Süddeutsche Zeitung - 27.08.2019

(nextflipdebug5) #1
ImMärz2016twittertederRechtsanwalt
ThomasStadleretwas,dasihnbeinahesei-
nenAccountkostete:„DringendeWahl-
empfehlungfüralleAfD-Wähler.Unbe-
dingtdenStimmzettelunterschreiben.;-)“
WenigeTagespäterwurdeindreiBundes-
länderngewählt.Esistnichtbekannt,ob
einAfD-WählerStadlerssatirischenRat-
schlagbeherzigtundseinenStimmzettel
mitseinerUnterschriftungültiggemacht
hat.
DreiJahrespäterwarStadlersAccount
plötzlichgesperrt.Genausoergingesder
BerlinerStaatssekretärinSawsanChebli,
derJüdischenAllgemeinenZeitungund
weiteren,wenigerbekanntenNutzern.
Twitterhattedie„RichtliniezurIntegrität
vonWahlen“eingeführt,dieesunterande-
remverbietet,Inhaltezuteilen,„diefal-
scheAngabenzumAblaufeinerWahlma-
chen“.EinigeTagespäterentschuldigte
sichdasUnternehmen.Stadler,Chebliund
dieJüdischeAllgemeinetwitternseitdem
wieder.TomHillenbrandsAccountaberist
nochimmergesperrt.Seitdem6.Maiwar-
tetderSchriftstellerdarauf,dassTwitter
ihmseinenAccountzurückgibt.

SZ:HerrHillenbrand,Siehabenseitmehr
als100TagenkeinenZugriffaufIhren
Twitter-Account.WashabenSiegetan?
TomHillenbrand:IchhabeeineReihevon
satirischenTweetsabgesetzt:AfD-Wähler
sollenihreWahlzettelunterschreibenund
aufessen,FDP-WählerihreStimmeverkau-
fen,Grünen-WählermitihrerHäkelgrup-
peüberihreWahlabsichtenredenundso
weiter.EinKlischeeproPartei,mittelmä-
ßigoriginell,ganzbewusstmitHolzham-
mer-Ironie.IchwollteTwittertesten.

WaswolltenSieherausfinden?
WieunfähigTwitterwirklichist.Ichhabe
dieSatireaufdieSpitzegetrieben.Aber
selbstdashatoffenbarnichtgereicht,da-
mitTwittereskapiert.DerUmgangmitsol-
chenFällenistentwederkatastrophal
schlechtoderschlichtböswillig.

WiebegründetTwitterdieSperre?
EinzelfällebegründetTwittergrundsätz-
lichnicht.Ichwurdeinformiert,dassmein
TweetzurAfDangeblich„irreführendeIn-
formationenzuWahlen“enthält.Man
kannwidersprechenunddenVorgangprü-
fenlassen.DashataberdenPreis,dassder
Accountkomplettgesperrtwird.

GehtesnurumdieAfD,oderstörtsich
TwitteranallenfünfTweets?
MeinesatirischenRatschlägefürdieande-
renParteiensindoffenbarkeinProblem.
Daszeigt,wiekaputtdasMeldesystemist:
TwittersperrtInhalte,wennNutzersich
darüberbeschweren.Daslässtsichmiss-
brauchen:Menschenkönnensichzusam-
menschließenundmassenhaftTweetsan-
prangern,dieihnennichtdenKrampas-
sen.TeilweisehabenRechtsradikaledazu
aufgerufen,gezieltmissliebigeTweetszu
melden.Niemandweiß,wieTwitterdas
prüftundwerdafürverantwortlichist.
MansiehtnurdasErgebnis:Siesperrenna-
hezuwillkürlichInhalteundfordernNut-
zerauf,völligunproblematischeTweets
freiwilligzuentfernen.

WennSiedenTweetgelöschthätten,wäre
nichtsweiterpassiert?
Genau:Wennmanbereitist,sichvonei-
nemUS-KonzerndenMundverbietenzu

lassen,danndarfmanweitertwittern.
AberdaesmeinBerufist,mitWortenzuar-
beiten,überlasseichdieEntscheidung,
wasichschreibe,ungernanderen.Ich
könnteesmirimmernochandersüberle-
gen:Wennichmicheinlogge,seheichei-
nenHinweisundwerdeaufgefordert,den
Tweetzulöschen.

EinKlick,allerÄrgervorbei.Warumma-
chenSiedasnichteinfach?

DaswärederleichtesteWeg.Aberman
musshiermaleineGrenzeziehen.Diese
großenUnternehmenwieFacebook,Goo-
gleundTwittersinddieAgorasunsererDe-
mokratie.HierfindeteinGroßteildesöf-
fentlichenDiskursesstatt.Deshalbistes
wichtig,dassmandortallesschreiben
darf,wasnichtgegenGesetzeverstößt.

Twittersiehtdasoffenbaranders.
SiehabendassogarineinerAnhörungvor
demBundestaggesagt:WirlöschenSatire
grundsätzlich,wennsiefalscheInformatio-
nenzumWahlvorgangenthält.Inanderen
Worten:ScheißaufdasGrundgesetz,

scheißaufdieMeinungsfreiheit,wasman
sagendarf,bestimmenimmernochwir.

TwitteristeinprivatesUnternehmen,das
seineeigenePlattformbetreibt.Warum
sollesdortnichtseineeigenenRegeln
durchsetzen?
DieMärdiesesdigitalenHausrechtsgeis-
tertseitJahrendurchsNetz.Plattformbe-
treiberkönnenkeineswegsmunterdrauf-
loslöschen.GrundrechtewiedieMei-
nungsfreiheitsollenunsvorallemvordem
Staatschützen,abersiewirkenüberall.Ge-
richtehabenentschieden,dassUnterneh-
menkeinewillkürlichenRegelnaufstellen
dürfen.AuchdiehabendieMeinungsfrei-
heitihrerNutzerzurespektieren.Face-
bookmusstemehrfachgesperrteBeiträge
wiederherstellen,dienichtgegendeut-
schesRechtverstoßen.BeimeinemTweet
istesnocheindeutiger:MankanndenWitz
dooffinden,abermankannnichternst-
haftglauben,dassichWahlenmanipulie-
renwill.„DenWahlzettelaufessen“,also
bitte.

WiehabenSiesichgegendieSperrege-
wehrt?
IchhabejuristischeSchritteeingeleitet.
MeinAnwalthatTwitterabgemahntundei-
neEinstweiligeVerfügungerwirkt.Das
LandgerichtMünchenhatfestgestellt,
dassmeinTweeteindeutigsatirischenCha-
rakterhabeundäußerungsrechtlichzuläs-
sigsei.DeshalbmüsseTwitterdenTweet
wiederherstellenundmeinenAccountent-
sperren.Bisdasdannallesübersetztist
undinDublinlandet,dauertesetwas.Aber
dieVerfügungliegtTwitterseitmehralsei-
nemMonatvor.Bislanghabensienichtre-

agiert.DienächsteEskalationsstufeistein
Ordnungsgeld.Daskannbiszu250000Eu-
robetragen.

WashabenSieindenvergangenenMona-
tenüberTwittergelernt?
TwitteristeinglobalerKonzernundver-
hältsichwieeineschmierigeVersiche-
rungsbude.EsgibtzwareinedeutscheGe-
schäftsführung,aberkeineAdresse,andie
manAbmahnungenundEinstweiligeVer-
fügungenschickenkann.Dieversuchenbe-
wusst,sichzuversteckenundignorieren
EntscheidungendeutscherGerichte.Das
gehtanderengesperrtenNutzerngenauso,
diesichebenfallswehren.DiesesUnterneh-
menistgenausoseltsamwieseinChef
JackDorsey:EinbärtigerSandalen-Hips-
ter,derinseinerFreizeitineinereiskalten
Kryo-Kammerrumsitzt,bringtdieZensur
zurücknachDeutschland.

AndereMenschenzahlenGeldfürApps,
diesozialeMedienblocken.Siebekom-
menIhre„Digital-Detox“-Dosisgratis
undungefragt.WieverändertsichdasLe-
ben,wennmanwenigerZeitaufTwitter
verbringt?
TatsächlichhatdieSperreauchetwasGu-
tes:Ichregemichwenigerauf.AufTwitter
manifestiertsichdiedauerempörteGesell-
schaft.Irgendwasistimmer,überdasman
sichaufregenkann:Kramp-Karrenbauer
sagtetwas,alleschreienlos.Rezosagtet-
was,alleprügelnaufihnein.Dasgehtjetzt
anmirvorbei.DerTwitter-Entzugmacht
michgelassener,TwittersWillkürmacht
michwütend.AmEndeisteseinNullsum-
menspiel.
:

NachdemumdieJahrtausendwende
herumPlattensammlerundRare-Groo-
ve-FetischistennochdieletzteSoul-Sin-
gleausdenLagernirgendeinesWare
HousesindenSüdstaatengezogenhat-
ten,allerarenB-Seitenundunveröffent-
lichtenStudiotakesjederlokalenFunk-
Bandwiederveröffentlichtwordenwa-
ren,kamdieFrageauf,obmannicht
maldenBlickaufdieandereSeitedes
Atlantiksrichtensollte.Warumnicht
dieafrikanischeVerwandtschaftvon
Jazz,SoulundFunksuchen?Undnach
vergessenenKlangschätzendesschwar-
zenKontinentsschürfen?AlsderBerli-
nerDJFrankGossnervor15Jahrenbei
einemPlattenkaufzuginPhiladelphia
zufälligaufeinePlattedesnigeriani-
schenTabansi-Labelsstieß,warerelek-
trisiert:DerpsychedelischeAfrobeat
einesMusikersnamensPaxNicholas
klangandersalsalles,waserbisher
gehörthatte.Etwasspätersaßerim
FlugzeugRichtungWestafrika.Erwühl-
tesichdurchaufgegebenePlattenläden,
gabAnzeigenaufundklebtePostermit
denvonihmgesuchtenPlatten.Der
BerlinerwurdezumPionierfüreine
ganzeScharvonSound-Archäologen,
diedamalsAfrikaalsAusgrabungsstät-
tefürseltenesVinylentdeckten.
Unteranderem„AnalogAfrica“,
„StrutRecords“,„Soundway“und„Mr.
Bongo“veröffentlichtendieindenAr-
chivenvonRadiostationen,Nachlässen
vonMusikernundLagerneinstiger
PlattenfirmenaufgespürtenTonaufnah-
men.Stelltendiesearchäologischen
TripsnichteineFormvonNeokolonialis-
musdar?HättemandieTonträgerals
historischeKulturzeugnissenichtbes-
serinAfrikalassensollen?
Bezeichnenderweisewurdediese
DiskussionnurimWestengeführt–
undunterAuslassungderFakten:Meist
hattesichniemandvorOrtfürdie
Schallplatteninteressiert.Hättenihnen
einpaarrührigeWiederveröffentli-
chungslabelnichteinzweitesLeben
geschenkt,wärensiefüreinejüngere
Generationverlorengewesen,ausdem
Kultur-undGeschichtsgedächtnisAfri-
kasgelöscht.Zudemdarfmandiemeis-
tenderWiederveröffentlichungenals
reineLiebhabereibetrachten.Soauch
imFalldesLondonerLabelsBBE(Bar-
elyBreakingEven,deutsch:„Gerade
malrentabel“),dasdengesamtenBack-
katalogdesnigerianischenLabelsTa-
bansioffizielllizenzierthat.

IndenSiebziger-undAchtzigerjahren
hatteChiefTabansimiteigenenStu-
diosundVinylpresswerkinLagosdie
Lückegefüllt,diederAbzugwestlicher
PlattenfirmenausWestafrikahinterlas-
senhatte.NunlegtBBEdieerstenacht
vongeplanten60Reissuesvor:ImOrigi-
naldesign–mitkrachigen,malanDis-
co-Mode,malanAfro-Folkloreerin-
nerndenCovers.Undnatürlichneben
CDauchaufVinyl.
Umesvorwegzunehmen:Nichtalle
derWiederveröffentlichungenwerden
dieGemeindederAfrobeat-undRare-
Groove-Fetischistenansprechen.Gera-
deindenAchtzigerjahrenkopierten
vielenigerianischeKünstlerdiePopmo-
denausAmerika.ImbestenFallfunktio-
niertdaeinAlbumwieNkonoTeles’
Album„Partybeats“alsFundgrubefür
Hip-Hop-DJsundBreakbeat-Bastler,
diesichamCharmederrumpelnden
Synthiesundungeschliffenenelektroni-
schenEffekteberauschen.

Aberdannbleiben
docheinigeganz
famoseFundstü-
cke:EtwaZeal
Onyias„Trumpet
KingZealOnyia
Returns“einener-
giestrotzendes,
frisch-fröhlichesHighlife-Albumdes
vonLouisArmstrongals„highlifehep
catofNigerianJazz“gehyptenTrompe-
ters,erhattezuvorinDeutschlandklas-
sischeMusikstudiert.Eineweitere
Highlife-Prezioseistdievonafrokubani-
schenBläsersätzenangetriebene„Dyto-
miteStarliteBandOfGhana“.OderOjo
Balingos„Afrotunes“:eineRarität,die
repetitive,percussionlastigeJuju
SoundsmitPsych-Rock-Gitarrenhoch-
kocht.AuchderghanaischeAfrobeat-Pi-
onierEboTayloristmit„Palaver“ver-
treten:ErhattedasAlbumwährend
einerTourneeinNigeriaaufgenom-
men,woesdannin
denStudioregalen
verstaubte.Sollten
GeldoderNeugier
abernurfürein
einzigesAlbum
ausreichen,dann
empfiehltessich
unbedingt,hierreinzuhören:„Ewondo
Rhythm“vonOndiguiundBotaTaban-
siInternational.Diesilbrigklingeln-
denGitarrendeskongolesischenSou-
kous,Highlife-BläserundHarmoniege-
sängeentfachenauchvierJahrzehnte
nachderErstveröffentlichungihre
Magie.Frischklingtdas.Und–aufeine
leichtfüßigeArt–funky.KeinWunder,
dassdiekolumbianischenChampeta-
Soundsystems(siekombinierenAfro-
undLatinstile)aufderanderenSeite
desAtlantiksdiesesAlbumseitLangem
aufihrenPlaylistshabenundambitio-
nierteDJsUnsummenfür„Ewondo
Rhythm“hinlegen.Auchdeshalbnoch
maleinDankean
alleVinyl-Archäolo-
gen:Afrikabraucht
Digger,diesolche
Kulturschätzefür
allezugänglich
machen!-





N


ochbisindieAchtzigerjahrebrach-
teeinersterPreisbeieinemderre-
nommiertenKlavierwettbewerbe
vonMoskau,Bozen,Warschau,Brüssel
oderimtexanischenFortWorthfrühen
Ruhm,einbisschenGeldundvorallem:
eineninternationalenKarrierestart.Unter
denPreisträgernwarenGrößenwieFried-
richGuldaoderMarthaArgerich,Maurizio
PolliniundArturoBenedettiMichelangeli.
AlfredBrendelkonnteselbstmiteinem
viertenPlatzbeimBusoni-Wettbewerbals
18-JährigereineWeltkarrierestarten.
AuchAndrásSchifflandetebeimMoskau-
erTschaikowsky-Wettbewerbnuraufdem
viertenPlatz,denerstenbelegteAndrei
Gavrilov.Daswar1974.Heutehilftdem
Musikernachwuchsoftnichtmalmehrdas
Siegertreppchen;dasRenommeederWett-
bewerbeistindenletztenvierzigJahren
stetiggesunken.
ManfandodervermuteteUnregelmä-
ßigkeitenbeiderPreisvergabe,Seilschaf-
tenunterdenJury-Mitgliedern,Einfluss-
nahmevonGeldgebern.Undmansah,wie
PianistenwieEvgenyKissindurchstarte-
ten,ohnejeeinenWettbewerbbesuchtzu
haben.DochnunscheinendieMusikwett-
bewerbeallmählichwiederanBedeutung
zugewinnen.PreisträgerwieDaniilTrifo-
novimJahr2011halfendabei,undauchdie
KarrieredesihmfolgendenPreisträgers
desTschaikowsky-Wettbewerbes,Dmitry
Masleev,nimmtallmählichFahrtauf.„Für
michistderTschaikowsky-Wettbewerbei-
gentlichderwichtigsteunterdenweltweit
vierbedeutendenWettbewerben“,sagt
Masleev.IndiesemJahrtourteerdurchMe-
xiko,Estland,Frankreich,Russland,Spani-
en,Polen,Schweiz.

FürdasdeutschePublikumgabesnur
einenexklusivenAbstecher:einenKlavier-
abendimbayerischenSchlossElmau.Mas-
leevwirktaucheinbisscheneingeschüch-
tertindernoblenUmgebung;der31-Jähri-
ge,deraussieht,alshabeergerademaldie
Schuleverlassen,istvonNaturauseineher
zurückhaltend.SeinezierlichenHändewie
auchdieübrigeGestaltlassenkaumver-
muten,welcheKrafteraufdemKonzertflü-
gelentfaltenkann.Wieervomzartgetupf-
tenPianissimourplötzlichineinenForte-
Rauschverfällt,dessenWuchterschreckt,
zumindesteinbisschensorgenvoll
stimmt.AufseinererstenSolo-CDkann
mandasnachhören:Zunächstderdelika-
testeScarlatti,insbesonderedied-Moll-So-
nateK1lässtMasleevnichtnureleganther-
unterperlen,sonderngibtihreinenrhyth-
mischenDrive,dernichtnurdasbarocke
KleinodinglamourösenSchimmerhüllt,
sonderneinbisschenauchdenPianisten.
EsisteinbisschenwiebeiderKlavier-
musikvonMozart:technischnichtallzuan-
spruchsvoll,abermusikalischenormfor-
dernd.Dasistfastnichtzulernen,damuss
manvielnatürlicheMusikalitätmitbrin-
gen.DannderProkofjew-Einbruch,daspi-
anistischeUrgewitter,indemMasleev
abererstrichtigaufzublühenscheint.Das
sindaberalleskeineaufgesetztenExtrava-
ganzen.„UnsererussischeTradition“,sagt
er,„lehrtuns,sicheinemWerkausdem
BlickwinkeldesKomponistenundausdes-
senzeitlichemUmfeldzunähern.“Auch
fürseinexklusivesRezitalimLuxushotel
SchlossElmauhaterSergeiProkofjewauf
demProgrammzettel,dazujeeineSonate
vonNikolaiMjaskowskiundNikolaiMedt-
ner,zweiNocturnesvonFrédéricChopin
undeinImpromptuvondessenSchüler,
demWunderkindCarlFiltsch.
DieGeschichteumdiesenbereitsmit
fünfzehnJahrenanTuberkuloseverstorbe-
nengenialischenPianistenundKomponis-
tengehörtsicherlichzudentragischsten
derMusikgeschichte.Masleevspieltdas
ImpromptuvonFiltschmitderganzenvir-

tuosenBegeisterungundmentalenDiszi-
plin,diederfrühreifeKomponistausder
VerbindungvonChopinundLisztgewon-
nenzuhabenscheint.Einerstaunliches
Stück,esscheintauchMasleevnahezuge-
hen,derselbereineGeschichtezuerzählen
hätte:dieGeschichteseinerMutter,dieihn
inseinerMusikbegeisterungschonfrüh
unterstützthatundihnschließlichdräng-
te,amrenommiertenTschaikowsky-Wett-
bewerbimfernenMoskauteilzunehmen–
erselberhattevielzuvielRespektdavor.
WennmaninUlan-Udegeborenundaufge-
wachsenistundinNowosibirskstudiert,
hatmanvielleichtwenigerAblenkungund
mehrZeitzumKlavierübenalsinMoskau,
abersovielSelbstbewusstseinwiedieMen-
scheninderHauptstadthatmannicht.
NachdemMasleevdieersteRundeer-
folgreichabsolvierthatte,geschahdas
Unerwartete.InzweiTagen,am21.Juni,
standdienächsteRundean,allewarenbe-
geistertvomSpieldesjungenPianisten.
UndzuHausestarbdieMutter.ElenaMas-
leevakonnteschonnichtmehrmitkom-

mennachMoskau,sosehrhatteihrder
Krebszugesetzt,undjetzt,mittenimWett-
bewerbsstress,kamdieNachrichtvonih-
remTod.Masleevwolltenichtsmehrals
nachHause,wenigstenszurBeerdigungda
sein.DieOrganisatorendesWettbewerbs
warenentsetzt,dieJuryahntenichts.Man
redeteaufdenjungenPianistenein,aber
eshalfnichts.ErstalsmandenVateraus
Sibirienherbeirief,ändertederSohnseine
Meinung.DieMutterhättenichtssehnli-
chergewünschtundgeglaubtalsdenWett-
bewerbserfolgdesSohnes–damitkonnte
derVaterdieSacheretten.
Masleevspielteweiter–untereinerBe-
dingung:DieJurydurftenichtvomTod
derMuttererfahren.ErhätteesalsBetrug
anihrempfunden,wennerdurchihren
TodeinenBonusbekommenhätte.Alsjun-
gerKünstlermöchtemankeineAlmosen,
sondernechteAnerkennung.Deshalbist
KönnenundDisziplinallemalwichtigerals
zurSchaugestellteGefühle.Abersogut
MasleevseineEmpfindungenauchimAll-
tagverbirgt,inderMusikkommensie

dochzutage.Nichtsentimentaltriefend,
eherunterschwellig.EineminimaleVerzö-
gerunghier,einbeherzterAkzentdort–es
sindKleinigkeiten,dieseinSpielsobeson-
dersmachen.Undessindnichtdiegroßen
romantischenSchlachtrösserwiedasKla-
vierkonzertvonTschaikowsky,indenener
ammeistenvonsichpreisgibt.Geradein
denformalschlichtenSonatinendes
DomenicoScarlattizeigtMasleev,wieman
imKleineneinenganzenSeelenkosmos
aufspannenkann.DasistgroßeKunst,das
istes,wasmanalsHörerimmerwillundso
seltenbekommt:DemKünstlerbeimSu-
chennachsichselbstbeobachtenund
beimFindenzuhören.
VielleichthatgeradedasdieJuryseiner-
zeitüberzeugt.InvielerleiHinsichtistMas-
leevnocheinSuchender,einebensovor-
sichtigwiebestimmtsichVortastender.
WasSchwächeneinschließtunddurchaus
typischistfürdiejüngereundmittlerePia-
nistengeneration–vonAusnahmenwie
DaniilTrifonoveinmalabgesehen.DasPu-
blikumhatdaoftmehrGeduldalsdiePlat-

tenlabels,dieliebernachdemfertigen
Meisterschielen.DabeiistdieEntwick-
lungeinesKünstlersundseinerKunstoft
vielinteressanter,undessprichtnichtfür
einenMusiker,einStückjedesmalmög-
lichstgenaugleichzuspielen.Selbstwenn
erderMeinungist,erhabedieendgültige
Gestaltungsformgefunden.Geradedie
Musiklebtdavon,dassesdieseabsolute
Wahrheithiernichtgibt,nurRichtungen
undGrenzen,undselbstdiemüssenim-
mereinbisschenverschwimmendürfen.
EsmussjüngerenMusikernaucher-
laubtsein,sichdengroßenMeisternzunä-
hern,ohnebereitsdieganzeTragweiteder
Werkeerfasstzuhaben.ObMartinStadt-
feldsichzufrühaufBacheingelassenhat
oderIgorLevitaufBeethoven,istdann
nichtdieFrage.AberobsieimLaufeder
JahrehinzugewonnenhabenanErkennt-
nisundAusdrucksfähigkeit,daswillman
nichtnurinInterviewslesen,daswillman
hören.Nichtnuraufdiesinnvollsteunder-
giebigsteArtderWiedergabeeinerKompo-
sitionkommtesan,sondernauchaufdie
Künstlerpersönlichkeit,dieeinerseitsMe-
dium,andererseitsselberKunstgegen-
standist.VielleichtnichtmitallenAlltags-
detailsundÄußerungen,aberdochmitall
ihrenFacettenkünstlerischenLebens.Pri-
vateInhalteundpersönlicheÜberzeugun-
gensinddawenigerrelevantalsdieFähig-
keit,sichauszudrücken,wirksamzugestal-
ten,dasWerkinsLichtzusetzen.

DerMusikermusskunstvollvorführen,
waserwillundkann,nichtnurdavonkün-
den.Masleevwillnichteinmalüberdie
Werkereden,dieerspielt.DassihmSergej
RachmaninowbesondersamHerzenliegt,
soetwassagterschon,aberseinScarlatti-
Spielistebensoaufregendwiedasderrus-
sischenGroßkomponisten,seinunaufge-
regtperlenderMozartbegeistert,auch
wennersichalsEnkelschülervonTatjana
NikolaewafestinderrussischenTradition
verankertsieht.Manmussdasvielleicht
auchpraktischverstehen.InRussland
wirdnochimmerhöchsteSpieltechnikge-
lehrt,undwennmandanneinmalsoweit
ist,dassmanmit14JahreneinRachmani-
now-Konzertspielenkann,dannhatman
fürimmerFreudeamvirtuosenSpiel,be-
greiftesalsFreiheitundnichtalsDruck,
undwennesumdieschierespielerische
Lustankomplexenmelodisch-harmoni-
schenWendungengeht,nimmtmansich
vielleichtlieberdieLisztscheBearbeitung
einesSchubert-LiedesvoralsdasOriginal.
Zumaldann,wennmanspielenderspürt
undversteht,wievielindiesenBearbeitun-
genanmusikalischfruchtbarerAuseinan-
dersetzungmitdemOriginalsteckt.
WennmanalsofrühdietechnischenVor-
aussetzungenerfüllt,kannaucheinemusi-
kalisch-künstlerischeEntwicklungstatt-
finden,dienichtaufMangelundKompro-
missruht,sondernimGegenteilnochhöhe-
reSchwierigkeitfordert.WennmitderPu-
bertätauchderDrangnachkünstlerischer
SelbstbestimmungPlatzgreift,dannist
dieFrage,obsiesichaufGrundlageeiner
ausgereiftenTechnikentfaltetoderaufBa-
sisvonUnzulänglichkeitenundsemipro-
fessionellenStrategien,diedermentalen
Entwicklunghinterherhinkenundneben
derdamiteinhergehendenpermanenten
FrustrationdiesekünstlerischeBewusst-
seinserweiterungamEndearglimitieren.
Danngerätman,bewusstoderunbe-
wusst,womöglichindieSituation,austech-
nischenProblemeneinkünstlerischesKon-
zeptzuentwickeln.DieserAbgrundbleibt
Masleeverspart.SeineneueCDmitdem
erstenKlavierkonzertvonDmitriSchosta-
kowitsch,demzweitenKlavierkonzertdes
kaumbekanntenNikolaiKapustinundder
Jazz-SuitedesnochunbekannterenFilm-
komponistenAlexanderTsfasmaner-
scheintdemnächstinMoskau.Dort,wo
seinzweitesLebenalsKünstlerbegann.

SentimentundDisziplin


DerrussischePianistDmitryMasleevtourtumdieWelt.Esist


faszinierend,seinekünstlerischeEntwicklungzubeobachten


InRusslandwird


immernochhöchste


Spieltechnikgelehrt


„AuchTwitterhatdieMeinungsfreiheitzuakzeptieren“


DerTwitter-AccountdesSchriftstellersTomHillenbrandistseitMonatengesperrt–wegeneinesWitzes


Tom Hillenbrandist
Autorundschreibtvor
allemKrimis,Science-
Fictionundhistorische
Romane.Erlebtin
München.FOTO:OH

Sozuspielen,istfast


nichtzulernen–dabrauchtes


vielnatürlicheMusikalität


10 HF2 (^) FEUILLETON Dienstag,27.August2019,Nr.197 DEFGH
AFROPOP-KOLUMNE
EssindKleinigkeiten,dieausseinemSpielgroßeKunstmachen:DmitryMasleev,31Jahrealt. FOTO:ALIKHANPHOTOGRAPHY
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