SEITE 6·DIENSTAG, 27. AUGUST 2019·NR. 198 Politische Bücher FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
Heike Specht: Ihre Seite der
Geschichte. Deutschland
und seine First Ladies von
1949 bis heute.
Piper Verlag, München 2019.
400 S., 24,– €.
Martin W. Ramb/
Holger Zaborowski (Hrsg.):
Heimat Europa?
Wallstein Verlag, Göttingen
- 431 S., 22,00 €.
Über kein Land der Welt ergießt sich so
viel Spott wie über Nordkorea, das bi-
zarr und befremdlich auf uns Beobach-
ter wirkt. Zwischen Personenkult, Ar-
beitslagern, Atomwaffen und Raketen
scheint das isolierte Land entrückt und
weltfremd. Doch die gegenwärtige Lage
zwischen Begeisterung und Ernüchte-
rung im wechselvollen Prozess der An-
näherung an die Vereinigten Staaten
und Südkorea sorgt für Bewegung und
neue Spielräume: Was treibt den Macht-
haber Kim Jong-un in dieser Phase an?
Wie tickt er, hat der Diktator trotz aller
Drohgebärden das Zeug zum Reformer?
Oder ist er nichts als der Maoist mit Be-
tonfrisur, dem die Ideologie über die
pragmatische Vernunft geht? Martin
Benninghoff, Redakteur dieser Zeitung,
gibt Einblicke in diese wohl rätselhaftes-
te aller Diktaturen.
Martin Benninghoff: Der Spieler. Wie
Kim Jong-un die Welt in Atem hält.
Klett-Cotta, Stuttgart 2019.
383 S., 18,– €.
Die Damen treten mit einer Naturgewalt
auf: Heike Specht stellt ihrer Geschichte
der First Ladies im Nachkriegsdeutsch-
land eine Szene voran, die sich kurz nach
dem Tsunami 2004 zutrug. Christina Rau
und Doris Schröder-Köpf engagierten
sich spontan für die Opfer der Katastro-
phe. Das Initial ging vom Bundeskanzler
aus, die damalige Gattin musste Gerhard
Schröder nicht lange überzeugen, und
auch Christina Rau war rasch bereit, ihre
Prominenz als Ehefrau des kurz zuvor
aus dem Amt geschiedenen Bundespräsi-
denten für die Flutgeschädigten einzuset-
zen. Die Eröffnungsszene scheint will-
kürlich gewählt. Alle Gattinnen der Her-
ren an der Staatsspitze geben ihren guten
Namen für eine gute Sache her.
Die Verfassung nennt sie nicht – und
doch repräsentieren sie an der Seite ihrer
Ehepartner unser Land. Sie sind nicht ge-
wählt, nehmen aber in der öffentlichen
Sphäre einen festen Platz ein. Sie verfü-
gen seit Wilhelmine Lübke über eine Se-
kretärin und inzwischen über ein Büro,
erhalten aber kein Salär für ihren zu-
meist ganztägigen Einsatz: die Gattin-
nen der Bundespräsidenten und Kanzler
der Bundesrepublik sowie Herr Professor
Sauer, der erste Kanzlerinnengemahl,
und Frau Schadt, einzige nicht angetrau-
te Gefährtin eines Bundespräsidenten.
Joachim Sauer ist der Zurückhaltends-
te von ihnen allen – sein Fernbleiben bei
der Vereidigung Angela Merkels zur ers-
ten Kanzlerin war ein Statement. So vari-
antenreich moderne Interpretationen
der Ehe auch sein mögen: Mit seinem
Fernbleiben an diesem für das Land und
für seine Frau markanten Moment hat er
das Signal gesetzt, dass sie diesen Job al-
lein macht. Joachim Sauer absolviert in-
zwischen protokollarische Pflichttermi-
ne, gleichwohl haben sich die Ehegattin-
nen von Kanzlern und Präsidenten inten-
siver in die Pflicht nehmen lassen.
Die Damen waren und sind auf ihre
Weise einflussreiche Politprofis und be-
kannter als mancher Minister. Die Bilder
der Rücktritte von Horst Köhler oder
Christian Wulff sind auch Bilder von
Eva-Luise Köhler und Bettina Wulff.
Die zumeist beliebten Gattinnen nah-
men sich auf sehr eigene Weise die Frei-
heit, ihre nicht definierte Rolle in der Öf-
fentlichkeit und Politik zu gestalten. Sie
suchen eine Balance zwischen der Rolle
als Landesmutter und Vertraute, als Spar-
ringspartnerin, als Mutter der Kinder –
verantwortlich dafür, diese vor der neugie-
rigen Öffentlichkeit zu schützen und die
Abwesenheit des Vaters zu kompensieren
–, als Eisbrecherin in den frostigen Zeiten
des Kalten Krieges, als Wächterin über
Haus und Protokoll sowie als Bindeglied
zur Bevölkerung. Die Ehefrauen steigen
mit ganzer Seele in ein Geschäft ein, in
das sie ungefragt hineingeheiratet haben
- und zwar beiderseits der Mauer: Heike
Specht stellt auch Lotte Ulbricht und Mar-
got Honecker vor. Auch an den beiden
First Ladies der DDR lässt sich der gesell-
schaftspolitische Wandel ablesen: Trat
die eine noch als realsozialistische Vorzei-
gemutti und Tischtennispartnerin des
SED-Generalsekretärs auf, wählte ihre
kämpferische Nachfolgerin dann eine
Doppelrolle als gestrenge Gattin und
hochideologische Ministerin für Volksbil-
dung.
Heike Specht beschreibt kurz die fami-
liären Hintergründe ihrer Protagonistin-
nen, wobei sie nichts ausspart, aber auch
nicht auswalzt, was es über Ehe und Be-
ziehung zu wissen gibt. Ohne Partnerin
war bei Amtsantritt einzig Konrad Aden-
auer, dessen zweite Frau Auguste die
Gründung der Bundesrepublik nicht
mehr erlebte. Als Theodor Heuss für das
höchste Staatsamt im Gespräch war, gab
er zu bedenken, es wäre „für Elly eine
wunderbare Funktion“. Dafür war die
Zeit noch nicht reif. Die Zusammen-
schau der volksnahen und hochpoliti-
schen Damen legt die Frage nahe, war-
um in siebzig Jahren allenfalls symboli-
sche Wettbewerberinnen, nie aber eine
aussichtsreiche Kandidatin für das höchs-
te Amt im Staate zur Wahl stand.
Schon Elly Heuss-Knapp nutzte ihre
Position auch so. Wenn Ralf Dahrendorf
über Heuss urteilt, er habe seine Zeit eher
verkörpert, als dass er sie gestaltet habe,
so gilt dieses Urteil für die zupackende
Gattin nicht. Elly Heuss-Knapp, die wäh-
rend der Präsidentschaft ihres Mannes
verstarb, hat die Messlatte für ihre Nach-
folgerinnen hoch gelegt. Für die Ärztin
Mildred Scheel, mit der – noch bevor es
den Begriff gab – eine erste Patchwork-Fa-
milie nebst Hund und Heiterkeit ins Amt
einzog, war es selbstverständlich, den ei-
genen Beruf an den Nagel zu hängen.
Eine präsidiale Amtsperiode später war
es Veronica Carstens möglich, die eigene
Praxis weiterzuführen und dennoch zu
wichtigen Anlässen an der Seite des Bun-
despräsidenten präsent zu sein.
Die achtzehn Damen interpretierten
ihre Aufgabe höchst individuell, füllten
sie aber mit Verve, hohem Bewusstsein
für die eigene Rolle, verschwiegen und
verantwortungsvoll aus. Bisweilen wur-
de ihr Beitrag zu den Dienstgeschäften
als bloße Dekoration für Staatsbesuche
und -bankette missachtet – und stets wur-
den sie für die Politik ihrer Männer in
Mithaftung genommen. Es ist jedoch,
das beleuchtet der Band, ihr eigenes Tun,
das Bewunderung verdient.
Heike Specht, Historikerin und Lekto-
rin, versteht nicht nur etwas von ihrem
Sujet, dem sie sich über Zeitzeugenge-
spräche genähert hat, sondern viel von
Sprache und angemessenem Erzählstil.
Sie geht chronologisch durch die Ge-
schichten, verschränkt diese über Amts-
perioden hinweg und macht auf Brüche
und Kontinuitäten aufmerksam. Der
Band mag auf den ersten Blick in die Ka-
tegorie „human interest“ fallen, ist aber
von halbseidenen Herzblattgeschichten
weit entfernt. Wer sich Enthüllungen
über das Privatleben in Villa Hammer-
schmidt, Palais Schaumburg, Kanzlerbun-
galow oder Schloss Bellevue verspricht,
kann ihn getrost stehenlassen. Heikle
Momente erledigt Heike Specht unaufge-
regt, schmutzige Wäsche wird nicht gewa-
schen – sie geht respektvoll und wohlwol-
lend mit ihren Protagonistinnen um, ver-
tieft Gerüchte über Affären nicht und
zeigt sich allenfalls befremdet über Betti-
na Wulff und deren Autobiographie.
So erzählt die anekdotenreiche Ge-
schichte der eigenwilligen Damen viel
über das bundesrepublikanische Pathos
der Nüchternheit, über gesellschaftliche
Verantwortung und über die sich wan-
delnde Stimmung in Politik, Ehe und Fa-
milie. Der Gelehrte Jacob Burckhardt be-
merkte einst, die Geschichte liebe es bis-
weilen, sich in einem Menschen zu ver-
dichten. Burckhardt meinte die Herren
auf Thronen und Schlachtrössern. Die an-
dere Seite der Geschichte verdichtet sich
in deren Ehepartnerinnen – und ist ein
Spiegel unserer Gesellschaft.
JACQUELINE BOYSEN
Politische Bücher
Waskann heute „Heimat“ noch bedeu-
ten? Kann Europa Heimat sein? Braucht
Europa eine Seele? Die Herausgeber ha-
ben 34 Autorinnen und Autoren dazu be-
fragt – Schriftsteller, Philosophen, katho-
lische Theologen, einige wenige Sozial-
wissenschaftler und Politiker – und auch
ihre eigenen Antworten dazu gegeben.
Sie fallen unterschiedlich aus, in der
Form wie im Inhalt.
Manche beschreiben, was für sie Hei-
mat ist: die Rheinlandschaft mit ihren
Mythen und sinnlich erfahrbaren Ge-
schichten (Otto Kallscheuer), die badi-
sche Sprache (der Deutschamerikaner
Patrick Roth), das Erlebnis liturgischer
Inszenierungen in katholischen Kirchen
(der Theologe Martin W. Ramb). Andere
systematisieren ihre Antwort. Das Ver-
ständnis von Heimat ändere sich im Lau-
fe des Lebens: Der Heimatbegriff ist im-
mer an konkrete Erfahrungen gebunden
und affektiv besetzt, aber er wandelt sich
mit den Lebenserfahrungen (Otfried
Höffe, Holger Zaborowski). Daraus folgt:
Auch Europa kann zur Heimat werden.
Das wird lebensgeschichtlich bezeugt
von der schweizerischen Schriftstellerin
Ilma Rakusa, die als Tochter einer Unga-
rin und eines Slowenen in der Slowakei
geboren wurde und in ihrer Kindheit von
Budapest über Ljubljana und Triest nach
Zürich zog. Sie ist dadurch zu jemandem
geworden, „der das Wort Heimat nur im
Plural verwendet“ und ganz in der euro-
päischen Kultur zu Hause ist. Ähnlich
sieht es die Bildungspolitikerin Dagmar
Schipanski, die 1989/90 die Rückkehr ih-
rer thüringischen Heimat nach Europa
als Befreiung erlebt hat. Als Rektorin des
europäischen Studienkollegs in Berlin
hat sie die Erfahrung gemacht, dass an-
fängliche Skepsis der Kollegiaten („von
Norwegen bis Spanien“) durch die Erfah-
rung der gemeinsamen Arbeit jedes Mal
zu der Überzeugung geführt hat: „Wir Eu-
ropäer gehören zusammen.“
Dass das nicht nur für eine Elite gilt,
zeigt die „Vermächtnisstudie“ des Wis-
senschaftszentrums Berlin für Sozialfor-
schung, von der Jan Wenzel und Jutta All-
mendinger berichten. 45 Prozent der be-
fragten Deutschen sagten 2018, dass Eu-
ropa für sie Heimat ist. 40 Prozent sind in
dieser Frage unentschieden; lediglich für
14 Prozent hat Europa nichts mit Heimat
zu tun. Die beiden Sozialwissenschaftler
machen allerdings auch darauf aufmerk-
sam, dass Demokratie nicht vorschrei-
ben kann, was als Heimat empfunden
werden kann oder soll. Deswegen ist ein
ernsthafter Diskurs notwendig, der die
unterschiedlichen Identitätserfahrungen
von Gruppen und Einzelnen miteinan-
der ins Gespräch bringt.
In dieser Perspektive könnte man, wie
Christian Schüle in einer explizit „kultur-
optimistischen Betrachtung“ argumen-
tiert, „unter Heimat künftig das geistige
Obdach jener Wert- und Normvorstellun-
gen der europäischen Zivilisation begrei-
fen, auf deren Grundlage gemeinsame
Gewohnheiten formuliert und gemeinsa-
me Ziele verabredet werden. Der gemein-
sam gelebte Alltag wird als gelebte Leit-
kultur erfahren – im Sinne einer Kultur,
deren Normen alle Anwesenden leiten.“
Welche Normen das sind oder sein soll-
ten, darüber wird in vielen Beiträgen mit
unterschiedlichen Akzentsetzungen räso-
niert. Manche beharren darauf, dass die
Wurzeln europäischer Zivilisation im bi-
blischen Monotheismus und der christli-
chen Lehre von der Gottesebenbildlich-
keit des Menschen nicht vergessen wer-
den dürfen. Andere betonen, dass die eu-
ropäische Zivilisation auf der Anerken-
nung der Würde jedes Menschen beruht
und die Christenheit, so Franziskus von
Heereman, „in den Jahrhunderten, in de-
nen sie die erdrückende weltanschauli-
che Mehrheit bildete, sich in vielerlei
Hinsicht an der Menschenwürde vergan-
gen hat“. Insofern verfügen diejenigen,
die auf den letztlich entscheidenden Bei-
trag der Aufklärung zur (Wieder-)Entde-
ckung der Menschenrechte verweisen,
über die besseren Argumente.
Wie gut die Aussichten sind, in diesem
Sinne mit der Europäisierung Europas
voranzukommen, auch darüber gehen
die Meinungen, je nach Temperament,
auseinander. Die Schriftstellerin Sybille
Lewitscharoff bekennt, dass es ihr ange-
sichts des Krisenbogens vom Fanatismus
der Brexiteers bis zur Korruption in Ru-
mänien nicht mehr gelingt, „eher hoff-
nungsvoll“ in die Zukunft zu blicken.
Demgegenüber argumentiert die Politik-
wissenschaftlerin Ulrike Guérot, dass
die gegenwärtig von den populistischen
Meinungsmachern praktizierte Substitu-
ierung sozialer und gesellschaftlicher
Verlusterscheinungen durch National-
stolz trügerisch ist. Sie werde daher
zwangsläufig zu Enttäuschungen führen.
Aus dem Rahmen fallen zwei Beiträge
von Euroskeptikern. Wolfgang Streeck
darf wieder einmal seine Abneigung ge-
gen die „Brüsseler Kompetenzkrake“
zum Besten geben. Und Hermann Lübbe
glaubt zu wissen, dass die EU-Skepsis
der Bürger „ihren Grund vor allem in der
Unglaubwürdigkeit der mit dem institu-
tionellen Verbund der Länder in der Uni-
on verknüpften Versprechen“ hat. Dass
Europa je Heimat werden könnte, hält er
daher für ausgeschlossen. Damit setzt er
nicht nur die Minderheit der EU-Skepti-
ker und EU-Gegner mit den europäi-
schen Bürgern schlechthin gleich. Er
missachtet auch die Evidenz, die aus fast
allen anderen Beiträgen des Sammelban-
des spricht.
Man kann diese Kontrapunkte freilich
auch als Aufforderung zu eigenem Nach-
denken lesen. Die Sammlung von Essays
ist recht disparat ausgefallen, und eine ge-
wisse Redundanz hat sich auch nicht ver-
meiden lassen. Sie bietet aber viele Anre-
gungen, wie der Gefährdung des europäi-
schen Projekts entgegengewirkt werden
kann. In der Summe wird deutlich, dass
die EU als verbindlicher Ausdruck euro-
päischer Solidarität durchaus zur Heimat
werden kann. Man muss freilich etwas da-
für tun, im Alltag wie in der Politik. Als
Gegengift zum oberflächlichen Krisenge-
rede dieser Tage sind solche Einsichten
sehr willkommen. WILFRIED LOTH
In der Verfassung nicht vorgesehen
Mit ganzer Seele dabei: Die Gattinnen der Präsidenten und Kanzler – und ein sehr zurückhaltender Professor
Vier auf einen Streich:Bettina Wulff, Daniela Schadt, Elke Büdenbender und Christi-
na Rau Foto dpa
In der Europäischen Union zu Hause
Essays zur europäischen Bürgerschaft als Gegengift zum oberflächlichen Krisengerede
„Zur Zukunft der Demokratie in Ameri-
ka“ (F.A.Z. vom 24. August): Frido
Manns Aufforderung, den Dialog in Euro-
pa mit den Vereinigten Staaten und – et-
was zurückhaltender – mit Russland als
das Grundelement eines friedlichen,
westlichen Demokratieverständnisses
nicht abreißen zu lassen, bietet klare poli-
tische Leitlinien, weiterhin ein Miteinan-
der globaler Machtblöcke zu gestalten.
Daher herzlichen Dank für ihre Veröf-
fentlichung. Zum besseren Verständnis
seiner historischen Schilderung der ame-
rikanischen Demokratie und seines Be-
kenntnisses zur amerikanischen Staats-
bürgerschaft, der dann in späterer Zeit,
soweit mir bekannt, noch die Schweizer,
tschechische und 2012 die revitalisierte
deutsche hinzukam, hätte ich mir den
komprimierten Abdruck seines Lebens-
laufes in dieser F.A.Z. gut vorstellen kön-
nen.
Er hätte die Stationen eines Menschen
aufgezeigt, der die Werte der amerikani-
schen Verfassung aufs höchste schätzt,
seine geistige und berufliche Prägung in-
teressanterweise ausschließlich an euro-
päischen Universitäten erfuhr: in der
Schweiz, in Italien und Deutschland.
WOLFGANG KANIA, NERSINGEN
Von den vielen Zuschriften,die uns täglich er-
reichen und die uns wertvolle Anregungen
für unsere Arbeit geben, können wir nur einen
kleinen Teil veröffentlichen. Dabei kommt es
nicht darauf an, ob sie Kritik oder Zustimmung
enthalten. Oft müssen wir kürzen, denn mög-
lichst viele Leser sollen zu Wort kommen. Wir
lesen alle Briefe sorgfältig und beachten sie,
auch wenn wir sie nicht beantworten können.
Im Artikel „Eine Rüge für Johnson“ stellt
Andreas Ross in der F.A.Z. vom 22. Au-
gust mit Recht die Beispiellosigkeit des
Vorgehens des Bundespräsidenten her-
aus, einem zum Staatsbesuch anreisen-
den Regierungschef eines befreundeten
Landes öffentlich unlautere Motive zu un-
terstellen. Unser Bundespräsident trauert
eben dem Amt des Außenministers nach,
dessen Aufgaben er offenbar mit denen
des Staatsrepräsentanten verbinden
möchte. Aber auch in der Sache liegt
Steinmeier daneben. Die Europäische
Union versucht angestrengt, ihre Verant-
wortung, und demnächst kann man si-
cher sagen: ihre Schuld, am desolaten Ver-
lauf des Brexits zu vertuschen. Auf jeden
Fall vermeidet Brüssel jede Selbstreflexi-
on darüber, warum eines der größten Mit-
gliedsländer nicht mehr Mitglied sein will
und in der Bevölkerung auf keinen Fall
den Rückhalt hat, den ein solches Projekt
eigentlich braucht.
Boris Johnson drischt nach Ansicht
von Andreas Ross „Phrasen“ zum Irland-
Problem. Die EU-Kommission hat dazu
noch nicht einen einzigenGedanken ge-
habt. Der „Backstop“ sagt, das Vereinigte
Königreich soll so lange in der Zollunion
unkündbar verbleiben, bis eine der EU-
Kommission gefällige Ersatzlösung für Ir-
land gefunden ist. Das Schweigen der
Kommission, wie eine solche Lösung aus-
sehen kann, und überhaupt die Weige-
rung, darüber auch nur konkret zu ver-
handeln, kann aus britischer Sicht nur so
gedeutet werden, dass die EU den Briten
den ihr vertraglich zustehenden souverä-
nen Austritt verweigern will.
Wenn eine der beiden Seiten unlautere
Motive hat, ist es also wohl die Europäi-
sche Union. Der Bundespräsident hätte
sich besser seine neue Stellenbeschrei-
bung angesehen und geschwiegen.
FRIEDRICH WOLF, ESSEN
Briefe an die Herausgeber
Zur „Fremden Feder“ von Christina
Kampmann und Michael Roth: „Wir müs-
sen miteinander reden!“ (F.A.Z. vom 15.
August): Man stelle sich einmal vor, eine
ehemalige SPD-Landesministerin und
ein amtierender SPD-Staatsminister be-
werben sich gemeinsam um den Parteivor-
sitz einer bedeutenden Volkspartei, ein
Amt, von dem ein Vorgänger einmal be-
hauptete, es sei das schönste Amt neben
dem Papst. Im Vorfeld dreier entscheiden-
der Landtagswahlen, vor dem Hinter-
grund stark rückläufiger Zustimmungs-
quoten und im Wettbewerb mit mindes-
tens zehn weiteren Bewerbern publizie-
ren die zwei Aspiranten einen Aufsatz
mit dem Titel „Wir müssen miteinander
reden!“, beginnen mit dem erwartungs-
vollen Satz „Viele Menschen fühlen sich
im und vom Kapitalismus komplett über-
fordert“ und begründen dies mit einem
„vermeintlichen Widerspruch zur allge-
meinen Lage in unserem Land“ mit den
vielen „Bewährungsproben des Alltags“.
Sie kontrastieren die niedrige Arbeitslo-
sigkeit mit weiten Wegen zum Arbeits-
platz, die vielen positiven Wirtschaftsda-
ten mit unpünktlichen Zügen und die
Haushaltsüberschüsse des Staates mit
Staus auf den Straßen. „Geht’s noch?“,
möchte man fragen ob der Sozialroman-
tik, die aus diesem Beitrag fließt. Wer
schon Selbstverständlichkeiten und All-
tagprobleme zu politischen Themen er-
hebt, sollte zumindest den Mut haben, zu
erklären, was in den vergangenen Jahren
vernachlässigt oder gar ignoriert wurde.
Doch wo bleiben in diesem Beitrag die
großen Gegenwartsthemen? Die Rolle
Deutschlands in Europa und der Welt, die
Spaltung der Gesellschaft durch divergie-
rende Einkommen und Vermögen, aber
auch durch das Anwachsen diverser Paral-
lelgesellschaften, die Migrations- und In-
tegrationsprobleme, die Energiewende
und der Klimawandel, die Überforderung
des Sozialstaates durch steigende Sozial-
ausgaben, die Auswirkungen der Digitali-
sierung auf Arbeit und Gesellschaft, die
Wohnungsmisere, der Bildungsnotstand
sowie die zerstörerische Negativzinspoli-
tik der Europäischen Zentralbank.
Wer die Überforderung desMenschen
durch den Kapitalismus anspricht,
kommt zumindest als Sozialdemokrat
nicht umhin, auf die Gefahren des Tur-
bo-Kapitalismus für Demokratie und
Freiheit hinzuweisen. Und wer Gewalt
thematisiert, aber eindimensional nur
Rassismus, Neonazis und Rechtsradikale
benennt, verkennt die Gefahren, die von
Linksextremismus, internationalem Ter-
rorismus und organisierter Kriminalität
ausgehen.
Nein, liebe SPD, ein Neuanfang sieht
anders aus! Ein „Weiter so“ in der Poli-
tik, angereichert durch ein paar Diskussi-
onsforen und Bürgerdialogen, heißt auch
ein „Weiter so“ in den Wahlumfragen, bis
die Schmerzgrenze von fünf Prozent er-
reicht ist, darüber sollten sich die Genos-
sinnen und Genossen im Klaren sein.
MICHAEL HALLACKER, BERLIN
Zum Artikel „Warum ticken die Ossis
so?“ in der F.A.Z. vom 21. August: Mit In-
teresse verfolge ich die Artikelserie zur
Deutung der „Wendehoheit“. Beim Lesen
des Artikels von Uwe Schwabe fühlte ich
mich zum ersten Mal direkt angespro-
chen. Was es mit den Menschen macht,
fragt Herr Schwabe, wenn sie in einem
System wie der DDR groß werden und
dann nach der Wende in einem anderen
Land weiterleben. Ich bin Jahrgang 1975
und wurde noch nie gefragt, was die DDR
mit mir gemacht hat, schon gar nicht in
der Zeitung. Über eine treffende Antwort
werde ich noch nachdenken. Meine Wen-
de war so: Da stimmte gleichzeitig nichts
und alles, vielleicht wie bei einem Riesen-
rad. Und dann, im Sommer 1990, wurden
wir kurz vor den Ferien von unserer Leh-
rerin gefragt, wessen Eltern arbeitslos
werden. Fast alle der mehr als 20 Kinder
hoben einen Arm, manche auch zwei,
wenn es beide Elternteile betraf. An die-
sen Schock erinnere ich mich bis heute,
auch wenn ich Glück hatte und nur einen
Arm heben musste. Danke fürs Nachfra-
gen, Herr Schwabe!
ULRIKE BOBKA, AACHEN
Zum Artikel „Ohne den Segen des Paps-
tes“ (F.A.Z. vom 21. August): Bitte erlau-
ben Sie doch Ihren Mitarbeitern beizei-
ten einige theologische Dehn- und Streck-
übungen, damit die Falschmeldung,
Christentum sei identisch mit dem „Ge-
bot der Nächsten- und der Schwächsten-
liebe“ und reiche daher vollständig hin,
eine „bedingungslose (!) Haltung der of-
fenen Arme (demnach der offenen Gren-
zen und Häfen, der Verf.) in der Migrati-
onspolitik“ zu legitimieren. Ich werde
hier zu keinem Lehrervortrag ansetzen,
aber jeder Schüler der 9. Jahrgangsstufe,
der, zumindest in Bayern, im evangeli-
schen Religionsunterricht einigermaßen
aufgepasst hat, kennt neben der geben-
den Hand auch den das Schwert führen-
den gebietenden Arm des weltlichen Re-
giments Gottes.
Salvini handelt gewiss, wie jeder Macht-
politiker, im Eigeninteresse der Selbster-
haltung und Machtsteigerung, aber er
agiert zugleich, nach Luthers schlichter
Diktion, als Amtsperson für andere: für die
Integrität des italienischen Volks und der
europäischen Völker. „Unmittelbar“ und
„bedingungslos“ proklamiert Matthias
Rüb bloß den ohne differenzierende „theo-
logische Verrenkungen“ auskommenden
korrekten (!) Populismus des politischen
Mainstreams eines humanitären Universa-
lismus in den Bahnen Max Weber’scher In-
dividual- und Gesinnungsethik mit dem
Gehalt von Arnold Gehlens Hypermoral.
GERHARD REIM, NÜRNBERG
Zu der Seite über die Radiokulturwelle
hr2 in der F.A.Z. vom 20. August: Alle Le-
serbriefe sprechen mir aus dem Herzen,
und ich hoffe, die verantwortlichen Da-
men und Herren überlegen sich nochmals
ihr Vorhaben! Kultursender wie hr2 sind
mehr denn je erforderlich, nachdem unse-
re Kultur immer weniger geworden ist!
GISELA FORCH, FRANKFURT AM MAIN
Das Schweigen der EU-Kommission
Sozialromantik und Realitätsferne
Frido Manns Demokratieverständnis
Was die DDR mit mir gemacht hat
Nächstenliebe und Schwert
Mehr Kultursender