Silke Kersting Berlin
M
anchmal muss Ro-
bert Habeck Dinge
ertragen, vor denen
er lieber flüchten
würde. Es ist ein
Donnerstag Ende Juni in Berlin, der
Grünen-Chef ist zu Besuch bei der In-
dustrie- und Handelskammer, da
fragt Hauptgeschäftsführer Jan Eder,
wie es eigentlich so sei, wenn man
plötzlich über Wasser laufen könne.
Habeck verzieht das Gesicht. Egal,
ob die Debatte um die guten Umfra-
geergebnisse seiner Partei kreist, um
Wahlerfolge oder um ihn selbst als
möglichen nächsten Kanzlerkandida-
ten der Grünen, all das findet er un-
angemessen. „Es geht darum, dass
die viertgrößte Volkswirtschaft der
Welt es schafft, politische Handlungs-
fähigkeit herzustellen“, sagt Habeck,
der seit Anfang 2018 zusammen mit
Annalena Baerbock die Bundespartei
führt. Das sei die wirklich wichtige
Frage. Was das mit den Grünen ma-
che? „Wir denken nicht: Die trauen
uns alles zu, sondern: Wie können
wir den Menschen genügen?“
Eine Antwort darauf hat Habeck
inzwischen gefunden: Die Grünen
von heute sieht er nicht länger als Ni-
schenpartei. Es reicht nicht mehr, in
drei bis vier identitätsstiftenden De-
batten mitzumischen, der Anspruch
lautet, sich umfassend den gesell-
schaftlichen Problemen zu stellen.
Jüngstes Beispiel: sein Vorschlag,
durch einen öffentlichen Bürger-
fonds zusätzlich zum gesetzlichen
Rentensystem die private Altersvor-
sorge für die Breite der Gesellschaft
zu verbessern. Zusammen mit dem
grünen Europapolitiker Sven Giegold
hatte Habeck diese Idee bereits im
Februar stärker verbreiten wollen.
Doch sie versandete im Europawahl-
kampf. Jetzt, angesichts der Debatte
um Negativzinsen, unternahm er ei-
nen neuen Vorstoß, den Grünen bei
einem für sie nicht alltäglichen The-
ma Gehör zu verschaffen.
Punkten mit Sozialthemen
„Es ist Zeit für einen Bürgerfonds“,
sagte Habeck der „Süddeutschen Zei-
tung“. Konkret stellt sich der Grünen-
Chef Folgendes darunter vor: Alle ab-
hängig Beschäftigten zahlen automa-
tisch einen Anteil ihres Bruttolohns,
beispielsweise ein Prozent, in den
Fonds ein. Wollen sie das nicht, müs-
sen sie aktiv widersprechen. Für Frei-
berufler soll der Fonds offenstehen;
die Zahlung soll jedoch auf einen Ma-
ximalbetrag gedeckelt werden, „da-
mit Manager oder Fußballprofis nicht
Millionen in einem öffentlichen
Fonds ansparen können“, heißt es in
dem von Habeck und Giegold im
Februar veröffentlichten Papier. Bis
zu diesem Maximalbetrag kann auch
Geld eingezahlt werden, das derzeit
auf Sparkonten liegt. Der Fonds in-
vestiert dann beispielsweise in Aktien
von Unternehmen, die sich klima-
freundlich aufstellen.
Habeck, der auch schon eine Ga-
rantierente gegen Altersarmut gefor-
dert hatte, geht es um zweierlei: ei-
nerseits fürs Alter vorzusorgen und
andererseits aber auch an den Ge-
winnzuwächsen der Wirtschaft betei-
ligt zu werden. Viele Menschen hät-
ten ihr Geld auf dem Sparkonto, das
ihnen aber schon lange keine anstän-
dige Rendite mehr bringe. Über ei-
nen Bürgerfonds würde Geld ange-
legt, mit dem sinnvolle Projekte fi-
nanziert werden könnten. Habeck
verweist auf Vorbilder, etwa den nor-
wegischen Staatsfonds. „Insofern wä-
re so ein Bürgerfonds kein Hexen-
werk, sondern machbar.“
Bei Ökonomen stößt die Idee auf
Beachtung, allerdings nicht auf unge-
teilte Zustimmung. „Ein Bürgerfonds
wäre eine kluge Idee, gerade für
Menschen mit geringen Einkommen
und Vermögen“, sagte Marcel Fratz-
scher, Präsident des Deutschen Insti-
tuts für Wirtschaftsforschung (DIW),
dem Handelsblatt. Ein solcher Fonds
würde es Menschen ermöglichen,
klüger zu sparen, um gerade in Zei-
ten der Nullzinsen eine Rendite auf
ihr Erspartes zu erzielen. Es wäre im
Übrigen ein sinnvolles Modell, um
die private Vorsorge in Deutschland
zu verbessern, „denn zu viele Men-
schen können im Alter von ihrer ge-
setzlichen Rente nicht gut leben“.
„Es wäre sicherlich gut, wenn
mehr Menschen ihre Ersparnisse
nicht auf einem Bankkonto ohne Zin-
sen liegen lassen, sondern auch in
Aktien oder Fonds investieren – auch
und besonders zur Altersvorsorge“,
sagt auch Hubertus Bardt, Geschäfts-
führer des Instituts der deutschen
Wirtschaft Köln (IW). Um Negativzin-
sen zu entgehen, gebe es aber bereits
eine Menge Angebote am Kapital-
markt. Ein Staatsfonds würde ver-
mutlich durch hohe Sicherheitsanfor-
derungen und andere politische Vor-
gaben zu niedrigen Renditen führen.
Grüne
Raus aus der Öko-Nische
Die neuen Grünen wollen mehr bieten als nur Umweltschutz.
Ihr neuester Vorstoß ist ein Bürgerfonds zur Stärkung der Altersvorsorge.
Ein
Bürgerfonds
wäre eine
kluge Idee,
gerade für
Menschen mit
geringen
Einkommen
und Vermögen.
Marcel Fratzscher
DIW-Präsident
Grünen-Politiker
Giegold (l.), Habeck:
Neue Ideen für die
Altersvorsorge.
Michele Tantussi/AFP/Getty Images
dpa
Italien
Weg frei für
neue
Regierung
Regina Krieger Rom
N
ach drei Wochen steht die po-
litische Krise in Italien vor ei-
ner Lösung. Das „Ja“ der sozi-
aldemokratischen PD zu einer Koali-
tion mit der Bewegung Fünf Sterne
hatte am Mittwochnachmittag den
Durchbruch gebracht. Und auch ei-
nem zweiten Mandat für Premier
Giuseppe Conte, der den Fünf Ster-
nen nahesteht, stimmte die PD zu.
Jetzt muss Staatspräsident Sergio
Mattarella qua Amt den Auftrag zur
Bildung einer Regierung geben. Dann
muss die Kabinettsliste aufgestellt
werden und Conte über die neue Re-
gierung im Parlament abstimmen las-
sen. Das wird noch in dieser Woche
passieren.
Mattarella hatte den Parteien nur
wenige Tage zum Verhandeln gege-
ben. Er wolle eine Regierung mit ei-
nem mehrheitsfähigen Programm
und keine taktischen Spielchen, hatte
er am vergangenen Donnerstag nach
der ersten Runde der Konsultationen
gesagt. Denn Italien muss schon im
September die Arbeit am Haushalt
beginnen, dessen Eckpunkte im Ok-
tober nach Brüssel gehen. Das ver-
schuldete Land steht weiterhin unter
Beobachtung.
PD-Chef Nicola Zingaretti erklärte
nach dem Gespräch mit Mattarella,
seine Partei stehe zu einer Regierung
mit einer neuen politischen Mehrheit
und einem präzisen Programm. Die
Partei akzeptiere den Vorschlag der
Fünf Sterne, Conte erneut als Regie-
rungschef zu benennen. Ein Staffel-
lauf sei das nicht, sondern ein verant-
wortlicher Neubeginn.
Mit Blick auf die nach 14 Monaten
gescheiterte populistische Koalition
von Fünf Sternen und Lega sagte er
auch, dass die PD der Periode des
Hasses und der Angst ein Ende set-
zen wolle. Das war auf Lega-Chef
Matteo Salvini gemünzt, der mit der
Forderung nach Neuwahlen die Krise
ausgelöst hatte. Die Rechtspopulisten
gehen jetzt wie Silvio Berlusconis
Forza Italia in die Opposition.
Salvini forderte am Mittwoch auf
üblich polemische Art Neuwahlen,
wetterte gegen Europa und sagte, die
künftige Regierung werde nicht lange
halten. Nach einer Umfrage des Insti-
tuts Ipsos für den „Corriere della Se-
ra“ hat er in den letzten Tagen erheb-
lich an Zustimmung bei den Italie-
nern eingebüßt. Der Wert sank von
54 auf 36 Prozent, während die Zu-
stimmung zu Conte unverändert bei
52 Prozent bleibt.
Einfach wird die Zusammenarbeit
der bisherigen politischen Gegner
nicht. Wirtschaftspolitik, Umwelt, Si-
cherheit, Europa, das sind die The-
men der PD, die bis 2018 regiert hat.
Ihr ist vor allem das Bekenntnis zu
Europa und dem Euro wichtig. Die
Fünf Sterne beharren auf der von ih-
nen auf den Weg gebrachten Redu-
zierung der Abgeordneten, der Ein-
führung eines Mindestlohns und ei-
nem Entwicklungsplan für den
Süden. Schwierigkeiten zeichnen sich
ab bei den Themen Sicherheit und
Flüchtlinge. Die Fünf Sterne waren
bis jetzt dem harten Kurs von Lega-
Chef Matteo Salvini gefolgt. Bis zu-
letzt war unklar, ob Fünf-Sterne-Chef
Luigi Di Maio nur ein Ministeramt
übernimmt oder Vizepremier bleibt.
Wirtschaft & Politik
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DONNERSTAG, 29. AUGUST 2019, NR. 166
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