Süddeutsche Zeitung - 24.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
Auf dieser Seite
zeigen wirjede
Woche neue,
unbekannte oder
verschollene
Werke von Künst-
lern, Autoren,
Architekten,
Komponisten,
Regisseuren und
Designern. Sie
sprechen für sich
selbst, wir erzählen
die Geschichte
ihrer Entstehung.

Im „Weltsommer“:


Der schärfste Kritiker,


den es in Deutschland


je gab, war Alfred Kerr.


So hart er mit manchen


Zeitgenossen umging,


für eines schwärmte er:


Amerika – wie auch


diese Postkarten zeigen


22 FEUILLETON GROSSFORMAT Samstag/Sonntag, 24./25.August 2019, Nr. 195 DEFGH


Alfred Kerr war drei Mal in Amerika. Kurz bevor der
Erste Weltkrieg ausbrach, im Mai 1914, fuhr er mit dem
Dampfer „Vaterland“ nach New York. Er war 46 Jahre
alt, als Theater- und Literaturkritiker berühmt und in
harte Fehden und interessante Liebesgeschichten ver-
wickelt. Amerika scheint ihm wirklich eine neue Welt
bedeutet zu haben: „Womit verbring ich meine Zeit?“,
schrieb er: „Habe die besten Kritiken dieser Läufte
gedichtet. Gab Möglichkeiten des Ausdrucks in einer
schlafferen Menschheit (...) Ein Quark ist es. Man möch-
te hier einen Laden aufmachen.“
Zum zweiten Mal fuhr Kerr nach drüben, da zog die
Inflation gerade richtig an. Zwischen Januar und Juli
1922 verteuerte sich der Dollar von 191 auf 493 Mark,
Kerr schiffte sich im Mai auf dem 20000-Tonnen-
Dampfer „Resolute“ ein und landete wieder in New
York: „Der Mensch fühlt ein wunderbares Erschüttert-
sein, wenn er nach dem Weltunglück aus dem verzwiste-
ten, siechen Europa hier landet.“
1924 überquerte Kerr den Atlantik auf der „Deutsch-
land“. Nachdem 1923 bei S. Fischer seine Reisefeuille-
tons „Newyork – London“ erschienen waren, galt er in
den Staaten so viel, dass er in Washington von Präsi-
dent Calvin Coolidge empfangen wurde, den er mit der
Bemerkung erfreute: „New York ist nicht Amerika“. Er
machte das dann wahr, bereiste New Orleans und
Phoenix, sah den Grand Canyon, Los Angeles, San
Francisco, den Yosemite- und den Yellowstone-Park,
Portland, Chicago, die Niagara-Fälle und Boston.
Diese Reise hat er in dem Buch „Yankee Land“ nieder-
geschrieben, das im Jahr darauf erschien, und das der
Aufbau Verlag diesen September zum ersten Mal seit
1925 wieder herausbringt. In seinem Nachlass haben
sich Postkarten gefunden, die er nach Hause schrieb(FO-
TOS: AKADEMIE DER KÜNSTE, BERLIN). In weit ausschwingenden
Schriftzügen richtet er sich an Richard Mann in Fran-
kenthal, Pfalz: „Herzlichen Gruß aus einer harmlosen,
aber herrlich gelegenen Ortschaft. Ihr Kerr“ (Bild un-
ten), Ortsangabe „Salt Lake City“, das Bild zeigt den
Golden Gate Park in San Francisco. Dem Historiker
Hermann Wendel schreibt Kerr mit einem Bild des größ-
ten Mormonen-Tempels der USA (oben): „Lieber, mit
einem Gefühl des Danks (und einer Briefschuld) ging
ich auf diesen Ausflug. Im Juli bin ich zurück – hoffent-
lich sieht man sich dann mal. Alles, was hier ist, würden
Sie sehr genießen. Es ist ein menschenwürdiges Leben,
im Weltsommer. Herzlich, Ihr Kerr“.
Er sollte Amerika danach nicht wiedersehen. Als
Kerr, Inbegriff eines jüdischen Intellektuellen, sich, sei-
ne zwei Kinder und seine Frau Julia 1933 über Prag und
Paris nach London gerettet hatte, hoffte er lange auf
Aufträge aus den Staaten. Sein Vermögen war von den
Nazis beschlagnahmt worden, und wie er sich mit Bitt-
briefen im Exil über Wasser halten musste, ist kaum
mit dem Begriff „menschenwürdig“ zu beschreiben.
Als ihn schließlich Kurt Pinthus einlud, der an der New
School in New York eine Theaterschule gründen wollte,
war es zu spät. Es war Krieg, man konnte nicht mehr
reisen. Kerr hat den Krieg nur um drei Jahre überlebt.
Er starb 1948 auf einer Vortragsreise in Hamburg. Seine
Hoffnung auf Amerika, dessen „Naturkraft plus Kraft-
natur“, ist bis heute mitreißend. marie schmidt

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