Handelsblatt - 29.08.2019

(Dana P.) #1

Es ist


abzusehen,


dass das


System auch


bedenkliche


Faktoren


beinhalten


wird.


Joachim Lang
BDI

Dana Heide, Klaus Stratmann
Peking, Berlin

D


er Präsident der Euro-
päischen Handelskam-
mer in China wählt
dramatische Worte,
um den Ernst der Lage
zu beschreiben: „Es ist keine Über-
treibung zu sagen, dass das Sozialkre-
ditsystem für Unternehmen das um-
fassendste System sein wird, das je
von einer Regierung geschaffen wur-
de, um einen selbstregulierenden
Marktplatz durchzusetzen“, sagt Jörg
Wuttke. Es sei nicht undenkbar, so
Wuttke, dass das System „Leben oder
Tod für einzelne Unternehmen be-
deuten könnte“.
Die europäische Wirtschaft ist be-
sorgt. Von der breiten Öffentlichkeit
kaum bemerkt hat China in den ver-
gangenen Jahren ein immer umfas-
senderes System aufgebaut, mit dem
Unternehmen in der Volksrepublik
bewertet werden. Wer sich nicht an
die Regeln hält, dem drohen schwere
Sanktionen. Das Ratingsystem für
Unternehmen ist Teil des umstritte-
nen Sozialkreditsystems, mit dem
China seine Bürger immer stärker
und weitreichender überwacht.
Wohlverhalten wird belohnt, Fehlver-
halten in den Augen der chinesi-
schen Regierung wird bestraft.
Doch viele Firmen sind noch nicht
ausreichend vorbereitet, und das Sys-
tem hat zahlreiche Schwächen, wie
eine Studie des Berliner China-Bera-
tungsunternehmens Sinolytics für
die Europäische Handelskammer in
Peking zeigt. „Es ist erstaunlich, wie
wenig die Unternehmen darüber wis-
sen, obwohl es riesige Auswirkungen
auf ihr Geschäft hat“, so Wuttke bei
der Vorstellung der Studie am Mitt-
woch in Peking.
Eine aktuelle Umfrage der Außen-
handelskammer (AHK) in Peking un-
ter ihren Mitgliedern hatte ergeben,
dass knapp sieben von zehn deut-
schen Unternehmen in China nicht
mit dem System, seiner Wirkungs-

weise und seiner Zielsetzung ver-
traut sind. „Es fehlen substanzielle
Informationen zur Systematik und
Funktion des Scoring-Systems sowie
über vorzubereitende Maßnahmen“,
kritisiert die AHK China in einer Stel-
lungnahme.

Thema auf Merkel-Reise


Am Freitag trifft Bundeskanzlerin An-
gela Merkel zu politischen Gesprä-
chen in Peking ein. Auch ein Dialog
zwischen der chinesischen und der
deutschen Wirtschaft auf der einen
Seite und Vertretern der chinesi-
schen und der deutschen Regierung
auf der anderen Seite ist geplant.
Laut Unternehmenskreisen soll dort
auch das Thema der Sozialkredite an-
gesprochen werden.
China baut schon seit mehreren
Jahren einzelne Ratings für Unter-
nehmen auf. So gibt es zum Beispiel
bereits Umwelt-, Steuer- und Zoll -
ratings. Internationale Unternehmen
unterliegen laut einer Schätzung von
Sinolytics im Schnitt etwa 25 bis 30
solcher Ratings mit insgesamt etwa
300 verschiedenen Kriterien. Nun
sollen diese zu einem großen Rating
zusammengeführt werden, wie es in
der Studie heißt.

Doch einige der Komponenten bie-
ten nicht nur Raum für politischen
Missbrauch, sie sind auch anfällig für
Fehler. Reale Beispiele dafür gibt es
bereits. So hat etwa ein großes deut-
sches Dax-Unternehmen ein schlech-
tes Rating bekommen, weil Betrüger
mit dem Namen des Unternehmens
in China operiert und gegen Gesetze
verstoßen haben. Ein anderes auslän-
disches Unternehmen bekam Proble-
me bei der Zollabfertigung, weil ein
Zulieferer Fehler bei seiner Preiskal-
kulation gemacht hatte. Daraufhin
wurde das ausländische Unterneh-
men bei seinem eigenen Zoll-Rating
schlechter bewertet. Das hatte zur
Folge, dass seine Waren bei der Zoll-
abfertigung öfter kontrolliert wur-
den. Als das betroffene Unternehmen
Einspruch erhob, wurde dem nicht
stattgegeben. Genannt werden wol-
len die Unternehmen nicht.
Höhere Inspektionsraten seien
„ein häufiges Sanktionsmittel im Ra-
tingsystem“, um Unternehmen zu be-
strafen, heißt es in der Sinolytics-Stu-
die. Laut Daten der Zollbehörde, die
in der Studie zitiert werden, wurden
schlecht bewertete Unternehmen im
ersten Halbjahr 2019 zu fast 100 Pro-
zent kontrolliert, während jene mit

gutem Rating nur zu 0,5 Prozent kon-
trolliert wurden.
Die Beispiele zeigen: Die Sanktions-
möglichkeiten sind vielfältig und kön-
nen gravierende Folgen haben. So
droht neben vermehrten Kontrollen
am Hafen, die die Logistik zum Erlie-
gen bringen können, auch der Aus-
schluss von öffentlichen Aufträgen.
Zudem können Lizenzen verwehrt
werden. Ein zentraler Sanktionsme-
chanismus ist auch das „Naming and
Shaming“ – schlechte Ratingergebnis-
se werden im Internet veröffentlicht
und machen das Unternehmen unin-
teressanter für potenzielle Geschäfts-
partner. Die Idee sei, so heißt es in
der Studie, „dass nicht vertrauens-
würdige Unternehmen nicht weiter
erfolgreich Geschäfte im chinesi-
schen Markt machen können“.
„Es ist abzusehen, dass das System
neben nachvollziehbaren Kriterien
wie Zahlungsmoral oder Einhaltung
von Umweltauflagen auch bedenkli-
che Faktoren wie die persönliche Be-
wertung des leitenden Managements
oder das Verhalten von Geschäfts-
partnern beinhalten wird“, warnt
BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim
Lang. „Im ohnehin schwierigen Han-
dels- und Investitionsumfeld kommt
ein neuer Unsicherheitsfaktor hin-
zu“, warnt er.
„Das Bewertungssystem soll auch
ausländische Unternehmen dazu
bringen, sich in vorauseilendem Ge-
horsam zu üben“, sagte Albrecht von
der Hagen, Geschäftsführer des Fa-
milienunternehmer-Verbandes: „Das
können wir nicht akzeptieren.“ Ohne
demokratische Kontroll- und Wider-
spruchsmöglichkeiten eröffne Über-
wachung der Willkür Tür und Tor.
WTO, EU und Bundesregierung dürf-
ten diese Eingriffe nicht hinnehmen.
Mit dem Ratingsystem drohe „eine
weitere Einschränkung freier unter-
nehmerischer Entscheidungen“, kri-
tisierte BGA-Präsident Holger Bing-
mann. Das gelte insbesondere, wenn
neben harten Kriterien wie beispiels-
weise der Einhaltung von Arbeits-

China


Wirtschaft warnt


vor Ratingsystem


China hat ein umfassendes Bewertungssystem


für Firmen geschaffen. Wer sich nicht an die


Regeln hält, dem droht Punktabzug. Eine neue Studie


berichtet von ersten Opfern.


Hafen von Qingdao:
Die chinesische Re-
gierung beobachtet
die Niederlassungen
im Land genau.

dpa

Wirtschaft & Politik
DONNERSTAG, 29. AUGUST 2019, NR. 166

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