AD Architectural Digest - September 2019

(Ron) #1

Foto:


The


National


Gallery,


London


/Akg-Images;


Porträt:


René


Fietzek


Oliver Jahn

AD
Editorial

E


inkehr,Ruhe,Askese,Konzentration.Wohlnirgendssonstinder
IdeengeschichtedesAbendlandessinddieseVorstellungenein-
drücklicherinsBildgefasstwordenalsindenunzähligenDarstel-
lungendesHeiligenHieronymus.LeonardodaVincihatihnge-
malt,Ghirlandaio,Dürer,LucasCranachderÄltereundvielemehr.
AntonellodaMessinazeigtdenberühmtenKirchenvater,derauf
EinladungdesPapstesDamasusI ab 382 n.Chr.inRomundspäter
inBethlehemdasNeueunddasAlteTestamentinsLateinische
übersetzte– dieüberJahrhundertemaßgeblichesogenannteVul-
gata–,versunkeninseineSchriften„imGehäus“(oben, um1474).
Erschufdamitdiegeradezuemblematischverdichtete Urszene
allerKontemplation,denScholarinseinerKammer.
Geradewardasnur45,5auf 36 ZentimetergroßeÖlgemälde,
dassonstinderLondonerNationalGalleryhängt,indergroßen
Antonello-RetrospektiveinMailandzusehen– einederIkonen
derinderitalienischenRenaissancegeprägtenhumanistischen
Philosophie.NatürlichistderüberseineSchriftengebeugteGe-
lehrte eine besonders naheliegende Kristallisationsfigur des
christlichen Abendlandesfürdie Maßgabe eines arbeitsam fokus-

siertenLebens,formuliertaberfürunsHeutigevielleichtvielmehr
dasBedürfnisnachRückzuganeinenOrt,indemesüberden
bloßenFleißhinausvorallemumdasSammelnneuerKräftegeht.
WirhabenunsdiesenMonatgefragt,welcheseigentlichgegen-
wärtigunsereOrtesind,andiewirunszurückziehenkönnen,um
imtosendenWahnsinndertäglichenpolitischenundgesellschaft-
lichenVerwerfungenundVeränderungenganzbeiunsselbstzu
sein,unszukonzentrieren.DieMindspaces,indenenwirsehr
bewussteinenAugenblickerlebenundkultivierenkönnen.Die
MönchsklausedesHieronymusmagamAnfangdieserHistorie
stehen,istjedochnureineMöglichkeitvonvielen.Eskannebenso
gutdasKlosterinAntwerpensein,dasVincentVanDuysenzu
einemHotelumgebauthat(S.102),daslabyrinthischeRiad,andem
MeisterparfumeurSergeLutensschoneinLebenlanginMarra-
kescharbeitet(S.130),einKapitänshausvollerStrandgutaufeiner
InselvorderKüsteTasmaniens(S.124),dasPied-à-terrederInte-
riordesignerinLauraSartoriRiminiinChelsea(S.148)oderdie
majestätisch-ruhigeBetonarchitektureinerMünchner Kreativ-
agentur(S.154).AllenwohnterkennbardieKraftinne,dieimAll-
tag auseinanderstrebenden Feldlinienfast magnetisch wieder
auszurichten.WelchessindsolcheKraftortefürSie?Auchwenn
Sie nicht gleichdie ganze Bibel neu übersetzen wollen...

„Obin einer Mönchsklause
odermittenin derStadt –

welches sind Ihre Kraftorte?“


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