Das Exit-Risiko
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(^48) WOCHENENDE 23./24./25. AUGUST 2019, NR. 162
teien jede für sich eine „qualitative Analyse“ vor.
Auf Basis dieses bewertenden Teils der Regierungs-
arbeit wird die SPD-Spitze dem Parteitag im De-
zember eine Empfehlung mit auf den Weg geben,
ob die Koalition fortgesetzt werden soll.
Dabei spielt nicht nur eine Rolle, was bisher er-
reicht wurde, sondern auch, was noch erreicht
werden kann. „Für mich persönlich ist dabei einer
der wichtigsten Punkte eine wirksame und zu-
gleich ausgewogene Klimaschutzstrategie“, sagt
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil
(SPD). „Und insgesamt muss es für die zweite Halb-
zeit die gute, realistische Chance geben, dass die
Akteure in der Bundesregierung zu einem besse-
ren Miteinander kommen.“
Sehnsucht nach reiner linker Lehre
Die Frage ist aber, ob das nach den bisherigen Er-
fahrungen realistisch ist. In Zeiten, in denen politi-
sche Kampagnen anders ablaufen als früher, ver-
langen Wähler wie SPD-Mitglieder offenbar nach
Authentizität, Spontanität und Visionen statt sorg-
fältig durchgezählter Spiegelstriche in Gesetzesvor-
haben. Der freche Juso-Chef Kühnert schlägt in die-
sem Klima den kühlen Technokraten Scholz. „Olaf
Scholz ist sicher kompetent. Aber als Parteichef ist
er vielleicht zu altmodisch, steht zu sehr für alte
Kaderpolitik“, sagt Politikwissenschaftler Cuperus.
„Im Zeitgeist eines grassierenden Populismus war
es für die SPD Selbstmord, wieder in eine Große
Koalition einzutreten.“ Die parrteiinterne Diskussi-
on über die mögliche Regierungsalternative Rot-
Rot-Grün zeige, dass die SPD die Regierung mental
längst verlassen habe, so Cuperus. „Wenn das so
ist, ist es besser, im Dezember das Kapitel endgül-
tig zu schließen und aus der Koalition auszutreten.“
Dort, so der Politikwissenschaftler, müsse sich
die SPD als Hüterin und Innovatorin des deutschen
Sozialstaatsmodells neu aufstellen. „Dafür muss sie
einerseits in der Finanzpolitik linker werden und
ein großes öffentliches Investitionsprogramm auf
den Weg bringen. Andererseits muss sie in der Mi-
grationspolitik strikter werden und Einwanderung
nur in dem Umfang zulassen, wie sie kein Risiko
für die Fairnessgefühle im Sozialstaat ist.“ Die däni-
schen Sozialdemokraten haben mit dieser Mi-
schung aus linker Sozialpolitik und rechter Einwan-
derungspolitik die Wahlen im Königreich gewon-
nen (siehe die Übersicht über sozialdemokratische
Erfolgsmodelle auf Seite 49).
Doch für die SPD ist es nicht einfach, diesem
Vorbild zu folgen. Denn wenn die Partei nach links
rückt, um ihre alten Stammwähler wieder anzu-
sprechen, verliert sie die Gutverdiener in der Mitte,
denen die Last aus Steuern und Sozialabgaben be-
reits jetzt zu hoch ist. Umgekehrt würde die Partei-
führung die eigenen Funktionäre vor den Kopf sto-
ßen, wenn sie in Migrationsfragen einen deutlich
härteren Kurs fährt.
Den organisierten Konflikt zwischen Regierungs-
befürwortern und Regierungsgegnern gibt es in
der SPD laut Politikwissenschaftler Niedermayer in-
zwischen viel zu lange: „Ich bin mittlerweile der
Ansicht, die SPD sollte die Große Koalition verlas-
sen.“ Dann würde endlich Klarheit herrschen, „der
linke Flügel der Partei könnte den Beweis antreten,
dass er der Partei mit einer Neupositionierung zu
neuer Bedeutung verhelfen kann“.
Das sieht Scholz ganz anders. „Wenn ein GroKo-
Gegner gewinnt, wird die SPD endgültig zu einer
zweiten Linkspartei“, sagt ein SPD-Regierungsver-
treter aus seinem Umfeld. „Dann werden wir als
Volkspartei einfach gegen die Grünen ausge-
tauscht. Die SPD ist dann nur noch Regionalpartei,
die in ein paar Städten Bürgermeister stellt, aber
im Bund nichts mehr zu melden hat.“ Man brauche
doch nur nach Bayern zu schauen: Dort erneuere
sich die SPD schließlich schon seit fast 50 Jahren
ohne jeden Erfolg in der Opposition.
Gerade Bayern zeigt auf beklemmende Weise,
was der SPD bundesweit droht. Weil sozialdemo-
kratische Direktkandidaten im Freistaat keine
Chance haben, kämpfen die Genossen dort nur um
die vorderen Listenplätze. Das führt zu einer extre-
men Binnensicht. Viele sind nur noch mit dem
Netzwerken in der eigenen Partei beschäftigt, statt
den Kontakt zu den Bürgern zu suchen. Bei Neu-
wahlen im Bund mit der Aussicht auf zehn bis 15
Prozent für die SPD würde sich der Run auf die
knappen Listenplätze bundesweit verschärfen, die
SPD zur Partei der Apparatschiks.
Wenn die SPD die Koalition verlässt, könnte die
Union zudem eine Minderheitsregierung bilden,
ein Jahr alle Ministerposten besetzen und die „Ta-
gesschau“ dominieren, während die SPD dort nicht
mehr vorkommen würde. „Die SPD sollte in der
Koalition bleiben. Ein Ausstieg bringt ihr keinen
Vorteil und kommt in der Bevölkerung schlecht
an“, findet Politikwissenschaftler Claus Leggewie.
Die Union hadert mit AKK
Wie auch immer sich die SPD am Ende entschei-
det: Normalerweise müsste die Schwäche der Sozi-
aldemokraten die politische Konkurrenz erfreuen.
Doch bei der Union ist das nur sehr eingeschränkt
der Fall. Kanzlerin Angela Merkel und CDU-Chefin
Annegret Kramp-Karrenbauer sorgen sich um ihr
Bündnis mit den Sozialdemokraten. Merkel will ih-
re letzte Regierung und ihre Zeit als Kanzlerin nicht
vorzeitig beenden. Und auch Kramp-Karrenbauer
kann derzeit kein Interesse an einem Bruch haben.
Zu angeschlagen ist die CDU-Chefin und Verteidi-
gungsministerin. In den vergangenen Monaten hat
sie Kommunikationspannen am Fließband produ-
ziert – von ihren Karnevalswitzchen über das dritte
Geschlecht, den verunglückten Umgang mit dem
CDU-kritischen Youtuber Rezo und der Klima-
schutzbewegung bis zu ihren jüngsten Attacken ge-
gen den früheren Verfassungsschutzpräsidenten
Hans-Georg Maaßen.
Die Zweifel in der CDU an Kramp-Karrenbauer
wachsen, auch wenn das niemand öffent-
chen“. Die SPD habe viel größere Fragen zu klären.
Das sieht auch die Parteibasis so. Vor dem Start
der Regionalkonferenzen wurden über 36 000
SPD-Mitglieder befragt, welche Themen die größte
Rolle bei den Veranstaltungen spielen sollten. Auf
Platz eins kam die Klimapolitik, vor dem Thema
„Spaltung der Gesellschaft“ und der Frage, wie die
SPD wieder ein eigenständiges Profil gewinnen
kann. Die Große Koalition wurde von den Befrag-
ten nur auf Platz 21 gewählt.
Um Kritik an dem Auswahlprozess zu zerstreu-
en, hat die SPD-Parteizentrale auch tief im Parteiar-
chiv gewühlt und ist auf die Bremer Bürgerschafts-
wahl 1995 gestoßen. In einem Mitgliederentscheid
entschied sich die Basis damals für Henning Scherf
als neuen Bürgermeister. Die Mitglieder ignorierten
allerdings Scherfs Wunsch nach einem rot-grünen
Bündnis und votierten für eine Große Koalition,
die Scherf dann anführte. Die Botschaft dahinter:
Unsere Mitglieder können Kandidatensuche und
Koalitionsfragen sehr wohl voneinander trennen.
Allerdings lässt sich das kleine Bremen kaum mit
dem Bund vergleichen. Und Frage nach einem „ei-
genständigen Profil“, das die SPD-Mitglieder auf
Platz drei der drängendsten Fragen setzten, ist nun
mal untrennbar mit der Regierungsbeteiligung ver-
knüpft. Ob die SPD drinnenbleiben oder rausgehen
soll, ist für viele Genossen zu einer Glaubensfrage
geworden – die die Parteispitze mit technokrati-
scher Akribie zu beantworten versucht: einer bis
ins kleinste Detail aufgeschlüsselten Halbzeitbilanz.
Alle Ministerien arbeiten derzeit daran, die Erfol-
ge der Bundesregierung aufzulisten. Im Vizekanz-
leramt von Olaf Scholz sind die Beamten etwa gera-
de beim Punkt Gebührenfreiheit für Kitas ange-
kommen. Diese „quantitative Analyse“ wird von
der gesamten Regierung erstellt, Mitte Oktober soll
sie abgeschlossen sein. Danach nehmen beide Par- ❯❯
Juso-Chef Kevin Kühnert: Viele in
der SPD wünschen sich seine Kan-
didatur für den Vorsitz.
Murat Tueremis/laif
Die SPD hat viel zu wenig
aus den Fehlern ihrer
sozialdemokratischen
Schwesterparteien gelernt.
Rene Cuperus
niederländischer Politikwissenschaftler
und Sozialdemokrat
CDU-Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer:
Ihre Schwäche bedeutet eine Chance für die Sozialdemokraten.
dpa
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