Der Standard - 24.08.2019

(lily) #1

Samstag, 24. August2019 AlbumA7


Enge, die mir die letzte Freiheit
raubt.
***
Ich werde aufgerufen und trete
ins Ärztezimmer. Ein etwas stär-
kerer Mann sitzt vor mir. Er wirkt
gemütlich und hat ein freundli-
ches Gesicht. Nachdem ich mein
T-Shirt ausgezogen habe, hört er
mich ab und stellt mich im gegen-
überliegenden Raum vor eine
Röntgenwand. Ein Schatten, der
einem Schmetterling gleicht, liegt
auf meiner Lunge. Poetischer lässt
sich nicht sterben, denke ich.
***
Zurück im Büro, erklärt mir der
Arzt, dass der Schatten größer ge-
worden sei. Er breitet sich lang-
sam aus und vergräbt meine Lun-
genbläschen, bis sie ihre Funktion
nicht mehr erfüllen können. Ist
das der medizinische Beweis des
Totengräbers in mir? Aus einem
Reflex, der alles dem Tod Zugehö-
rige ins Lächerliche ziehen möch-
te, arbeite ich an pointierten For-
mulierungen in meinem Kopf,
statt der vorgeschlagenen Thera-
piemöglichkeit zu folgen.
***
Auf dem Weg nach Hause fühle
ich eineseltsame Erleichterung.
Durchdie Diagnose gibt es plötz-
licheinenGrundfürmeineMelan-
cholieund diesen Weltschmerz,
den ich bisdahin alsreine Einbil-
dungabtunmusste. Ich bin nicht
wahnsinnigund kein Lebensüber-
drussfanatiker, sondern einfach
krank.Irgendetwasfrisstmichvon
innen auf. Es ist keine Floskel
mehr, die ichschon hunderte
Maleindiese Büchergeschrieben
habe. Es istdie Wahrheit!
***
Abend. Beim dritten Bier stellt
sich dieser Hunger nach Leben ein
und mich überkommt die Lust zu
rauchen. Ich suche nach den Zi-
garetten meines Vaters. Nur am
Wochenende gönnt er sich eine,
manchmal zwei. Ich nehme einen
tiefen Zug und sehe in diesem
plötzlich aufsteigenden Nebel so
viele Dinge, die er mir während
des Grabens von seinen Reisen er-
zählt hat: eine einsame Nacht
unter dem Eiffelturm. Das Rau-
chen ist vielleicht seine eigene,
kleine Rebellion in aller Gebun-
denheit an diesen Ort.
***
Ich trinke und wische Frauen
weg, die sich als Reisende geben.
E. schreibt mir, dass sie davon ge-
träumt hat, mich zu küssen, ob-
wohl wir uns noch nie getroffen
haben. Ihr hat meine Beschrei-
bung genügt, um die Fantasie an-
zuregen. Ist vielleicht eine Renais-
sance der Romantik ausgebrochen
in diesen anonymen Liebesspie-
len aus der Ferne?
***
Gegen Mitternacht lege ich
mich inmitten des Hofes auf den
noch warmen Beton und blicke in
den Sternenhimmel, bis mich die
Finsternis ganz umhüllt.
***
Träume: ja. Erinnerung: keine.
Nicht einmal ein Gefühl. Und
doch zu wissen, irgendetwas war.

Mario Schlembachist Schriftsteller und
Totengräber. Aufgewachsen als Bauern-
sohn neben dem Lagerfriedhof Sommer-
ein in Nieder-
österreich. Zuletzt
erschienen sein
autobiografisch
gefärbter Roman
„Nebel“ (2018,
Otto-Müller-Verlag
Salzburg).
pwww.bauern-
erde.at
Foto: Vilma Pflaum

G


eträumt vom Dschungel.
Ein Haus überwachsen
von der Zeit. Wurzeln
dringen durch die Ge-
mäuer. Ich weiß, SIE wartet auf
mich, aber ich finde niemanden.
Unruhe, die zur Gefangenschaft
wird.




Bevor die Welt über mir zusam-
menbricht, schreibe ich die Bilder
der Nacht aus meinem Kopf. Jetzt
erhellt noch jedes Wort die
schwarze Bühne des Geistes
(schöpfen!). Danach ist es nur
noch ein Verwalten von Tat-
sachen (zeugen!).




Der Hund schnarcht neben mir.
Die Katzen liegen auf dem Fens-
terbrett, und ein Huhn auf Frei-
gang durchpflügt den Rinden-
mulch unter den Weinreben. Auf
der Landstraße ziehen Autos vor-
bei. Mit etwas Fantasie stelle ich
mir das Meer und das Geräusch
aufschlagender Wellen vor, wäh-
rend der Duft von Kunstdünger in
der Luft liegt.




Als Schreibtisch dient mir das
umfunktionierte Gusseisengestell
einer alten Singer-Nähmaschine.
Nach ihrer Schneiderinnenlehre
hat sie meine Mutter kaum noch
gebraucht und sich für die Fami-
lie aufgegeben. Durch leichtes
Wippen bringe ich das Antriebs-
rad in Schwung, das sich ins Lee-
redreht.NichtsanderesistSchrei-
ben, denke ich.




Sieben Uhr. Die Unruhe des
Morgens beginnt. Meine Eltern
sind bereits seit einigen Tagen mit
der Transsibirischen Eisenbahn
quer durch ein fremdes Land
unterwegs, und ich bin allein am
Bauernhof. Den halben Vormittag
verbringe ich mit den üblichen
Routinen: Tiere füttern und am
Ortsfriedhof den Hausmeister
spielen.




Erst letzte Woche–anden hei-
ßesten Tagen des Jahres–musste
ich drei Löcher hintereinander
schaufeln. Laut Statistik wird jetzt
für eine Weile Ruhe einkehren.
Die Annahme, dass es unter der
Erde kühler ist, sollte überdacht
werden. In über zwei Metern Tie-
fe herrschte eine Luftfeuchtigkeit
wie im Regenwald, verbunden mit
einem unerträglichen Gestank.
Zum Glück grub ich dreimal
durch Sand.




Nachdem ich die Mülleimer
entleert und unser Familiengrab
gegossen habe, tritt eine alte Frau
aufmichzuundbittetdarum,dass
ich die Kränze und Buketts von
ihrer Ruhestätte räume. Bei dieser
Saharahitze sind die Blumenge-
stecke nach wenigen Tagen ver-
welkt, und der Pappelsarg hat be-
reits nachgegeben. Die Grabein-
fassung fülle ich mit drei Scheib-
truhen Erde auf und ziehe sie mit
einem Rechen gleich.




Vom Wirtshaus meines Onkels
hole ich den Bioabfall. Zurück am
Hof, warten die 79 Hühner (ex-
klusive dreier Hähne) aufgeregt
vor dem Eingang ihres Freilauf-
geheges. Ich schütte den grauen
Kübelaus,undsiestürzensichauf
die Essensreste: Kartoffelschalen,
Schnitzel, Teigtaschen und Back-
hendl. Jedes Mal bin ich erstaunt,
wie sie ekstatisch lospicken und
dabei vor nichts haltmachen. In
wenigen Minuten ist alles bis auf
die Knochen weg. Sollte ich
jemals einen Mord planen, ist
die Kombination aus einer Armee
von Allesfressern und die Arbeit
als Totengräber eine kaum zu


Notizenvon einem


SommerinSommerein


„Gegen Mitternacht lege ich mich inmitten des Hofs auf den nochwarmen


Beton und blicke in den Sternenhimmel, bis mich die Finsternisganz umhüllt.“


Auszug ausMario Schlembachs„Tagebuch eines Totengräbers“.


„Ein Ei fühlt sich komisch an. Es scheint keine Schale zu haben, und es lässt sich wie ein
Gummiball drücken. Trotzdem bleibt das Innere innen. Verhält es sich mit Tagebüchern ähnlich?

Foto: Schlembach

Samstag, 24. August2019 Bücher AlbumA7


überbietende Kombination dis-
kreter Leichenentsorgung. Viel-
leicht ein Krimi irgendwann?
***
Eine Henne liegt tot unter dem
Nussbaum. Seitdem wir von
einem Maschendrahtzaun zu
einer solideren Variante mit
Grundfestung umgestiegen sind,
halten sich unsere Verluste
durch Fuchsattacken in Grenzen,
aber das Buffet für Greifvögel und
Marder ist weiter eröffnet. Hier
hat es sich aller Wahrschein-
lichkeit nach um einen natür-
lichen Tod gehandelt, und ich
werfe das Huhn auf den Misthau-
fen, der im Spätsommer als Dün-
gemittel auf den Feldern verstreut
wird.
***
Als Kind hatte ich meinen Vater
einmal dabei beobachtet, wie er
eine Henne schlachtete. Mit
einem einzigen Hieb köpfte er es
in der Futterküche, und der
Korpus zuckte einige Sekunden so
wild, dass die weiße Wand zu
einem expressionistischen Blut-
gemäldewurde.Nachdemendlich
der Tod eingetreten war, tauchte
Großmutter das Huhn in kochen-
des Wasser und rupfte die brau-
nen Federn gegen den Strich. Bis
heute kann ich den Dampf auf
meiner Haut und den metallenen
Geruch nicht vergessen.
***
Zehn Uhr. Endlich schreiben.
Aber worüber? Seit längerer Zeit
fühle ich mich ausgebrannt und
begnüge mich mit sinnlosem All-
tagsgestammel, um die Seiten zu
füllen. Ich breche ab und lese wei-
ter in den Tagebüchern von Ger-
hard Fritsch.
***
Die Illusion ist doch, dass diese
Worte für keine Öffentlichkeit ge-
schrieben sind. Ist das möglich?
Ich bezweifle es. Authentizität ist
ein Mythos für Menschen ohne
Vorstellungskraft. Das Ich möchte
Wurzeln schlagen, aber die Spra-
che bleibt Treibsand.
***
Langeweile. Ich starre auf mein
Telefon und warte, bis etwas pas-

siert. Ein Toter–und vielleicht
geht sich das Meer noch aus.
***
Esklingelt.DerBestatterruftan.
Nein, kein Sterbefall. Seine
Schwiegermutter braucht vierzig
Eier, um für ein Geburtstagsfest zu
backen.
***
Ich nehme einen Korb und gehe
hinüber zum Stall. Damit mich ihr
Schnabel nicht erwischt, greife
ich von hinten unter das brütende
Huhn und versuche, die Belästi-
gung im Rahmen zu halten. Ein Ei
fühlt sich komisch an. Es scheint
keine Schale zu haben, und es
lässt sich wie ein Gummiball drü-
cken. Trotzdem bleibt das Innere
innen. Verhält es sich mit Tagebü-
chern ähnlich?
***
Nach meiner Lieferung beim
Bestatter, der bei einem Kaffee
und einer Kardinalschnitte über
das Sommerloch geklagt hat, trei-
be ich den faulen Hund auf, um
mit ihm eine Runde zu gehen. Wir
überqueren unseren Acker und
den direkt angrenzenden Lager-
friedhof, in dem mehr als 10.000
Sowjetsoldaten liegen. Die Wiese
ist übersät von Maulwurfhügeln
und sieht aus wie das Gesicht
eines Pubertierenden. Vom Mili-
tärhundezentrum bellen die jun-
gen Rottweiler. In ein paar Tagen
wird die Bundeskanzlerin für
einen Medientermin anreisen und
Patenschaften übernehmen.
***
Am Waldesrandkommen wir
zu den Ruinen eines Wirtshau-
ses.Als derBetreiber erstochen
wurde, weilein GastseineZeche
nicht zahlenkonnte,musstees
geschlossen werden.Der Hund
bleibt stehen. Er möchte heute
einen anderen Pfad einschlagen,
aber ichzwinge ihnjeden Tag,
mit mir dieselben Wege zu gehen:
VorbeiamGedenkstein füreinen
Forstpraktikanten,der 1934 an
dieser Stelletot aufgefunden
wurde. 19 Jahre jung! War es Lie-
be? Dreihundert Meter weiter ein
Denkmal für einenJäger, der 1918
„in ehrvoller Pflichterfüllung

meuchlings erschossenwurde“.
Und wiederzurück zum Fried-
hof, der langsam vomWaldüber-
wachsen wird. Ich weiß, meine
Geschichten liegen hier vergra-
ben,abermir fehlt die Sprache
noch, um sieaus der Erde zu
reißen.
***
„Wenn die Theorien klar sind,
wird die Praxis dunkel“, heißt es
bei Fritsch. Je länger ich in seinen
Aufzeichnungen lese, desto ver-
trauter wird mir seine geistige
Landschaft,undichmöchte,dass
sie nicht endet.
***
Später Nachmittag. Ich habe
einen Termin beim Facharzt, um
zu sehen, ob es die erhoffte Spon-
tanheilung meinerLungenkrank-
heitgab.AufdemWeghalteichbei
der örtlichen Tankstelle. Einige
Gestaltensitzen im rauchgefüllten
Raum an der Theke. Gerüchtewei-
se werden hier mehr Liter Bier als
Treibstoff verkauft. DerTankwart
taumeltzurZapfsäule.Währender
den Schlauch zu positionieren
versucht, muss ich ihm helfen,
sein Gleichgewicht zu halten.
***
Wir alle im Dorf tragen Masken.
Nur einmal im Jahr fallen die Hül-
len, und eine kollektive Hem-
mungslosigkeit setzt ein: Fa-
sching! Dort, wo in der Kostümie-
rung die Wahrheit zur Kenntlich-
keit entstellt wird, entladen sich
die aufgestauten Sehnsüchte. Es
ist der Stoff, aus dem die Tragö-
dien und Komödien gemacht sind.
***
Unerträgliche Hitze im Warte-
zimmer.Ich beko mmekaumLuft
undleseweiterbeiFritsch.Nachje-
demSatz fallenmeineAugen zu,
undich beende sie im Unbewus-
stenmit meinen eigenen Wen-
dungen.
***
Es sind die immer gleichen
Träume über den Tod. Ich grabe
so tief, dass ich es allein nicht
mehr aus dem Loch schaffe und
die Wände über mir zusammen-
brechen. Mir fehlt der Atem, und
ich habe panische Angst vor der
Free download pdf