Handelsblatt - 29.08.2019

(Dana P.) #1

„Und jetzt ein paar Tage vor den Wahlen in


Brandenburg und in Sachsen Milliarden zu


verteilen, ohne zeitgleich einen Beschluss


zum Kohleausstieg mit zu beschließen, das


bringt keine Planungssicherheit (...), sondern


führt zu weiterer Verunsicherung.“


Annalena Baerbock, Grünen-Chefin, über die gerade
beschlossenen Milliardenhilfen für die Braunkohleregionen

Worte des Tages


Brexit


Falsches


Signal


D


er Brexit war ein Votum für
die Demokratie, erklären
die Brexit-Anhänger gern.

Die freiheitsliebenden Briten hin-


gen eben an ihrer Selbstbestim-


mung. Das könnten die Europäer


auf dem Kontinent gar nicht verste-


hen, weil sie keine so ausgeprägte


parlamentarische Tradition hätten.


Nun jedoch soll ausgerechnet die


„Mutter aller Parlamente“ nur zu-


schauen, während das Land auf das


folgenschwerste Ereignis seiner jün-


geren Geschichte zutaumelt. Pre-


mierminister Boris Johnson hat ent-


schieden, das Unterhaus mehr als


einen Monat lang zu suspendieren –


ausgerechnet in den entscheiden-


den Wochen vor dem Brexit-Datum


am 31. Oktober.


Mit dieser Ankündigung verrät


Johnson die Prinzipien des Brexit-


Lagers. In Brüssel kämpft er derzeit


darum, den Backstop aus dem Aus-


stiegsvertrag zu entfernen – mit


dem Argument, dass dieser „unde-


mokratisch“ sei.


Nun stellt er selbst die parlamen-


tarische Souveränität infrage. Von


einer Entmachtung zu sprechen,


wie einige Johnson-Kritiker es tun,


ist übertrieben. Das Parlament tagt


von Mitte September bis Anfang Ok-


tober wegen der Parteitage ohnehin


nicht. Doch eine Schikane ist es al-


lemal, und der Gedanke dahinter ist


zutiefst undemokratisch. Johnson


will die Opposition daran hindern,


ihm Steine in den Weg zu legen. Das


Ziel der Abgeordneten, einen unge-


ordneten Brexit per Gesetz auszu-


schließen, wird erschwert. Sie ha-


ben nun ein bis zwei Wochen weni-


ger Zeit. Solche parlamentarischen


Tricks sind eines britischen Pre-


mierministers in dieser Situation


unwürdig.


Das Parlament muss das größt-


mögliche Mitspracherecht haben


und darf nicht von der Diskussion


ausgeschlossen werden. Die Abge-


ordneten können nun nur eines


tun: Sie müssen ihr Gesetz gegen


den No-Deal-Brexit bis Mitte Sep-


tember verabschieden. Reicht die


Zeit nicht, müssten sie Johnson per


Misstrauensvotum absetzen. Viel-


leicht hilft die Provokation des Pre-


miers ja dabei, die zerstrittene Op-


position zu einen.


Die Verordnung einer
Zwangspause für das britische
Parlament in der entscheidenden
Brexit-Phase ist undemokratisch,
meint Carsten Volkery.

Der Autor ist Korrespondent in


London.


Sie erreichen ihn unter:


[email protected]


W


ir haben verstanden.“ Dieser Satz
des damaligen SPD-Vorsitzenden
und Bundeskanzlers Gerhard
Schröder stand für eine Kehrt-
wende seiner Politik nach der
verlorenen Europawahl 1999. Ähnliches kann man
über Peter Altmaier sagen. Der Bundeswirtschafts-
minister bricht am Donnerstag zu einer Mittelstands-
reise auf und will seine Strategie für die „Geheimwaf-
fe“ Deutschlands präsentieren, wie er es selbst for-
muliert. Damit hat auch er verstanden und korrigiert
einen Fehler aus dem letzten Jahr.
Mit seiner groß angelegten Industrieoffensive ver-
mittelte Altmaier damals den Eindruck, eine Politik
nach französischem Vorbild mit staatlich gestützten
Großunternehmen betreiben zu wollen. Der Mittel-
stand kam darin kaum vor, dafür ging der umso hefti-
ger auf die Barrikaden. Mittlerweile haben sich nach
einigen Auftritten Altmaiers bei Mittelständlern und
Abendessen mit ihnen im Ministerium die Wogen ge-
glättet. Von „Totalausfall“ spricht derzeit keiner mehr.
Im Moment spürt Altmaier auch nicht mehr den hei-
ßen Atem von Friedrich Merz und Jens Spahn, die
schon öffentlich als Nachfolger gehandelt wurden.
Schröder hatte damals seinen Satz darauf ge-
münzt, dass man den Kampf um „die neue Mitte“
aufnehmen müsse. An die Leistungsträger denkt
heute in der SPD keiner mehr. In diese Lücke müsste
jetzt Altmaier stoßen. Er macht es auch, allerdings
nur in Talkshows und Interviews. So legte der Wirt-
schaftsminister ein durchaus diskussionswürdiges
Konzept zur kompletten Abschaffung des Solis vor,
kämpfte aber nicht dafür. Das Kabinett räumte sein
Konzept ab, der Minister knickte widerstandslos ein.
Die Republik scheint nach links zu rücken. Stich-
worte sind Mietendeckel in Berlin, Vermögensteuer
und Unternehmensstrafrecht. Familienunternehmer
sprechen bereits von einem „Vernichtungsfeldzug
gegen die Privatwirtschaft“. Dagegen müsste ein
Bundeswirtschaftsminister mit voller Wucht ange-
hen. Das war und ist aber nicht Altmaiers Art. Er ist
ein genialer Politikvermittler und Moderator. Doch
als prinzipientreuer Marktwirtschaftler versteht er
sich nicht. Das waren aber die großen Wirtschafts -
minister Ludwig Erhard, Karl Schiller und Otto Graf
Lambsdorff. Sie alle haben auch ihren eigenen Par-
teifreunden ab und zu mal die ordnungspolitischen
Leviten gelesen. Das liegt dem Saarländer, der eher
aus der katholischen Soziallehre kommt, fern.
Dabei lautete der Arbeitsauftrag seiner Kanzlerin,
aus dem Bundeswirtschaftsministerium das Kraft-
zentrum der Sozialen Marktwirtschaft zu machen.
Altmaier sollte das Gegengewicht zu Bundesfinanz-

minister Olaf Scholz sein. So vermittelte Angela Mer-
kel damals der CDU den schmerzlichen Verlust des
Finanzministeriums an die SPD. Bislang ist das Kraft-
zentrum aber eher saftlos. Altmaier hat eine politi-
sche Bilderbuchkarriere hingelegt, ist hochrespek-
tiert, aber mit dem Amt des Wirtschaftsministers
kämpft er. Vom Ruf eines „Mr. Mittelstand“ ist er
noch ein Stück weit entfernt.
Im Entwurf der Mittelstandsstrategie steht viel Gu-
tes: Bürokratieabbau, Unternehmensteuersenkun-
gen, niedrigere Energiepreise. Doch auch hier
kommt man wieder an den Punkt, dass den Worten
auch Taten folgen müssen. Das Grundproblem Alt-
maiers und aller seiner Vorgänger ist, dass ein Bun-
deswirtschaftsminister wenige Gesetzgebungskom-
petenzen hat und deshalb nicht alles allein stemmen
kann. In der Energiepolitik stimmt dieses Argument
nicht, da könnte er aktiv werden und die Subventio-
nen für die erneuerbaren Energien wirkungsvoll zu-
rückfahren. Bei den anderen Themen müsste er da-
gegen seinen Kabinettskollegen, egal welcher Partei-
farbe, auf den Füßen stehen.
Altmaier wollte sogar im Grundgesetz festschrei-
ben, dass die Sozialbeiträge dauerhaft unter 40 Pro-
zent bleiben. Eine richtige Forderung, aber einen
Gesetzesvorstoß aus seinem Haus hat man dazu
nicht gesehen. Viele sehen in Altmaiers Vorgehen ei-
ne Schaufensterpolitik. Dem muss man sich nicht
anschließen. Aber allein seine Aussagen zum dauer-
haften Wachstum für die kommenden zwanzig Jahre
waren schon sehr vermessen. Dieses Jahr kann er
bereits froh sein, wenn Deutschland nicht in die Re-
zession abgleitet. Zugegeben, die weltwirtschaftliche
Lage macht es ihm sehr schwer, Deutschland auf
Wachstumskurs zu halten. Umso wichtiger wäre es,
dass sein Mittelstandskonzept auch umgesetzt wird.
Es wird immer viel von Resilienz geredet. Deutsch-
land muss widerstandsfähiger gegen exogene
Schocks werden. Die Kanzlerin betont mantrahaft
die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit Deutsch-
lands. Man hat aber nicht den Eindruck, dass sie ih-
ren einstigen Lieblingsschüler darin unterstützt.
Beim Soli war ihr die Stabilität der Großen Koalition
wichtiger als die Wirtschaftspolitik.
Helmut Kohl hat immer gesagt, er wolle Wahlen
gewinnen und nicht den Ludwig-Erhard-Preis. Das
kann aber nicht der Anspruch des ersten christ -
demokratischen Bundeswirtschaftsministers seit
mehr als 50 Jahren sein.

Leitartikel


Saftloses


Kraftzentrum


Peter Altmaier
will beim
Mittelstand
punkten. Doch
den guten
Worten müssen
Taten folgen,
meint Thomas
Sigmund.

Die weltwirt-


schaftliche Lage


macht es


Altmaier sehr


schwer, Deutsch-


land auf Wachs-


tumskurs zu


halten. Umso


wichtiger wäre


es, dass sein


Mittelstands-


konzept auch


umgesetzt


wird.
Der Autor ist Ressortchef Politik.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Meinung

& Analyse

DONNERSTAG, 29. AUGUST 2019, NR. 166


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