Frankfurter Allgemeine Zeitung - 27.08.2019

(WallPaper) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton DIENSTAG, 27. AUGUST 2019·NR. 198·SEITE 9


Glas undBeton prägen die Fassade des
neuen Suhrkamp-Hauses am Rosa-Lu-
xemburg-Platz in Berlin. In seiner
Kompaktheit und der formalen Stren-
ge ruft es Erinnerungen an den frühe-
ren, längst abgerissenen Frankfurter
Verlagssitz aus den fünfziger Jahren
wach. Der Berliner Architekt Roger
Bundschuh, der gegenüber dem neuen
Gebäude bereits einen markanten
schwarzen Kubus errichtet hat, spielt
mit seinem Bau jedoch nicht auf Frank-
furt an, sondern auf den das Viertel
prägenden Stil der Neuen Sachlichkeit,
insbesondere Hans Poelzigs. Noch um-
wickeln Bauzäune das Haus, und der
kleine Platz davor, der einmal von ei-
nem Restaurant bespielt werden soll,
ist noch eine rechte Wüstenei. An Elek-
trokabeln und Zementeimern vorbei
beziehen heute gleichwohl alle hun-
dertfünfunddreißig Suhrkamp-Mitar-
beiter ihre neue Arbeitsstätte.
Vor den Menschen aber kamen die
Bücher. Zwischen achtzig- und hun-
derttausend sollen es gewesen sein, die
in den vergangenen Wochen in Wan-
nen ihren Weg aus dem einstigen Provi-
sorium des Verlags in der Pappelallee
ins neue Domizil nahmen. Von den
Lektoren des Hauses vollständig ge-
sichtet und neu sortiert, verteilen sie
sich nun auf fünf Regalkilometern, die
durch alle sechs Stockwerke sowie ent-
lang der Innentreppe führen. Darunter
finden sich alle Erstausgaben, die In-
sel-Bücherei vom jüngsten Titel von
Virginia Woolf bis zurück zu Band 1
aus dem Jahr 1912, Rilkes „Weise von
Liebe und Tod des Cornets Christoph
Rilke“, ebenfalls komplett die Reihen
Suhrkamp Wissenschaft sowie die Ta-
schenbücher der legendären Edition
Suhrkamp in allen Farben des Regen-
bogens. Der gediegene, Geist und At-
mosphäre verströmende Anblick kon-
trastiert dabei mit der Robustheit der
auch im Innern roh belassenen Beton-
wände.
Dass Suhrkamp sich mit Birgit Steen-
holdt-Schütt und der Ibau AG für den
Neubau zusammengetan hat, ist ein
Glücksfall für den Verlag, der noch vor
ein paar Jahren durch einen heftigen
Gesellschafterstreit und ein Insolvenz-
verfahren stark gebeutelt wurde. Mit
der Ibau AG hatte man nach dem glück-
lichen Ausgang der juristischen Aus-
einandersetzung dann nicht nur eine
Partnerin an der Seite, die über lang-
jährige Erfahrungen in der Immobi-
lienentwicklung verfügt. Die Hambur-
ger Juristin Birgit Steenholdt-Schütt
verfolgt zudem schon seit Jahren den
Plan, die Nachbarschaft um den Rosa-
Luxemburg-Platz in ein Kulturquartier
mit Galerien, Cafés und Bars sowie ei-
nem Kunstverein zu verwandeln. Ein
Verlag passte also bestens ins Konzept.
Über Summen will Suhrkamp nicht
sprechen. Nur dass man beim Bau auf
die Kosten geachtet habe und von der
Stadt mit Fördermitteln bezuschusst
wurde, findet Erwähnung. Gewiss
aber ist eine solche Investition für ei-
nen unabhängigen Verlag mittlerer
Größe, der 2018 einen Umsatz von
36,5 Millionen Euro erzielt hat, ein fi-
nanzieller Kraftakt, der sich selbst mit
jüngsten Bestseller-Erfolgen wie Ele-
na Ferrantes Tetralogie oder Andreas
Michalsens Fasten-Ratgeber nicht al-
lein stemmen lässt.
Die Möglichkeiten des Neubaus, al-
les denken zu dürfen und nicht auf vor-
handene Architektur und Struktur zu-
rückgreifen zu müssen, erlaubte ein
Spiel mit Symbolen. Dem Bauherrn
war trotz all des benötigten Raums für
die Bücher vor allem an Transparenz
gelegen. Die markanten bodentiefen
Fenster zur Südseite des Gebäudes hin
fluten die offenen Arbeitsbereiche mit
Licht – während zur lauten Torstraße
im Norden hin die kleinen Büros lie-
gen. Die großen Fenster vermitteln zu-
dem den Eindruck, der Stadt ganz nah
zu sein. Vom obersten Stockwerk hin-
gegen öffnet sich von der Terrasse der
Blick über die weitläufige Kulisse von
der Volksbühne über den Alex bis zum
Dom, der Synagoge und dem Bundes-
tag. Vor der Terrasse befindet sich ein
großzügig angelegter Raum, der sich
unterschiedlich nutzen lässt. Da der
Suhrkamp Verlag sich mit seiner neu-
en Adresse auch in der Stadt selbst be-
merkbar machen will, sich nicht nur
zum Arbeiten zurückziehen, sondern
auch nach außen öffnen will, wird es
in Zukunft sicherlich hier oben die
eine oder andere Hauslesung im kleine-
ren Kreis geben.
Wie der Verlag seinen Umzug
feiern wird, das allerdings weiß er
selbst noch nicht. Darüber wollen sie
erst nachdenken, wenn er überstan-
den ist. Man wird sich beeilen müssen.
Denn schon im kommenden Jahr gibt
es den nächsten Anlass, bei Suhrkamp
zu feiern: Dann blickt der Verlag auf
seine Gründung vor siebzig Jahren zu-
rück. SANDRA KEGEL


Herr Landgrebe, Sie beziehen heute das
neue Suhrkamp-Verlagshaus an der Li-
nienstraße in Berlin. Wolfgang Kasack,
ein enger Mitarbeiter von Peter Suhr-
kamp, schrieb in Erinnerung an den
Gründer des Verlags: „Berlin wurde sein
Schicksal.“ Stimmt das denn?
Peter Suhrkamp hat hier verlegerisch ge-
arbeitet, und auch Siegfried Unseld hatte
Berlin als möglichen Standort des Verlags
im Blick. Berlin ist der Ort, an dem wir
sein wollen. Hier mit dem Verlag ein Haus
zu beziehen führt gewissermaßen die Ge-
schichte des Verlags mit der Geschichte
der Bundesrepublik zusammen.

Warum aber sind Sie noch einmal umge-
zogen, vom Prenzlauer Berg nach Mitte?
Seit der Verlag vor zehn Jahren von
Frankfurt nach Berlin umgezogen ist, war
uns klar: Wir suchen ein eigenes Verlags-
haus, ein Haus, wie wir es in Frankfurt hat-
ten, das uns gehört und in dem wir und un-
sere Autorinnen und Autoren zu Hause
sind. Darum bin ich froh, dass wir nun aus
den zwei Etagen in der Pappelallee auszie-
hen konnten. Es gibt aber auch wirtschaft-
liche Gründe: Denn die Mieten in Berlin
steigen rapide, und das neue Haus sichert
dem Verlag seinen Standort für die nächs-
ten Jahrzehnte.

Warum hier an diesem Ort?
Als ich 2011 Birgit Steenholdt-Schütt
von der Ibau AG kennenlernte, mit der
gemeinsam wir das Projekt verwirklichen
konnten, und mit ihr zum ersten Mal die
Möglichkeit diskutierte, die Ecke Linien-
straße/Rosa-Luxemburg-Straße zu bebau-
en, auf der früher ein Gebäude Hans Poel-
zigs stand, dachte ich, dass dieser Ort für
den Verlag der richtige wäre. Es gab da-
mals bereits erste Ideen des Architekten,
Roger Bundschuh, der den Platz und seine
Geschichte gut kennt. Und auch wenn es
mit der Baugenehmigung bis 2017 gedau-
ert hat und viele Widerstände und Turbu-
lenzen das Projekt zwischenzeitlich fast
ganz gestoppt hatten...

.. .als Sie insolvent geworden waren...
.. ., habe ich den Glauben, dass dieser
Ort richtig ist, stets behalten. Es gibt hier
eine kulturell geprägte Nachbarschaft,
und da ist die Historie des Scheunenvier-
tels.


Ganz in der Nähe vom Alexanderplatz.
Ja, das alte Scheunenviertel, die letzte
Altstadt von Berlin, wie man sagen könn-
te, hat eine unglaubliche Geschichte. Es
war Armen- und Arbeiterquartier, jüdi-
sches Viertel, die Volksbühne liegt gleich
um die Ecke und das Kino Babylon, das
noch aus der Stummfilmzeit stammt. Spä-
ter wurde das Viertel zum zentralen Ort
politischer Auseinandersetzungen. Auto-
ren hat der Ort immer fasziniert – Joseph
Roth hat darüber geschrieben, Max Frisch
war hier. Und nach der Wende war es mit
den Hackeschen Höfe um die Ecke ein kul-
turell und international geprägtes Zen-
trum des Aufbruchs Berlins. Man kann an
dieser Stelle wie durch ein Prisma nach-
vollziehen, was Kultur, ihre Zerstörung –
unser Haus steht auf einer Bombenlücke –
und ihr Wiederaufbau bedeuten.

Bücher werden auch in anderen Städten
verlegt...

Jeder Verlag hat sein eigenes Selbstver-
ständnis. Die Geschichte Peter Suhrkamps
und seines Verlags begann nun einmal in
Berlin. Hier hat er die Verlagsgeschäfte
des Fischer Verlags während des Zweiten
Weltkriegs weitergeführt. Und nachdem
er das KZ überlebt hatte, bereitete er die
Gründung seines eigenen Verlags von hier
aus vor. Die Zusammenarbeit mit unseren
wichtigsten Autoren der frühen Jahre, Ber-
tolt Brecht, Max Frisch, Hermann Hesse,
entstammt der Berliner Zeit Peter Suhr-
kamps und seiner Arbeit in Berlin, meist
im Lützowviertel.

Wie wollen Sie die Geschichte fortset-
zen?
Indem wir die Geschichte präsent hal-
ten. Das neue Gebäude ist Roger Bund-
schuh sehr gut gelungen, es ist gegenwär-
tig, und das muss auch sein. Aber der Ver-
lag bleibt in seiner Geschichte verankert –
sie wird hier sichtbar und auch, wenn man
sich die Geschichte Peter Suhrkamps an-
sieht. In seiner Person finden sich viele
der Werte, die für den Verlag bis heute gül-
tig sind. Je schwieriger die Zeiten werden,
desto mehr kann man von ihm lernen.

Schwierige Zeiten für das Verlagswesen?
Ja, immer (lacht). Nein, schwierige Zei-
ten für unsere Gesellschaft, deren Werte
bedroht sind und in der die Menschen wie-
der verstärkt nach dem „Wie weiter?“ fra-
gen. Da war Peter Suhrkamp voller Kraft:
an der Literatur, an der Freiheit des Wor-
tes festhalten, immer der Wahrheit ver-
pflichtet, Haltung bewahrend über Ab-
gründe hinweg, Beständigkeit trotz allen
widrigen Umständen. Und Unabhängig-
keit, persönlich und für den Verlag. Die
„Freiheit der inneren Person“, wie er es
selbst nannte, und ein feiner, zurückhal-
tender Widerspruchsgeist, ohne den wür-
de es heute den Verlag nicht geben. Da ist
er ein großes Vorbild für mich.

In den vergangenen Wochen haben Sie
unter anderem fünftausend Regalmeter
Bücher einmal quer durch die Stadt
transportiert. Wie geht das überhaupt?
Wir sind ja vor zehn Jahren schon ein-
mal umgezogen, daher hatten wir eine ge-
wisse Ahnung, wie das geht. Die größte
Herausforderung war sicherlich der Um-
zug der Bücher. Wir haben sie nie gezählt,
aber es müssen an die achtzig- bis hundert-

tausend Bücher sein, darunter sämtliche
Erstausgaben sowie all die Übersetzungen
unserer Autoren, die wir in den letzten
Jahrzehnten sammeln konnten. So schön,
so sichtbar wie jetzt hier standen die Bü-
cher noch nie, weder in Frankfurt noch in
der Pappelallee.

Gleich beim Eingang steht die Buch-
preis-Kandidatin Nora Bossong mit
ihrem Roman „Schutzzone“, steigt man
die Treppen hinauf, stößt man auf Schät-
ze wie Erstausgaben von Ingeborg Bach-
mann und Bertolt Brecht, Proust-Briefe,
die nie an die Öffentlichkeit gelangte
Ulysses-Ausgabe...
Auch der ganze Hermann Hesse ist hier
erstmals an einem Ort vereint, alle Erst-
ausgaben, alle vorhandenen Übersetzun-
gen, allein den „Siddhartha“ finden Sie
hier in diversen Italienischübersetzungen.
Für uns hat das einen besonderen Effekt.
Denn hier materialisiert sich, was sich hin-
ter dem abstrakten Begriff Lizenzen ver-
birgt: wie nämlich die deutschsprachige
Literatur und Wissenschaft durch die Welt
reist. Der Verlag hat sich stets als ein Bot-
schafter des Wortes verstanden, aber die
Ergebnisse dieser Idee so versammelt zu
sehen, das ist auch für uns beeindruckend.

Und Max Frisch oder Hermann Hesse,
deren Bücher hier stehen, wie wichtig
sind diese Autoren heute wirtschaftlich
für Sie?
Auch wir machen heute den allergröß-
ten Teil unseres Umsatzes mit neuen Bü-
chern respektive mit Büchern der letzten
Jahre. Brecht, Frisch, Hesse, das sind die
großen Ausnahmen. Ihre Bücher und die
einiger anderer, Thomas Bernhard etwa,
erwirtschaften zusammen knapp fünf-
zehn Prozent unseres Umsatzes.

Das war vor wenigen Jahren doch an-
ders, als die Backlist noch mehr als die
Hälfte des Umsatzes ausmachte.
Und doch gibt es immer wieder Über-
raschungen, Adornos neu aufgelegte Vor-
lesung „Aspekte des neuen Rechtsradika-
lismus“ etwa, die jetzt zum Bestseller wur-
de. Da merkt man dann: Natürlich leben
wir in einer anderen Zeit, aber es gibt die-
se Momente, in denen die Menschen dank-
bar sind für das, was vor Jahrzehnten ge-
dacht wurde. Vieles behält seine Gültig-
keit.

Viele Bibliotheken reduzieren ihre Prä-
senzbestände, räumen auf, das Buch ver-
schwindet aus den Wohnzimmern...
Das ist ein Fehler. Es wird unterschätzt,
was die Präsenz von Büchern für einen Un-
terschied macht. Das hier ist ein Haus des
Lesens und der Lesenden, das ist mir
eigentlich noch wichtiger als die Tatsache,
dass es ein Haus des Verlegens von Bü-
chern ist. Die Bücher müssen hier stehen,
sie sind geistige, aber auch materielle, an-
fassbare Symbole unserer Kultur. Sie be-
deuten uns alles. Ich habe schon Verlags-
häuser gesehen, da sind die Bücher quasi
aus den Büros verbannt. Dieses Gebäude
will das Gegenteil.

Nur dass es immer weniger Leser gibt,
wie Studien des Börsenvereins zeigen.
Da bin ich viel optimistischer. Über län-
gere Zeiträume betrachtet, kann keine
Rede davon sein, dass es insgesamt eine

Entwicklung weg vom Lesen gibt. Natür-
lich, die digitale Welt hat Gewohnheiten
verändert, aber meine Erfahrung ist: Wer
wirklich etwas wissen will, wer etwas er-
fahren möchte, Dinge, die der Lebensall-
tag und die Nachrichten nicht mit sich
bringen, der liest. Trotz aller Krisen ist das
Buch lebendiger denn je. Und das merken
wir auch bei den Buchverkäufen.

Gelesen werden dürfte auch der Brief-
wechsel Bachmann–Frisch, auf den wir
alle seit langem warten.
Ja, der Band wird in wenigen Jahren er-
scheinen. Dieser Briefwechsel benötigt
eine besondere editorische Sorgfalt und
die Einigkeit aller Beteiligten. Dass diese
Arbeit bisweilen länger dauert, ist manch-
mal schwer zu vermitteln, aber im Buch-
geschäft lassen sich Ergebnisse nicht aus
dem Boden stampfen. Ich habe gerade,
um ein anderes Beispiel zu nennen, eine
Übersetzung von Reinald Simon aus dem
Chinesischen erhalten, der die „Räuber
vom Liang-Schan-Moor“ von Shuihu
Zhuan neu übersetzt hat. Das sind sieben,
acht Jahre Arbeit, plus Lektorat, plus Her-
stellung – ein Manuskript von fast fünf Mil-
lionen Zeichen, das lässt sich nicht über
Nacht bearbeiten. Und da kann auch kei-
ne Technik helfen, kein Algorithmus.

Wie schwer fällt das Bekenntnis zur
Langsamkeit in einer Zeit, in der das Di-
gitale alles beschleunigt?
Uns kann es nicht primär um Geschwin-
digkeit gehen, das widerspräche unserem
gesamten Verständnis von guter Verlagsar-
beit. Das gilt für einzelne Bücher, das gilt
für Autoren. Schriftsteller gehen ihre ganz
eigenen Wege, und sie brauchen Zeit. Wis-
senschaftler auch. Wir begleiten sie. Das
sehe ich als unsere Verantwortung. Und
manchmal sind wir ja doch schnell (lacht),
nach nur zwei Jahren Bauzeit beziehen
wir pünktlich unser neues Haus. Ein ech-
ter Spitzenwert für Berliner Verhältnisse.

Wie wichtig ist, auch für den Austausch,
der Standort eines Verlags?
Der Verlag ist ein Ort, an dem vor allem
konzentriert an Büchern gearbeitet wird.
Die räumliche Gestaltung des Hauses ist
aber gleichzeitig darauf ausgelegt, sich zu
treffen und auszutauschen, zu reden, zu
diskutieren, Raum zu bieten für alle, die
an einem Buch oder einem Theaterstück,
an einer Idee arbeiten. Dazu gehört auch
eine Offenheit der Räume, bis zu einem ge-
wissen Grad jedenfalls. So kann das Haus
zu einem Knotenpunkt, einem Forum des
Denkens werden.

Wie ist die Stimmung im Verlag?
Die Stimmung ist gut. Wir alle haben in
den letzten Jahren gelernt weiterzuarbei-
ten, komme, was da wolle. Da ist ein Um-
zug in ein neues Gebäude zwar ein Ereig-
nis, und zu tun gibt es genug.

Erst der Umzug nach Berlin, dann die
Insolvenz, nun der Neubau. Nachdem
Sie in den letzten Jahren einiges mit-
gemacht haben, werden Sie jetzt etwa
ein ganz normaler Verlag? Was kommt
als Nächstes?
Es kommen Bücher. Und Bücher sind
ja niemals Normalität, sondern immer
und immer wieder etwas Neues. Hoff-
nungsträger.
Das Gespräch führteSandra Kegel.

Im Zuge der
Insolvenz wur-
de Suhrkamp in
eine Aktien-
gesellschaft
umgewandelt,
deren Vorstands-
vorsitzender
Jonathan
Landgrebe
seit 2015 ist. 1977 in Hamburg
geboren, wurde er überRegulie-
rungstrategien in der Telekommu-
nikation promoviert. 2007 stieß
er zum Verlag, seit 2008 ist er
Mitglied der Geschäftsführung.

Kann die private Amphibien-
Haltung derArtenrettung dienen?
Geisteswissenschaften:Goethe im
Werk Otto Gerhard Oexles

Foto Andreas Rost


N


och nie hatte er etwas so Herr-
liches gesehen, das so reich an
Emotionen und Sinn war wie diese
Michelin-Karte“: Die Euphorie, die in
Michel Houellebecqs Roman „Karte
und Gebiet“ von einer französischen
Straßenkarte ausgelöst wird, ist beson-
ders für den aus der Fremde kommen-
den Reisenden leicht nachvollziehbar:
Wochen-, monatelang plant, träumt er
vorfreudig seine Route von Straßburg
bis tief ins südwestliche Frankreich –
natürlich nur über Landstraßen, man
will ja die Kreisverkehre genießen –
und fragt sich, was wohl Feye-en-Haye
bereithalten mag, was Méligny-le-
Petit, was Blumeray oder Nully, was
Champignolle-le-Haut? Leider hält der
Roman auch schon die Einsicht bereit,
dass die Realität nicht immer so schön
ist wie die Vorstellung: „Die Karte ist in-
teressanter als das Gebiet.“ Zwischen
Lothringen und Burgund, wo sich in
endlosen Weizenfeldern Fuchs und
Hase gute Nacht sagen, scheinen die
Dörfer der Wirklichkeit oft einen trauri-
gen „Was verschwindet zuletzt?“-Wett-
bewerb auszutragen: Die Kneipe? Der
kleine Supermarkt? Die Post? Erstaun-
licherweise ist es dann ausgerechnet
die Boulangerie, die noch vor den ande-
ren aufgibt. Tiefpunkt der französi-
schen Kulturgeschichte an einer Stra-
ßenkreuzung nahe dem Lac de Ma-
dine: ein Brotbackautomat. Und etwas
weiter südlich, in Châtillon-en-Bazois,
kommt es noch schlimmer: In einer
Wand mitten im Ort grüßt der 24-Stun-
den-Pizza-Automat. Wer druckt sich
hier nachts um drei eine Quattro For-
maggi aus? Möglich immerhin wäre es.
Häuser sind hier günstig zu haben, die
Vorher-Nachher-Bilder von renovier-
ten Anwesen und kühnen Garagen-
anbauten im Schaufenster eines Immo-
biliengeschäfts lassen allerdings daran
zweifeln, dass der Fortschritt immer
Gutes bringt. Die alles aufkaufenden
und zu Spitzenobjekten umwandeln-
den englischen Broker jedenfalls, die
Houellebecq beschreibt, sind hier noch
nicht gewesen oder inzwischen pleite.
Auf einer sonntäglichen Radtour am
Canal du Nivernais zwingt ein nicht en-
den wollender Regen selbst die härtes-
ten holländischen Tandem-Fahrer in
die wenigen gastronomischen Einrich-
tungen am Weg. Die erste sich bieten-
de ist leider vollbesetzt. Also noch mal
eine halbe Stunde weiter am Kanal ent-
lang, dann ein rettendes Ortsschild: Ba-
zolles. Man radelt pitschnass die Dorf-
straße hoch, links und rechts geschlos-
sene Läden. Dann aber hinter einer
Kurve das „Café de la Place“, dessen
Tür tatsächlich halboffen ist. Der
Raum wirkt schummrig und im hinte-
ren Teil eher wie ein Lager, aber vorne
ist eine kleine Theke, hinter der eine
Frau steht. Mit zittriger Hand schenkt
die wohl bald achtzigjährige Wirtin
einen Calvados ein. Als wir uns später
wieder nach draußen wagen, ruft einer
der zwei Stammgäste uns noch ein
„Bon courage!“ hinterher – ob er das
nur aufs Wetter bezieht? Der kleine
Ort an der D 958 sieht auf der Karte
eher unspektakulär aus – man hätte
dort normalerweise wohl eher nicht an-
gehalten. Als man abends am Handy
diese Karte noch einmal größer auf-
zieht, wird tatsächlich auch das Café
darauf sichtbar. Es ist mit dem Symbol
für eine Bar ausgewiesen und heißt
„Chez Paulette“. Ein Stück die Straße
hoch, zwei Kurven weiter, soll es sogar
noch eine Boulangerie geben. wiel

Ein Gespräch mit Jonathan Landgrebe, dem Vorstandsvorsitzenden der Suhrkamp AG


Morgen in
Naturund Wissenschaft

Die nigerianische Künstlerin Otobong
Nkanga erhält den Peter-Weiss-Preis
der Stadt Bochum. Der seit 1990 alle
zwei Jahre verliehene Preis soll An-
sporn für die Ausgezeichneten sein,
ihre Arbeit im Sinne eines humanisti-
schen Engagements fortzusetzen, für
welches das Gesamtwerk von Peter
Weiss in Literatur, Malerei und Film
beispielhaft stehe. Otobong Nkanga,
1974 geboren und als Tochter einer zeit-
weise bei der Unesco tätigen Diploma-
tin in Lagos aufgewachsen, zeichnet in
ihren Arbeiten die globalen Wege kolo-
nialer Waren- und Sinnproduktion
nach und verwickelt das Publikum mit
den Mitteln der Performance in die von
ihr nachgebildeten Geschichten. Für
ihre Installation „Veins Aligned“ er-
hielt sie eine Anerkennung der Jury auf
der diesjährigen Biennale in Venedig.
2012 setzte sie sich mit der Sammlung
des Frankfurter Museums für Welt-
kulturen auseinander. Eine Werkschau
in der Tate St Ives wird am 20. Septem-
ber eröffnet. Bisherige Peter-Weiss-
Preisträger in der Sparte bildende
Kunst waren Jochen Gerz, Hans Haa-
cke und Rosemarie Trockel. pba.

Fasten zum


Erfolg


Suhrkamp kommt im


Scheunenviertel an


Auf die Klassiker ist kein Verlass


Jonathan Landgrebe


D 958


Globale Wege


Peter-Weiss-Preisfür


Otobong Nkanga


Zimmer mit Aussicht: Blick aus dem vierten Stock des neuen Suhrkamp-Hauses auf den Rosa-Luxemburg-Platz und den Fernsehturm am Alexanderplatz Foto Andreas Rost


Der Suhrkamp Verlag hat viele Turbulenzen hinter sich. Nach dem Umzug von Frankfurt nach Berlin


und der überstandenen Insolvenz bezieht das Haus heute seinen neuen Verlagssitz.

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