AD Architectural Digest - September 2019

(Ron) #1

Panorama
Kunst


Foto: Dag Fosse, Courtesy of Kode, Bergen

chern, Essen, lebende Gänse), als ihre
Kunst an Privatsammler zu verkaufen. „Ta-
pisserien nur für die Reichen, das ist ein
Witz!“, schrieb sie an einen Freund. Ihre
Kunst sollte in Museen, Schulen, Gemein-
dezentren hängen. Alle sollten sie sehen.
Im größten Gebäude von Ørland, dem
Kultursenter, kommt vieles zusammen: Ki-
no, Kita, Polizei, Hotel – und das Hannah
Ryggen-Zentrum. Dort ist gerade ein Teil
der Ryggen-Triennale installiert (der ande-
re, größere hängt im Nordenfjeldske Kunst-
industrimuseum mitten in Trondheim),
und neben den Arbeiten der jungen Gegen-
wartskünstler wird offensichtlich, wie
frischRyggensTapisserien,vorallemaber
wietraurigaktuellihreThemensind:Ar-
mut,Ungerechtigkeit,Faschismus,Mutter-
schaft,AufrüstungundunserUmgangmit
derNatur– esgehtihrimmerumalles:um
Menschenundwassiesichgegenseitigan-
tun,MitgefühlundAufklärung.KätheKoll-
witzfällteinemein,Ryggenwebt,Kollwitz
zeichnet die Weber beim Aufstand, die
Grausamkeiten,denHungerderKinder,so
genau,mankannkaumhinschauen.
KollwitzgibtderArmut einGesicht,
RyggenderUngerechtigkeiteinenNamen.
OftsindesexemplarischeEinzelfälle,die
siewebt:„DerTodderTräume“hatsie 1936
einWerkgenannt.Darauf:einlebloserCarl
vonOssietzky,gewürgtvonGöring,flan-
kiertvonGoebbelsundHitler.Siewarmit
demTeppichfertig,nochbevorderSchrift-
steller,PazifistundFriedensnobelpreisträ-
ger 1938 inGefangenschaftderNazisge-
storbenist. 1938 webtsieeinenTeppich,
densieLiselotteHerrmannwidmet.Die
vondenNazisgeköpfteWiderstandskämp-
ferinzeigtsiemitihremSohnWalterum-
gebenvonOrnamenten,einemoderneMa-
donnaimRosengarten.
WennnundieAusstellunginFrankfurt
öffnet,wirdbestimmtauchvomBlauviel
dieRedesein.SchweresMelancholieblau,
Himmel-,Wasser-,Blaubeerblau.Estaucht
oft auf in ihren Arbeiten. Zehn Jahre


brauch te Ryggen, um sich das Handwerk
beizubringen, lang experimentierte sie mit
dem Färben, selbst das Ausbleichen im Lau-
fe der Jahre kalkulierte sie ein. Was sie
brauchte, fand sie in der Natur, den Web-
stuhl baute Hans. Und wer nun also bei den
Ryggens zu Gast war, den bat sie, in eine
Tonne zu pinkeln. Am liebsten waren ihr
Männer, besonders wenn die getrunken
hatten. Die Tonne stand in der Sonne, täg-
lich wurde gerührt, manchmal kamen Bir-
kenblätter oder Orangenschalen dazu – so
entstand das Blau.
Wie sie überhaupt zum Weben kam?
„Ganz plötzlich wuchs in mir der Wunsch,
etwas mit meinen Händen zu machen“,
schrieb sie in einer Notiz, „dass ich Bilder
weben würde.“ Ryggen machte nie Skizzen:
„Wie ein Maler an einer leeren Leinwand
etwas aus seiner Einbildungskraft schafft,
möchte ich, dass der Weber den Teppich
aus der Fantasie hervorbringt. Nur dann
kann Weben Kunst sein.“ Sie bewältigt
imposante Formate, zwölf Quadratmeter
misst „Wir leben auf einem Stern“, ihr
epochalesVermächtnis,einWerküberdas
Glück, daseineganzeigene Tragödieer-
zählt.ZurzeithängtesimTreppenhausdes
NordenfjeldskeKunstindustrimuseum,al-

le anderen Räume sind zu niedrig, doch
53 Jahre leuchtete es in der Lobby des
High rise, einem Hochhaus im Regierungs-
viertel Oslos. „Ich habe den kürzesten Weg
gewählt: Frau, Mann, Kind“, hat Ryggen
einmal gesagt. „Sie sind zusammen. Der
höchste Ausdruck des Lebens, der höchste
Zweck.“ Sie begann den Teppich 1957, ihr
Mann war gerade, nach 33 gemeinsamen
Jahren gestorben. „Immer wenn die Trauer
am schlimmsten war“, erinnerte sich Ryg-
gen, „hörte ich Hans' Stimme: Sei stark, du
hast ihnen etwas zu sagen. Webe. Webe!“
Im Highrise begrüßte es jeden Minister,
jeden Mitarbeiter und Bürger mit diesem
Bild von Liebe.
Dann explodierte am 22. Juli 2011 An-
ders Breiviks Autobombe vor dem High-
rise, acht Menschen wurden getötet, tage-
lang lag der Teppich im Löschwasser und
Schlamm. Inzwischen wurde er restauriert.
Nur wenn man genau hinschaut, sieht man
die Narben. „Wir leben auf einem Stern“ –
das Grandiose und die Grausamkeit, ganz
nah beieinander.

„Mankannnichtfassen,dassdieAmerikanersoeinendummenMannzum
Präsidentengewählthaben“,schriebRyggenaneinenFreund.Gemeintwar
LyndonB.Johnson,densieauf„BlutimGras“(o., 1966)mitHundzeigt.
DieblauenMustersymbolisierenBomben,dieaufdieFelderVietnamszielen.

Hannah Ryggen

„Plötzlich tauchte in
mir der Wunsch auf,

etwas mit meinen


Händen zu schaffen.“


26.9.–12.1.2020, Schirn, Frankfurt. Katalog: Prestel,
Marit Paasches „Threads of Defiance“ (Englisch):
Thames & Hudson. schirn.de

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