Handelsblatt - 23.08.2019

(Rick Simeone) #1

GESUNDHEIT & VORSORGE


DUB UNTERNEHMER-Magazin


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neuen Therapien und Diagnosemöglichkeiten. Die
Forscher nutzen Daten und das Internet, um ihre Vor-
haben im Kampf gegen Krebs, Demenz und andere
Krankheiten umzusetzen. Der Datenhunger hat aber
seinen Preis: Es ist kaum abzuschätzen, wie viel Per-
sönliches Kunden der Tech-Riesen heute schon von
sich preisgeben.
Reise zum anderen Extrem: China. Tencent ist
eines der größten Social-Media-Unternehmen und eine
der größten Investmentgesellschaften der Welt. Über
700 Millionen aktive Nutzer zählt allein das Unter-
haltungsprogramm des Konzerns: Messenger, soziale
Netzwerke, Online-Spiele. Und Tencent hat die Digi-
talisierung im Gesundheitswesen als strategisch wich-
tiges, ökonomisch höchst interessantes Feld erkannt:
So bündelt das Unternehmen über sein Ökosystem
WeChat zahlreiche Services rund um Gesundheit und
optimiert das chinesische Gesundheitssystem damit
enorm. Es bietet Krankenversicherungen an, steuert
Terminvergaben bei Ärzten und in Kliniken, kümmert
sich um die Abrechnungen. Gleichzeitig ist in China
zu beobachten, dass nicht nur Unternehmen, sondern
auch die Gesellschaft die Digitalisierung auf neue Art
nutzen: Das sogenannte Social-Credit-System hält
Einzug in den Alltag. Das Programm sammelt Daten,
zum Beispiel über Versicherungs-, Gesundheits- und
Social-Media-Aktivitäten. Mit Folgen: Im positiven
Fall gibt es schneller Kredite und Visa, im negativen
Fall Reisebeschränkungen, Internetdrosselung, sogar
höhere Steuern.


NEUES MODELL FÜR EUROPA


Überall geht es voran, nur in Europa scheint uns
etwas in Sachen Digitalisierung auszubremsen. Der
Grund ist aus meiner Sicht banal: Das analoge System
funktioniert, und vielen, die im Gesundheitswesen
arbeiten, geht es sehr gut darin. Da ist die Bereitschaft
zur Veränderung gering. Doch die Frage, ob auch die
Menschen gut damit leben, wird noch viel zu selten
gestellt. Gleichzeitig – und das sehe ich vor allem als
ein typisch deutsches Phänomen – haben wir viel zu
oft den Anspruch, direkt mit einer hundertprozentigen
Lösung zu starten. Wir hemmen uns selbst mit unserem
Anspruch an Perfektion.
Die elektronische Patientenakte ist dafür ein idea-
les Beispiel. Sie ist die Basis einer funktionierenden
digitalen Versorgung. Sie bündelt alle Gesundheits-
daten. Das sorgt für Transparenz und reduziert etwa
Doppeluntersuchungen, falsche Medikationen und
zeitraubendes Suchen nach alten Befunden. Und ganz
wichtig: Der oder die Versicherte hat die Hoheit über


die Daten und kann entscheiden, welche Ärzte und
Versicherungen sie einsehen dürfen. In Dänemark längst
im Einsatz, tun wir uns in Deutschland schwer, ein
einheitliches Modell auf den Markt zu bringen. Aber
ab 2021 soll es dann auch hierzulande so weit sein.

PERSÖNLICHKEITSRECHTE WAHREN


Ein schwieriger Spagat: Die europäische Datenschutz-
Grundverordnung ist ein wichtiger Grundpfeiler zur
Wahrung des Rechts an persönlichen Daten. Dennoch
wünschen sich die Menschen individuelle Angebote
und Leistungen, auf ihren Lebensstil und ihre Gesund-
heit zugeschnitten. Das geht aber nur mit der Speiche-
rung und Verarbeitung von Daten. Ich bin überzeugt:
Die Lösung liegt in der Souveränität über die eigenen
Daten, die wir so dringend brauchen.
Es werden Technologieunternehmen sein, die
Europas Gesundheitssystem erheblich mitgestalten.
Die EU mit ihren rund 500 Millionen Einwohnern ist
ein äußerst attraktiver Markt für die Tech-Riesen –
für die aus den USA, aber perspektivisch auch aus
China. Regulierungen der EU und der Länder brem-
sen den Markteintritt der Tech-Unternehmen derzeit
noch. Aber staatliche Verbote werden auf Dauer nicht
funktionieren, sie werden dem Bedürfnisdruck nicht
standhalten können. Europa muss schneller werden.
Zum Beispiel ist es richtig, dass eine App, die mir etwa
wichtige Informationen über meine Herzgesundheit
gibt, ein Zulassungsverfahren durchläuft – analog zu
einem Medikament. Aber gerade Start-ups haben nicht
den langen Atem, erst ein endloses Verfahren zu durch-
laufen, bevor sie loslegen können. Eine schnellere,
dafür aber befristete Zulassung wäre aus meiner Sicht
eine Lösung. Wir sollten zudem versuchen, partner-
schaftlich mit den Tech-Unternehmen an einer digita-
len Versorgung zu arbeiten – nach europäischen Stan-
dards in Sachen Datenschutz und Ethik.

UNSER EUROPÄISCHER WEG


Zwischen dem chinesischen sowie dem US-Modell
kann für Europa ein dritter Weg bei der digitalen
Transformation des Gesundheitswesens entstehen.
Ein Weg, der den europäischen Idealen entspricht.
Ein Weg, der klar den Menschen in den Vordergrund
rückt, ihm Freiheit zu eigenen Entscheidungen lässt.
Der ihn zugleich von staatlicher Seite schützt, soziale
Gerechtigkeit im Gesundheitsbereich sichert sowie
die Innova tionskraft in der EU fördert. Das Ziel: ein
echter Mehrwert für die Gesundheitsversorgung der
Menschen in Europa.

ZUM
AUTOR
DR. JENS BAAS
Der Arzt und
ehemalige Partner
der Unternehmens-
beratung Boston
Consulting Group
sitzt seit 2011 im
Vorstand der
Techniker Kranken-
kasse und ist seit
Juli 2012 ihr
Vorstandsvor-
sitzender
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