Handelsblatt - 29.08.2019

(Dana P.) #1
Victoria Jones/AP

Carsten Volkery London


D


er zweiseitige Brief an die Abgeord-
neten beginnt ganz unverfänglich.
„Ich hoffe, Sie hatten eine angeneh-
me Sommerpause“, schreibt Boris
Johnson. Dann kommt der britische
Premierminister zur Sache. Er habe Queen Eliza-
beth II. am Morgen gebeten, die aktuelle Sitzungs-
phase des Parlaments in der zweiten September-
woche zu beenden, schreibt er. Das Parlament wer-
de erst am 14. Oktober zurückkehren, wenn seine
Regierung ihr neues Programm vorlege.
Johnsons überraschende Ankündigung am Mitt-
woch löste im Londoner Regierungsviertel einen
Proteststurm aus. Der Sprecher des Unterhauses,
John Bercow, sprach von einem „verfassungsrecht-
lichen Skandal“. Es sei „vollkommen offensicht-
lich“, dass die Regierung das Parlament davon ab-
halten wolle, über den Brexit zu debattieren, teilte
der Parlamentspräsident mit. Ex-Finanzminister
Philip Hammond twitterte, der Schritt sei „zutiefst
undemokratisch“.
Andere wählten noch schärfere Worte. „John-
sons Kriegserklärung wird mit eiserner Faust be-
antwortet“, twitterte der liberaldemokratische Ab-
geordnete Tom Brake. Der Labour-Abgeordnete
Ben Bradshaw sprach gar von einem „Putsch gegen
unsere parlamentarische Demokratie“. Seine La-
bour-Kollegin Mary Creagh nannte Johnson einen
„Westentaschendiktator“. Und auch die Chefin der
schottischen Regionalregierung, Nicola Sturgeon,
empörte sich: „Wenn die Abgeordneten nächste
Woche nicht zusammenkommen, um ihn zu stop-
pen, wird der heutige Tag als dunkler Tag in die
Geschichte der britischen Demokratie eingehen.“
Tatsächlich muss es aus Sicht der stolzen briti-
schen Parlamentarier wie eine unerträgliche Provo-
kation wirken, das Unterhaus ausgerechnet in den
entscheidenden Wochen vor dem Brexit-Datum am


  1. Oktober in den Zwangsurlaub zu schicken. „Wo-
    vor hat Johnson solche Angst, dass er das Parlament
    suspendieren muss?“, fragte Labour-Oppositions-
    führer Jeremy Corbyn. Mehrere Dutzend Abgeord-
    nete der Opposition unterzeichneten eine Petition
    an die Queen, das Anliegen des Premierministers
    abzulehnen. Corbyn forderte gar ein Treffen mit der
    Königin – ein höchst ungewöhnlicher Vorgang. Doch
    die Proteste halfen nichts, die Queen nickte John-
    sons Wunsch noch am gleichen Tag ab. Sie mischt
    sich grundsätzlich nicht in politische Fragen ein.
    Der Vorstoß des Regierungschefs rührt an das
    parlamentarische Selbstverständnis des Landes.
    Zwar tagt das Unterhaus von Mitte September bis
    zum 7. Oktober ohnehin nicht, weil in dieser Zeit
    die Parteitage stattfinden. Die Regierung verlängert
    die Pause also nur um einige Sitzungstage. Doch
    führt dies dazu, dass die Opposition weniger Zeit
    hat, ein Gesetz gegen einen ungeordneten Brexit
    auf den Weg zu bringen. Erst am Dienstag hatten
    sich sechs Oppositionsparteien unter Führung von
    Corbyn auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt.
    Sie wollen Johnson dazu zwingen, in Brüssel einen
    Brexit-Aufschub zu beantragen.
    Johnson hingegen will einen weiteren Aufschub
    um jeden Preis verhindern. Er hat mehrfach be-
    kräftigt, das Land unter allen Umständen am 31.
    Oktober aus der EU zu führen, notfalls auch ohne
    Deal. Johnson setzt die No-Deal-Drohung als Druck-
    mittel ein, um weitere Zugeständnisse von den Eu-
    ropäern zu erhalten. Er fordert von den EU-27, den
    Backstop aus dem Ausstiegsvertrag zu entfernen,
    den seine Vorgängerin Theresa May ausgehandelt
    hatte. Der Backstop sieht vor, dass Großbritannien
    so lange in der Europäischen Zollunion bleibt, bis
    Briten und Europäer ein neues Freihandelsabkom-
    men vereinbart haben. So werden keine Grenzkon-
    trollen in Irland nötig. Aus Sicht von Johnson ist
    der Backstop „undemokratisch“, weil das König-
    reich ihn nicht einseitig aufkündigen kann.


Nach seiner Europareise vergangene Woche hat-
te Johnson den Eindruck, dass Kanzlerin Angela
Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Ma-
cron zu Änderungen am Backstop bereit seien. In
Johnson-treuen Zeitungen wie dem „Daily Tele-
graph“ wurde die vermeintliche Bewegung der Eu-
ropäer als Beweis dafür gesehen, dass die No-Deal-
Drohung Wirkung zeige.
Johnson bestritt am Mittwoch, dass er die Brexit-
Gegner im Parlament ausbremsen wolle. Sie hätten
schließlich nach dem 14. Oktober auch noch Zeit.
Es gehe ihm vielmehr darum, neue Gesetzesvorha-

ben in anderen Bereichen als dem Brexit anzukün-
digen. Die Brexit-Hardliner im Parlament unter-
stützten ihn. „Dieses Parlament tut seit zwei Jahren
nichts anderes, als über den Brexit zu debattieren,“
sagte der konservative Abgeordnete John Red-
wood. „Alle sind schon längst gelangweilt.“
Die Downing Street argumentierte, es sei üblich,
dass eine neue Regierung ihr Programm vorlege
und davor das Parlament für einige Wochen sus-
pendiert sei. Der Prozess heißt „Prorogation“ und
findet gewöhnlich einmal im Jahr statt. Wenn eine
Regierung ihr Programm abgearbeitet hat, wird die

Johnsons

Kampfansage

Der britische Premierminister schickt das Parlament in den


Zwangsurlaub – unmittelbar vor dem Brexit-Datum im Oktober.


Die Abgeordneten sprechen von einem „Putsch“,


die Wahrscheinlichkeit für ein Misstrauensvotum wächst.


Wirtschaft

& Politik

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DONNERSTAG, 29. AUGUST 2019, NR. 166


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