Handelsblatt - 29.08.2019

(Dana P.) #1
Kinder in
der Grundschule:
In Berlin,
Brandenburg und
Mecklenburg-
Vorpommern können
die Kinder erst nach
der 6. Klasse auf
weiterführende
Schulen gehen.

Florian Gaertner/imago images/photothek

Bildungsungleichheit


Was die Deutschen bei der Bildung ändern würden


Eine neue Studie zeigt: Die


Deutschen wollen, dass der


Staat entschiedener gegen


Chancenungleichheit im


Bildungssystem vorgeht.


Barbara Gillmann Berlin


I


mmer wieder gerät Deutschland
für mangelnde Chancengleich-
heit im Bildungssystem in die

Kritik. Der Schulerfolg beispielsweise


hängt nach den Pisa-Tests hierzulan-


de weit mehr als in anderen Ländern


vom Elternhaus ab. Ein Großteil der


Deutschen hätte nichts dagegen,


wenn der Staat mit eindeutigen Maß-


nahmen dagegen angehen würde,


zeigt das neue „Bildungsbarometer“


des Münchener Ifo-Instituts, für das


4 000 Bürger befragt wurden.


Danach plädieren 61 Prozent der


Befragten dafür, die Kinder erst


nach der sechsten Klasse auf die wei-


terführenden Klassen zu verteilen.


Das ist aktuell nur in drei Bundeslän-


dern – Berlin, Brandenburg und


Mecklenburg-Vorpommern – mög-


lich. Der Deutsche Philologenver-


band hingegen – ein gewerkschaftli-


cher Zusammenschluss von Leh-


rern, die auf das Abitur vorbereiten –


hatte unlängst gefordert, diese Mo-


delle abzuschaffen, damit die Gym-


nasiasten mindestens acht, bezie-


hungsweise neun Jahre Zeit für die
Vorbereitung zum Abitur haben.
Die höchste Zustimmung von mehr
als 80 Prozent findet der Vorschlag,
Stipendienprogramme für einkom-
mensschwache Studierende auszu-
bauen. Fast ebenso viele Bürger sind
dafür, staatliche Ausgaben für Schu-
len mit vielen Lernenden aus be-
nachteiligten Verhältnissen zu erhö-
hen. Knapp zwei Drittel finden, dass
Lehrer an diesen Schulden mehr
Geld erhalten sollten. Die Einführung
eines Ganztagsschulsystems befür-

worten 56 Prozent. Drei von vier
Deutschen meinen, der Staat solle
für Kinder ab vier Jahren die Kinder-
gartengebühren komplett abschaf-
fen. Gut zwei Drittel sprechen sich
zudem für eine Kindergartenpflicht
ab dem vierten Geburtstag aus. In
der Vergangenheit haben viele Län-
der die Kita-Gebühren für einzelne
Jahre abgeschafft.
Auch von den Milliardensummen
des Gute-Kita-Gesetzes, das Bundes-
familienministerin Franziska Giffey
(SPD) aufgelegt hat, fließt ein Teil in

weitere Gebührensenkungen: Von
den acht Ländern, die bisher eine
Vereinbarung mit dem Bund ge-
schlossen haben, wollen sieben die
Bundeshilfe zumindest teilweise da-
für verwenden.
Experten hatten kritisiert, dass es
sinnvoller sei, das Geld in die Steige-
rung der Qualität zu stecken, also et-
wa in mehr und besser ausgebildete
Erzieherinnen oder eine bessere Aus-
stattung der Einrichtungen. Zum Zwi-
schenstand der Verhandlungen sagte
Giffey, bislang flössen rund 25 Pro-
zent der verplanten Mittel in Gebüh-
rensenkungen, 75 Prozent in die Ver-
besserung der Qualität.
Für die größte Herausforderung im
Bildungssystem halten die Befragten


  • fälschlicherweise – die Ungleichheit
    zwischen Kindern mit und ohne Mi-
    grationshintergrund. 60 Prozent sa-
    gen, das sei ein ernsthaftes oder sehr
    ernsthaftes Problem. Unterschiede
    zwischen sozial besser und schlech-
    ter gestellten Kindern hält die Mehr-
    heit hingegen für weniger problema-
    tisch. Das Gegenteil ist der Fall: Die
    TIMMS-Studien zeigen, dass der Un-
    terschied in den Mathematik-Leistun-
    gen zwischen Viertklässlern mit und
    ohne Migrationshintergrund 29
    Punkte beträgt – bei Kindern aus gu-
    ten beziehungsweise schwierigen so-
    zialen Verhältnissen hingegen liegt
    die Differenz bei 34 Punkten.


SPD


Große Landesverbände lassen Scholz links liegen


Ex-NRW-Finanzminister


Norbert Walter-Borjans


kandidiert für den


SPD-Parteivorsitz. Juso-Chef


Kühnert lobt ihn.


Martin Greive Berlin


T


ournee-erprobt ist Norbert
Walter-Borjans (SPD) schon
mal. In den vergangenen Mo-

naten reiste der frühere nordrhein-


westfälische Finanzminister kreuz


und quer durchs Land, absolvierte


rund 70 Veranstaltungen, wo er sein


Buch „Der große Bluff “ vorstellte, in


dem es um Steuertricks und Mythen


der Steuerpolitik geht. Im nächsten


Monat könnten 23 Veranstaltungen


hinzukommen. Allerdings keine


Buchlesungen, sondern 23 Regional-


konferenzen, in denen der SPD-


Parteivorsitz Thema ist.


„Ich stehe bereit“


Am Mittwoch gab Walter-Borjans


bekannt, zusammen mit der Bun-


destagsabgeordneten Saskia Esken


für den Parteivorsitz kandidieren zu


wollen. „Mich haben viele Men-


schen darum gebeten, für den Par-


teivorsitz zu kandidieren“, sagte der


66-Jährige dem Handelsblatt. Der


große Zuspruch von Jung und Alt,


von Mandatsträgern und Basis, vom


Arbeiter und Hochschulprofessor


„ließ mich angesichts der dramati-


schen Situation der SPD nicht kalt“,


so Walter-Borjans. Deshalb habe er


den Entschluss gefasst, er „stehe be-


reit“ – so ihn der Landesvorstand


der NRW-SPD nominiert. Die Chan-


cen dafür stehen gut, hieß es in Par-


teikreisen. Walter-Borjans selbst sag-
te, es gebe eine „erkennbare Stim-
mung, dass der Landesvorstand eine
Kandidatur von Saskia Esken und mir
begrüßen würde“. Am Freitag will
die NRW-SPD entscheiden.
Bisher haben aus NRW die ehemali-
ge Landes-Familienministerin Christi-
na Kampmann und der Bundestags-
abgeordnete Karl Lauterbach ihre
Kandidaturen angemeldet, in ver-
schiedenen Teams. Beide haben be-
reits die nötige Unterstützung von Un-
tergliederungen erreicht, weshalb sie
nicht auf eine Nominierung durch
NRW angewiesen sind. Das dürfte
ebenso für Walter-Borjans und Esken
sprechen wie der Umstand, dass Wal-
ter-Borjans aus Sicht einiger Genos-
sen eine andere politische Gewichts-
klasse mitbringt als Lauterbach und
Kampmann. Sollte Walter-Borjans no-
miniert werden, würden die beiden

größten SPD-Landesverbände Nord-
rhein-Westfalen und Niedersachsen
somit mit Kandidaten aus den eigenen
Reihen ins Rennen gehen. So hatte die
niedersächsische SPD bereits das
Team Petra Köpping und Boris Pistori-
us nominiert, Pistorius ist dort Innen-
minister. Würde ein Parteitag die neu-
en Parteivorsitzenden wählen, hätte
Bundesfinanzminister Olaf Scholz, der
ebenfalls kandidiert, somit keine gu-
ten Karten. Diesmal bestimmen aller-
dings die SPD-Mitglieder die neue Par-
teispitze. Die Frage ist, ob und wie sie
sich von den Voten ihrer Landesvor-
stände leiten lassen.
In NRW dürfte das kaum der Fall
sein. Die NRW-SPD ist zerstritten,
Parteichef Sebastian Hartmann
nicht lange im Amt. Anders sieht es
in Niedersachsen aus. Dort ist Minis-
terpräsident Stephan Weil angese-
hen. Sein Votum für Pistorius könn-

te daher zumindest eine gewisse Sig-
nalwirkung für die SPD-Mitglieder
haben, glauben Genossen. „Die Ten-
denz ist eindeutig“, sagt ein SPD-
Politiker aus Niedersachsen. „In
Hamburg mögen alle Scholz-Enthu-
siasten sein, hier ist die Stimmung
aufseiten von Pistorius.“

Robin Hood der Steuerzahler


In NRW bekommt Scholz mit Walter-
Borjans nun auch noch einen unan-
genehmen Widersacher. In seiner
Zeit als NRW-Finanzminister zwi-
schen 2010 und 2017 hat Walter-Bor-
jans zwar nicht gerade mit guten
Haushaltszahlen geglänzt. Allerdings
hat er sich über die Landesgrenzen
hinaus einen Namen als „Robin Hood
der Steuerzahler“ gemacht und trieb
mit der legendären Wuppertaler
Steuerfahndung den Kampf gegen
Steuerticks und Steueroasen voran.
Walter-Borjans steht zudem für ei-
ne dezidiert linke Finanzpolitik. So
gehörte er der SPD-Arbeitsgruppe
an, die das Konzept zur Wiederbele-
bung der Vermögensteuer vorstellte.
Scholz stimmte dem Konzept am
Montag zwar zu. Doch kaum einer in
der SPD glaubt, dass das aus vollem
Herzen geschah. Walter-Borjans gilt
da eher als Überzeugungstäter.
Ein anderer prominenter Genosse
verzichtet dagegen auf eine Kandida-
tur. „Ich trete nicht an“, sagte der Ju-
so-Vorsitzende Kevin Kühnert dem
„Spiegel“. Über eine Kandidatur des
erklärten Gegners der Großen Koaliti-
on war lange spekuliert worden. Nun
deutete Kühnert eine Unterstützung
von Walter-Borjans an: „Da würde
ich die Partei in guten Händen se-
hen“, sagte er.

Saskia Esken (l.)
und Norbert
Walter-Borjans:
Aussichtsreiches
Kandidatenduo
aus Nordrhein-West-
falen und Baden-
Württemberg.

http://www.darchinger.com, Bloomberg

Wirtschaft & Politik


1


DONNERSTAG, 29. AUGUST 2019, NR. 166


13

Free download pdf