewählten Gedichts „All
dein Glück wie nie gewesen“(1987),
kann man bezweifeln. Es ist aber nicht
mehr so wichtig, wenn man erst Reemts-
mas Kommentar zu den stillen, ganz in
sich gekehrten Versen lauscht oder sich
von Jan Wagner erklären lässt, warum

die „Reimfibel“ (aus „Wenn – aber
dann“, 1999) nicht nur einer lebenslan-
gen Begeisterung durch den Reim ent-
spricht, sondern auch – bei aller kind-
lich-unschuldigen Fröhlichkeit – einen
entschieden poetologischen Zug hat und
gleichsam Rühmkorfs lyrische Ur-Pro-
grammatik enthält: „Liebe Kinder, hört
mal zu / Hier sind A – E – I – O – U“.
Was die Arno Schmidt Stiftung, die Er-
bin der Urheberrechte am Werk Rühm-
korfs, im Altonaer Museum aus Anlass
seines neunzigsten Geburtstags aufbietet,
ist durchdacht, abwechslungsreich und
überdies eine Reise durch Lyrik- und Zeit-
geschichte der Bundesrepublik. Kleinteili-
ges wie Fotos und Dokumente aus Kind-
heit und Jugend in den Vitrinen wechselt
mit Großformatigem, Breitwand gerade-
zu: Fast siebenhundert faksimilierte Typo-
skriptseiten im Format DIN A4 füllen
eine fünfzig Quadratmeter große Glas-
wand – Rühmkorfs legendäres Projekt
„Selbst III/88. Aus der Fassung“, der Ver-
such, dem Publikum einmalin extenso
vor Augen zu führen, wie viel Mühe, Auf-
wand, Zeit, Arbeit und Akribie ein schuf-
tender Artist, wie Rühmkorf es zeitlebens

war, in ein einziges Gedicht steckt. Man
kann, wenn man viel Zeit mitgebracht
hat, was sich ohnehin empfiehlt in Litera-
turausstellungen, vom analogen Faksimi-
le zu dessen digitaler Aufbereitung auf
dem Touchscreen wechseln und sich die
unzähligen Arbeitsschritte und minutiö-
sen Bearbeitungen im Detail ansehen.
Rühmkorf war ein Perfektionist, der
das Genialische, mit schlenkernder Hand
Dahingeworfene liebte, aber wusste, dass
nach dem Einfall die Arbeit kommt, nach
dem Schlenker das Polieren, Schmirgeln
und Verfugen. Ein Gedicht musste bei
ihm dicht sein – im mehrfachen Wort-
sinn, komprimiert und abgedichtet, was-
serfest und imprägniert gegen mögliche
Einwände, vor allem jene handwerklicher
Natur. Die Leichtigkeit, das eminent Spie-
lerische seiner Verse, gerade auch seiner
Reimfindung und Rhythmusführung, wa-
ren erkämpft, ersessen in nächtelanger
Arbeit an der schartigen Arbeitsplatte in
Övelgönne, mit Blick auf den Container-
hafen am anderen Elbufer. Aber sie wa-
ren auch ersammelt, erklaubt und erjagt,
denn Rühmkorf baute seine Gedichte oft
aus jenen „Quanten“ und „Lyriden“ zu-

sammen, die er in einer Art lyrischer Vor-
ratshaltung hortete, archivierte und mit-
tels eines komplizierten Ablage- und Ver-
weissystems zugänglich und brauchbar zu
erhalten trachtete. Sein Nachlass, der
schon zu Lebzeiten Rühmkorfs den Weg
ins Deutschen Literaturarchiv gefunden
hatte, ist bislang der größte Einzelposten
in Marbachs unterirdischen Regalen.
Wer auf dem Touchscreen Rühmkorfs
Reimbildung nachspürt (Honda – Stuben-
anakonda oder auch Mädchen – Königin-
pastetchen), die Relikte seiner leider we-
nig erfolgreichen Anbandelung mit dem
politischen Theater betrachtet („was
heißt hier Volsinii?“) oder sieht und hört,
wie Rühmkorf selbst zusammen mit Mi-
chael Naura und anderen in bis dahin und
seitdem wieder ungekannter Weise Jazz
und Lyrik in gemeinsame Schwingung
versetzte, weiß wieder, warum dieser
Dichter unvergleichlich ist. Wenn er es
denn, aber das ist unwahrscheinlich, je
vergessen hatte. HUBERT SPIEGEL
Laß leuchten! Peter Rühmkorf zum Neunzigsten.
Altonaer Museum, Hamburg; bis zum 20. Juli


  1. Danach im Literaturmuseum der Moderne
    in Marbach.


Unser Oscar


Vorschlag, Nominierung,
Gewinn? Eine Obsession

Null zu null


Der Wortschnuppenfänger


Zwischenspiel mit Festanstellung: Peter Rühmkorf als Lektor beim Rowohlt Verlag, um 1960 Foto Ulrich Mack/ DLA Marbach


Arbeit am narbengesichtigen Sudelbrett der Poesie: Hamburg zeigt die erste große Ausstellung


zuLeben und Werk des Dichters Peter Rühmkorf im Altonaer Museum. Das wurde auch Zeit.


Robert Peroni Foto Freddy Langer

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