Süddeutsche Zeitung - 24.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
Irre lustig und unendlich traurig: Der
Debütromander Münchner Historikerin
Dana von Suffrin  Seite 18

von michael stallknecht

K


irill Petrenkos Debüt als neuer
Chefdirigent der Berliner Philhar-
moniker war von vielen lange er-
sehnt. So sehr, dass es am Samstag vor
größerem Kreis wiederholt wird: Am
Brandenburger Tor wird Petrenko Beet-
hovens Neunte Symphonie dirigieren.
Bis zu 32 000 Zuhörer werden erwartet,
wohin die Massen sonst zu den Liveüber-
tragungen von Fußballweltmeisterschaf-
ten strömen.
Es gibt nicht wenige Menschen, auch
Musikjournalisten, die behaupten, dass
die Klassik ausstirbt. Sie verweisen gern
auf die Überzahl ergrauter Köpfe in klassi-
schen Konzerten. Wohl auch deshalb hat
die Deutsche Orchestervereinigung das
Berliner Konzert nun zum Anlass genom-
men, auf eine Tatsache hinzuweisen, die
oft übersehen werde: dass jährlich Zehn-
tausende, wenn nicht Hunderttausende
Open-Air-Veranstaltungen mit klassi-
scher Musik besuchten, die in keiner Sta-
tistik erfasst würden. 45 000 zum Bei-
spiel allein in diesem Jahr „Oper für alle“
an der Berliner Staatsoper und 75 000
das Konzert der Nürnberger Philharmoni-
ker im dortigen Luitpoldhain.

Der Interessensverband hätte ebenso
gut auf die Zahlen von Konzertbesuchern
verweisen können, die von unabhängiger
Seite erfasst werden: Sie wachsen näm-
lich seit Jahren. Besuchten in der Spiel-
zeit 2000/2001 5,9 Millionen Menschen
ein Orchesterkonzert, so waren es 2016/
schon sieben Millionen. Zur selben Zeit
ist die Besucherzahl in den Opernhäu-
sern zwar gesunken, von 4,7 Millionen
auf 3,8 Millionen. Dafür schauen sich
mehr Menschen die Übertragungen von
Opern im Kino an. Auch wer sich nicht
auf der Fanmeile am Brandenburger Tor
die Beine in den Bauch stehen mag, kann
Petrenkos Konzert allein in Berlin in elf
Kinos verfolgen.
Dabei ist natürlich richtig, dass in
durchschnittlichen Konzerten das ältere
Publikum überwiegt. Doch daraus folgt
nicht, dass sich Jüngere nicht für Klassik
interessieren, eher dürften sich darin
ganz normale lebensgeschichtliche Ent-
wicklungen spiegeln. Viele schaffen es
erst dann, regelmäßig ins Konzert zu ge-
hen, wenn die Studentenzeit vorbei ist
und die Kinder schon heranwachsen.
Weil sie sich den Besuch dann zeitökono-
misch und finanziell eher leisten können.
Vor allem bedeutet es nicht, dass weni-
ger Menschen überhaupt klassische Mu-
sik hörten. Sieht man die Sache langfris-
tig, haben sowieso viel mehr Menschen
Zugang zu den klassischen Werken als
jemals zuvor. Brauchte man im 19. Jahr-
hundert noch viel Geld oder mindestens
Fähigkeiten im Klavierspiel, um sich mit
ihnen vertraut zu machen, so genügt heu-
te ein Mausklick oder die Playlist, die
auch Klassik enthält. Dass diese Angebo-
te genutzt werden, zeigt eine Studie, die
der Klassikstreamingdienst Idagio für
acht große Länder erstellen ließ. Danach
ist Klassik das weltweit viertbeliebteste
Genre. 35 Prozent aller Menschen hören
klassische Musik, davon sind dreißig Pro-
zent unter 35 Jahren alt.
Dabei gestehen dem historischen Re-
pertoire der Klassik selbst jene Men-
schen eine besondere Werthaltigkeit zu,
die keine Konzerte besuchen. Dieser Nim-
bus kann Hemmschwellen für einen Kon-
zertbesuch erhöhen. Er sorgt aber auch
dafür, dass die Klassik immer dann ran
darf, wenn es ums große Ganze geht.
Zum Beispiel, wenn die Berliner Philhar-
moniker mit ihrem Konzert zugleich des
dreißigsten Jahrestags des Mauerfalls ge-
denken, zu dem weiland schon Leonard
Bernstein Beethovens Neunte in Berlin di-
rigierte. Die Deutsche Bank übrigens hat
zeitgleich angekündigt, ihre Kooperation
mit den Berliner Philharmonikern bis ins
Jahr 2025 fortzusetzen. Man darf ziem-
lich sicher sein, dass sie ihr Geld nicht für
etwas ausgäbe, was im Aussterben begrif-
fen ist.

von jan kedves

D


ie Mediengeschichte lehrt,
dass kein einziges angeblich
obsoletes Medium so ganz
verschwindet. Wer würde also
überrascht sein, wenn es seit
einer Weile heißt, dass die Kassette zurück
ist? Ja genau, dieses handtellergroße
klapprige Plastikteil mit den beiden gerä-
derten, gezahnten Löchern. Oft genug ver-
fluchte man das Ding, weil das Tapedeck
oder der tragbare Walkman mal wieder
das Band gefressen hatte – und man dann
ein glänzendes braunes Gewirr aus der
Klappe ziehen musste, den berühmten
Bandsalat.
Niemand würde dieses Ärgernis doch
zurückhaben wollen? Kürzlich hat aber
Madonna ihr neues Album „Madame X“
nicht nur auf CD, Vinyl, als MP3 und als
Stream veröffentlicht, sondern auch auf
Kassette, und der Starproduzent Mark
Ronson sein neues Album „Late Night
Feelings“ auch. Man könnte sagen: Na gut,
Madonna und Mark Ronson machen ziem-
liche Retromusik, da passt dann auch das

Retromedium. Aber sogar der Soundtrack
zum Science-Fiction-Blockbuster „Black
Panther“ ist im vergangenen Jahr auf Kas-
sette erschienen, und die Sängerin Björk,
seit ihrem Album „Homogenic“ (1997) ja
eigentlich die personifizierte Digitalbe-
geisterung im Pop, hat kürzlich ihr Ge-
samtwerk noch einmal auf dem alten
Analogmedium neu veröffentlicht. Dafür
mussten die Grafikdesigner M/M Paris,
Björks Hausdesigner, die Artworks der
Alben sogar extra von quadratisch auf
rechteckig umgestalten.
Warum? Als vor einigen Jahren die Vi-
nylscheibe wieder populär wurde, konnte
man das ja, nach anfänglichem Erstaunen,
gut verstehen: Vinyl ist so ein herrlich hap-
tisches Medium, und bedruckte Pappco-
ver bringen die Gestaltung eines Albums
viel besser zur Geltung als daumennagel-
kleine Screen-Ansichten auf Streaming-
Plattformen. Es ist auch sehr befriedi-
gend, die Nadel mit dem richtigen Finger-

spitzengefühl und diesem sanften Kna-
cken in die Rille zu setzen. Und wenn die
Plattensammlung im Regal irgendwann
so richtig viel Platz einnimmt, bezeugt sie
die eigene Musikpassion durch schiere
Materialmasse. Wie lohnend! Mit anderen
Worten: Mit dem Vinyl-Revival bekam
man vieles von dem zurück, was im Zeital-
ter der MP3-Kompression, der Downloads
und der Streams aus der digitalen Wolke
verloren gegangen war.
Aber die Erinnerung sagt: Wenn an der
Audiokassette jemals etwas toll war, dann
doch höchstens der Umstand, dass es sie
als Leerkassette zu kaufen gab. Man konn-
te dann das Magnetband selbst bespielen,
nicht zu oft allerdings, denn nach drei-
oder viermaligem Überspielen hörte man
einen Brei der dumpfesten Sorte. Man
hielt also Maß mit dem Band, überlegte
sich genau, welche Songs aus dem Radio
man mitschneiden wollte, und welche
nicht. Oder man nahm Songs auf, von de-
nen man hoffte, dass sie einen anderen, an-
gebeteten Menschen sehr beeindrucken
würden. Ihm oder ihr drückte man dann
das sogenannte Mixtape in die Hand, mit
draufgemaltem Herzchen und der Hoff-
nung, dass das Tape nicht bei nächster
Gelegenheit überspielt werden würde.
Früher!
Nun aber vermeldet die Kassettenfa-
brik Tape Muzik aus Leipzig eine regel-
rechte Auftragsflut. „Besonders in den
letzten zwei Jahren ist die Nachfrage nach
Kassetten enorm gestiegen. Seitdem ver-
doppeln sich die Zahlen nahezu im Ver-
gleich zum Vorjahr“, sagt Franziska Kohl-
hase, die Projektleiterin des Werks, das
seit 2004 Kassetten herstellt und mit dem
bekannten, ebenfalls in Leipzig ansässi-
gen Vinyl-Presswerk Rand Muzik assozi-
iert ist. Sprich: fast eine Vervierfachung
innerhalb von zwei Jahren. Nicht schlecht!
Die Aufträge kommen von kleineren
und größeren Labels, oder direkt von
Bands und Musikern. Zum Beispiel be-
stellt der Berliner Labelbetreiber Martin
Hossbach seine Kassettenveröffentlichun-
gen bei Tape Muzik. Kürzlich erschien auf
seinem Label, das so heißt wie er selbst,
das Black-Metal-Album „Demonji“ von
Obstler – ein Pseudonym von Max Rieger,
der als Mitglied der deutschen Punkband
Die Nerven bekannt ist. Auflage:
100 Stück. Die waren im Nu ausverkauft.

„Es gibt anscheinend weiterhin das Be-
dürfnis, Musik zu erwerben, die an ein Ob-
jekt gebunden ist“, sagt Martin Hossbach.
„Das amüsiert mich einerseits, da ich sel-
ber mittlerweile Musik ausschließlich
streame, andererseits war und bin ich
Sammler der GruppePet Shop Boysund
kann das Bedürfnis nachvollziehen.“ Hoss-
bach bietet das Obstler-Album allerdings
nicht nur auf Kassette an, sondern auch
auf den Streaming-Plattformen im Netz.
Eine Vinyl-Version gibt es nicht. Warum?
„Leider ist die Produktion von Schallplat-
ten sehr teuer geworden, Mindestaufla-
gen in Presswerken machen die Vinyl-Pro-
duktion für mich mittlerweile unattrak-
tiv“, sagt der Labelmacher.
Eine Auflage von 100 Kassetten – das
freut die Sammler und Jäger unter den
Popfans. Aber lässt sich damit schon ein
Kassetten-Boom stemmen? Tatsächlich
widersprechen die offiziellen Zahlen des
Bundesverbands Musikindustrie (BVMI)
der Erzählung von dem erstaunlichen Kas-
setten-Comeback. Im Bericht „Musikin-
dustrie in Zahlen 2018“ heißt es: „Mit der
Musikkassette (MC) wurde in Deutsch-
land erneut weniger Geld verdient, dem in

jüngster Zeit immer wieder beschworenen
Revival zum Trotz. Die Umsätze gingen
gegenüber 2017 um rund ein Zehntel
(-11,1%) zurück.“ Harte Fakten: Die Musik-
kassette sorgte 2018 in Deutschland für ei-
nen Umsatz von aufgerundet einer Million
Euro, verkauft wurden 100 000 Stück, das
ergibt einen süßen Anteil von 0,1 Prozent
am Markt für physische Tonträger – und
dieser Markt wird ja im Vergleich zum boo-

menden Streaming-Markt immer kleiner.
Dass der heutige Kassettenmarkt „ganz
klein“ sei, bestätigt denn auch Christos
Davidopoulos vom Münchner Plattenla-
den Optimal Records. Aber: „In den letz-
ten Jahren wurde immer mehr veröffent-
licht. Alle wichtigen Indie-Produkte gibt
es auf MC, im Underground gibt es auch
sehr viel, zum Beispiel Mixtapes von Hip-
Hop-DJs.“

Das Kassetten-Revival ist also eine eini-
germaßen paradoxe Angelegenheit. Es
geht vor allem in die Breite – immer mehr
Veröffentlichungen erscheinen auch auf
Kassette, aber die Auflagen sind dann oft
so gering, dass man von Kleinstauflagen
oder gar von Editionen sprechen muss. In
den Pop passt das allerdings gut, denn
auch wenn man dort auf Rekorde und
Nummer-Eins-Platzierungen schaut, ist
die Relevanz neuer Pop-Phänomene eben
nicht immer mit kalten Zahlen zu belegen


  • ganz abgesehen davon, dass die Hipster
    und die Obskurantisten im Pop immer ein
    ganz besonderes Eckchen für sich gefun-
    den haben (und dort dann meistens ziem-
    lich viel Aufmerksamkeit bekamen).
    Mokieren kann man sich darüber natür-
    lich auch bestens: „Wer, der noch recht bei
    Verstand ist, benutzt heute noch Kassette
    oder Schreibmaschine, wenn man doch al-
    les auf einem Computer machen kann?“,


schrieb der britische Künstler Scott King,
mit Schreibmaschine, auf das Cover der
Kassette „Your Contribution“ des Musi-
kers Christian Naujoks, erschienen 2016
wiederum bei Martin Hossbach. „Neil
Armstrong ist zum Mond geflogen, damit
Idioten in den Cafés von Dalston-Neukölln-
Brooklyn sitzen und so tun können, als sei
es noch 1922? Tragische Idioten.“
Aber vielleicht sollte man die Liebe zur
Kassette einfach mal ernst nehmen. Was
ist im Streaming-Zeitalter, das von den Pla-
gen der Physis doch so herrlich befreit sein
soll, denn der Reiz des Magnetbands? Es
macht zum einen, ähnlich wie die Rille im
Vinyl, noch ein genaues Verhältnis zwi-
schen Spieldauer und Speicherkapazität
anschaulich. Einem Musik-File auf dem
Computer oder einem Stream aus der Wol-
ke sieht man seine Größe, Länge, Spieldau-
er nicht sofort an. Anders bei der Kassette:
Je länger ein Album, desto dicker der Band-
wickel, der beim Abspielen vom einen Räd-
chen auf das andere wandert.
Wer denkt da nicht an die Sanduhr? Ja,
jedes einzelne gehörte Musikstück ist Le-
benszeit! Zum anderen kann man, und das
ist vielleicht noch wichtiger, die Kassette
nicht so einfach durchskippen. Die Skip-
Taste ist die beliebteste Funktion im Strea-
ming-Zeitalter – alles, was nicht innerhalb
weniger Sekunden gefällt, wird sofort
übersprungen. Die Kassette kann man
höchstens vorspulen, aber so ganz ziel-
sicher ist das auch nicht. Sprich, man ist
häufiger mal gezwungen, auch etwas zu
hören, was man vielleicht lieber überhö-
ren wollte. Aber vielleicht will man es dann
ja, mit der Zeit, doch gerne hören?
Die Kassette böte dann das, was im Digi-
talzeitalter immer seltener wird: Kunster-
ziehung durch ein gewissermaßen störri-
sches Medium. Und da haben wir über den
Brillanzverlust des Bandes noch gar nicht
nachgedacht: Auch diejenige Musikkasset-
te, die man nur anhört, ohne sie zu über-
spielen, klingt irgendwann immer dump-
fer. Vielleicht wird man sie deswegen gar
nicht allzu häufig abspielen? Vielleicht will
man die geliebte Musik vor Abnutzung
schützen? Das wäre eine neue, aber eigent-
lich ja alte Ökonomie des Zuhörens. Sparsa-
mer Musikkonsum. Vorausgesetzt natür-
lich, man hält nicht die Kassette in der
Hand, während man dazu den passenden
Stream einschaltet.

Michael Stallknecht hört
klassische Musik auf sämtli-
chen Wegen – auch open-air.

FOTO: VERLAG KIEPENHEUER & WITSCH

Humor und Holocaust


Luis Barragán war Mexikos bekanntes-
ter Architekt, doch sein Archiv ist in der
Schweiz. Ein Nachlass-Krimi  Seite 17 Auf dem neuen Album von Taylor Swift
gehtes viel um Liebe – was sich heute schon fast
nach Widerstand anfühlt  Seite 16

Mausklick, Playlist, Streaming:
Nie hatten so viele Menschen
Zugang zu klassischer Musik

DEFGH Nr. 195, Samstag/Sonntag, 24./25. August 2019 15


FEUILLETON


KLASSISCHE MUSIK

Mehr Zuspruch


denn je


Man konnte das Magnetband
selbst bespielen, nicht
zu oft allerdings

Es gibt immer mehr Kassetten-
veröffentlichungen – aber doch
meist in Kleinstauflagen

Farbe der Erinnerung


Ein Band, das von
einem Rädchenaufs
andere wandert –
das ist das Vergehen
der Zeit.COLLAGE: SZ

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Wie das Leben so spult


Warum bringen Madonna und Mark Ronson ihre neuen Werke auch auf einem ganz alten Medium heraus, der klapprigen


Musikkassette? Über das Revival eines wunderbar haptischen, aber nach wie vor nicht sehr praktischen Tonträgers


RENE BURRI / MAGNUM PHOTOS

Aus dem Schatten


JETZT IM KINO

VOM REGISSEUR VON EIN FLIEHENDES PFERD
#1 UND DEM AUTOR VON FAMILIENFEST

DER
ARTHOUSE-
CHARTS

„Über diesen Film sprechen (Ehe-)Paare
in ganz Deutschland!“

MARTINA
GEDECK

ULRICH
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