Handelsblatt - 29.08.2019

(Dana P.) #1

EU


Warten auf


London


D


ie Reaktion aus Brüssel fiel wortkarg aus:
„Wir kommentieren keine internen politi-
schen Prozesse in unseren Mitgliedstaa-
ten“, sagte die Sprecherin von EU-Kommissions-
präsident Jean-Claude Juncker, nachdem kurz zu-
vor die Nachricht die Runde gemacht hatte, der
britische Premier Boris Johnson wolle das briti-
sche Parlament in eine Zwangspause schicken.
Die Brüsseler Behörde, die im Namen der übri-
gen 27 EU-Staaten mit London über den Brexit
verhandelt, will nicht in die überhitzte Debatte in
Großbritannien hineingezogen werden. Die
schmallippige Reaktion erklärt sich aber auch da-
raus, dass Johnsons Ankündigung aus EU-Sicht
die Lage nicht grundlegend verändert: Brüsseler
Diplomaten waren ohnehin davon ausgegangen,
dass sich das Kräftemessen in London zwischen
Befürwortern und Gegnern eines ungeregelten
Austritts bis kurz vor Ablauf der Frist am 31. Ok-
tober hinziehen wird. Im Europaparlament fielen
die Kommentierungen hingegen deutlicher aus:
„Die Debatte über weitreichende Entscheidun-
gen zu unterdrücken ist wahrscheinlich nicht för-
derlich für stabile künftige Beziehungen zwi-
schen der EU und Großbritannien“, kritisierte
dessen Brexit-Koordinator Guy Verhofstadt.
Kommission und Mitgliedstaaten beharren wei-
ter einmütig darauf, dass das von Johnsons Vor-
gängerin Theresa May ausgehandelte Austrittsab-
kommen nicht zur Disposition stehe. Nach Ge-
sprächen mit Johnson zeigte sich Juncker ebenso
wie Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs
Präsident Emmanuel Macron zuletzt allerdings
offen für neue Vorschläge Londons zum umstrit-
tenen Backstop, der eine harte Grenze zwischen
EU-Mitglied Irland und dem zum Vereinigten Kö-
nigreich gehörenden Nordirland verhindern soll.
Mit Johnsons Unterhändler David Frost verein-
barte die Kommission am Mittwoch laut Diplo-
maten, dass die britische Regierung bis zum EU-
Gipfel am 17. Oktober ihre Pläne vorlegen soll.
Der Backstop ist in einer Protokollerklärung zum
Austrittsabkommen festgehalten.
EU-Chefunterhändler Michel Barnier hatte zu-
letzt noch einmal betont, die Lösung für die in-
nerirische Grenze müsse „realistisch, umsetzbar
und vereinbar mit unseren Prinzipien“ sein. Mer-
kel pochte bei Johnsons Besuch in Berlin darauf,
in jedem Falle müsse die „Integrität des Binnen-
markts gesichert“ sein. Die Sorge ist, dass an-
sonsten über Irland Waren in die EU kommen
könnten, die etwa nicht den europäischen Si-
cherheitsstandards entsprechen.
Die bislang von der britischen Regierung lan-
cierten Alternativen zum Backstop erfüllen diese
Kriterien aus EU-Sicht nicht. EU-Diplomaten he-
gen auch große Zweifel, dass Johnson in den we-
nigen verbleibenden Wochen ein tragfähigeres
Konzept vorlegen kann. Immerhin habe der briti-
sche Premier bei seinen Besuchen in Berlin, Paris
und beim G7-Gipfel in Biarritz den Eindruck ver-
mittelt, ernsthaft an einer Einigung und an guten
Beziehungen zur EU interessiert zu sein – das sei
schon ein wichtiger Fortschritt.
Die anderen Mitgliedstaaten orientieren sich in
ihrer Haltung stark an Irland, das um das Frie-
densabkommen für den Norden fürchtet und
auch wirtschaftlich am stärksten unter dem Bre-
xit leiden dürfte. Die Regierung in Dublin zeigt
sich bislang aber unnachgiebig: Außenminis-
ter Simon Coveney betonte bei seiner der-
zeitigen Tour durch fünf EU-Hauptstädte,
die bisherigen Ideen Londons erfüllten
„nicht einmal annähernd“ die Aufgaben
des Backstops. EU-Diplomaten rechnen
damit, dass der Poker die Nerven auch
der Wirtschaft noch eine Weile strapazie-
ren wird: „Solch schwierige Verhandlungen
entscheiden sich bekanntlich meist erst in letz-
ter Minute.“ Till Hoppe

Boris Johnson bei
seinem Antrittsbesuch
bei Queen Elizabeth II.:
Die Königin lässt ihren
neuen Regierungschef
gewähren.

Sitzungsphase beendet. Die nächste beginnt dann


mit einer „Queen’s Speech“, in der die Regierung


neue Gesetzesinitiativen ankündigt. Die aktuelle


Sitzungsphase dauert bereits länger als zwei Jahre,


weil May kein anderes Programm außer dem Bre-


xit hatte und dieser noch nicht abgeschlossen ist.


Insofern war eine neue „Queen’s Speech“


schon längst überfällig.


Doch das Timing in den entschei-


denden Wochen vor dem 31. Ok-


tober ist eine Provokation. Die


Suspendierung sei nicht ver-


fassungswidrig, aber die Län-


ge von fünf Wochen sei au-


ßergewöhnlich, sagte Ruth


Fox von der Hansard Socie-


ty, einer unabhängigen Or-


ganisation für Parlamentsfra-


gen, dem „Guardian“. Die Re-


gierung ziele eindeutig darauf


ab, der Kontrolle durch das Par-


lament zu entgehen.


Die verlängerte Auszeit setzt die


Brexit-Gegner unter zusätzlichen Zeit-


druck. Die Opposition hatte sich am Dienstag ver-


ständigt, einen No-Deal-Brexit per Gesetz auszu-


schließen. Von einem Misstrauensvotum gegen die


Regierung wollten sie zunächst absehen, weil sie


sich nicht auf einen Ersatzpremierminister einigen


können. Labour-Chef Corbyn hatte sich selbst an-


geboten, wird aber von vielen Abgeordneten abge-


lehnt. Für eine Mehrheit wären auch einige Ab-


weichler aus der konservativen Regierungsfraktion


erforderlich.


Johnsons Provokation macht ein Misstrauensvo-
tum in der kommenden Woche nun wieder wahr-
scheinlicher. „Ich glaube, wir werden sehr schnell
zu einem Misstrauensvotum kommen“, sagte der
Tory-Abgeordnete Dominic Grieve, einer der
schärfsten Johnson-Kritiker bei den Konservativen.
Doch der Premier setzt darauf, dass die Pro-
Europäer im Parlament in den nächsten
zwei Wochen keinen gemeinsamen
Weg finden werden. Sein Fahr-
plan für die zweite Oktoberhälf-
te sähe dann folgendermaßen
aus: Beim nächsten EU-Gipfel
am 17. und 18. Oktober will
er die Europäer vor die
Wahl stellen: Entweder sie
stimmen einem neuen Aus-
stiegsvertrag ohne Backstop
zu, oder es kommt zum unge-
ordneten Brexit am 31. Okto-
ber. Sollten sich die Europäer
auf einen neuen Brexit-Deal einlas-
sen, würde dieser voraussichtlich am


  1. und 22. Oktober im Unterhaus zur Ab-
    stimmung gestellt. Die Abgeordneten stünden
    dann ebenfalls vor der Wahl: entweder dieser Aus-
    stiegsvertrag oder ein ungeordneter Brexit.
    Die Opposition wird weiter versuchen, den un-
    geordneten Brexit vorher auszuschließen. Doch
    die Zwangspause des Parlaments verringert die
    Wahrscheinlichkeit, dass ihr das gelingt. Das
    Pfund reagierte, wie immer, wenn der No-Deal-
    Brexit droht: Es fiel gegenüber dem Dollar und ge-
    genüber dem Euro.


Unterhaus
des britischen
Parlaments:
Zum Nichtstun
verdammt.

dpa (2)

Anti-Brexit-Demo:
Die Briten sind
gespalten in Befür-
worter und Gegner
des EU-Austritts.

EU-Unterhändler
Barnier:
Warten auf einen
gangbaren Vor-
schlag der Briten.

Virginia Mayo/AP

Wovor hat Johnson


solche Angst,


dass er das Parlament


suspendieren muss?


Jeremy Corbyn
Labour

Wirtschaft & Politik


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DONNERSTAG, 29. AUGUST 2019, NR. 166


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