Süddeutsche Zeitung - 24.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
von christoph giesen
und maxhägler

H


ongkong ist in Aufruhr: Seit
Wochen Demonstrationen,
Gummigeschoss-Salven und
Tränengas. Die Zukunft eines
der wichtigsten Handelsplät-
ze der Welt ist ungewiss. Hongkong mag
weit weg erscheinen, doch für kaum ein an-
deres Land ist der Ausgang der Krise so ent-
scheidend wie für die Exportnation
Deutschland. Als Markt ist Hongkong
nicht sonderlich relevant: 7,5 Millionen
Einwohner hat die Stadt, groß produziert
wird hier schon lange nicht mehr. Doch
darum geht es nicht: Wer in der ehemali-
gen britischen Kronkolonie Geschäfte
macht, der macht in Wahrheit Geschäfte
mit China – der zweitgrößten Volkswirt-
schaft der Welt.
Muss man nicht die Stimme erheben,
wenn Hunderttausende auf die Straße ge-
hen, um für ihre Freiheit zu kämpfen?
Kann man Menschenrechte einfach so
vom Geschäft trennen? Darf man Fahrge-
stelle für Wasserwerfer liefern, die De-
monstranten von der Straße fegen? Oder
ist man schon zu abhängig?

Über viele Jahre glaubte man im Wes-
ten, in Politik wie Industrie, mit Deng Xiao-
pings Modernisierungskurs in den Acht-
ziger- und Neunzigerjahren beschreite
China einen unaufhaltsamen Weg: erst
verordnete Industrialisierung, Sonderwirt-
schaftszonen und Investitionen aus dem
Ausland. Dann steigender Wohlstand.
Schließlich die Öffnung des politischen
Systems. Wandel durch Handel war das
Stichwort, und in den Universitäten war
die Modernisierungstheorie des Sozialwis-
senschaftlers Seymour Martin Lipset en
vogue: Wirtschaftliche Wohlfahrt gene-
riert demokratische Werte und eine breite
Mittelschicht, die wiederum Vorausset-
zung für eine starke Demokratie ist. Ein
Konzept, das in den Vereinigten Staaten
beinahe zur außenpolitischen Doktrin ge-
worden ist. Als die Volksrepublik im Jahr
2001 der Welthandelsorganisation (WTO)
beitrat, schien alles genau so zu laufen,
wie es die Theoretiker vorhergesagt hat-
ten. Doch alle irrten – und Hongkong ist da-
für der finale Beweis.
„China ist ein spannender Fall: Es gab
einen gewaltigen Wohlstandsprozess“,
sagt Michael Hüther, Direktor des Insti-
tuts der deutschen Wirtschaft in Köln.
„Aber zugleich hat sich die Modernisie-
rungshypothese nicht bestätigt, auch
wenn das Sozialwissenschaftler verwun-
dern mag.“ China zeige, dass es für Wohl-
stand und prosperierenden Handel nicht

zwingend demokratische Strukturen brau-
che. Das wirkt sich heute auf die Unterneh-
men aus. Volkswagen zum Beispiel ist
über die Jahre fast zu einem chinesischen
Unternehmen geworden: Dazhong, wie
der Konzern in der Volksrepublik heißt,
verkauft vier von zehn Autos in China. Bei
BMW und Daimler sind es jeweils gut ein
Drittel des Umsatzes – vor allem die gro-
ßen, teuren Limousinen werden von Chine-
sen bestellt. Auf den Automessen hört
man von deutschen Managern deshalb
oft: So viele Megacities, so viel Geschäfts-
potenzial! Der Chemiekonzern BASF wie-
derum investiert zehn Milliarden Dollar in
ein neues Werk in Südchina. Eine Kopie
des Stammwerks in Ludwigshafen soll in
der Provinz Guangdong entstehen.
Die Abhängigkeiten sind gewaltig. Ent-
sprechend zurückhaltend fallen die Wort-
meldungen aus deutschen Chefetagen
aus, die Manager vermeiden alles, was die
Führung in Peking verärgern könnte. „Die
deutsche Wirtschaft blickt besorgt auf die
Entwicklung in der Sonderverwaltungszo-
ne“, sagt etwa Siemens-Chef Joe Kaeser,

der auch Vorsitzender des Asien-Pazifik-
Ausschusses der deutschen Wirtschaft ist.
Er hoffe auf eine schnelle Lösung des Kon-
flikts auch im Sinne der 600 deutschen Un-
ternehmen in Hongkong. Rasch zurück
zum Status quo – was soll Kaeser sonst
auch sagen?

„China zeigt inzwischen sein wahres Ge-
sicht. In Hongkong wird ein Umfeld der
Angst kreiert. Peking hat keine Hemmun-
gen, die Wirtschaft zu politisieren“, sagt
Max Zenglein vom Mercator Institute for
China Studies in Berlin. Die Volksrepublik
wandle längst die Händler – und nicht
mehr andersherum.
In Hongkong hat der chinesische Staat
damit begonnen, Unternehmen regelrecht
zu erpressen. Die Arbeitgeber der Stadt sol-
len die Demonstrationen per Dekret been-
den, sonst leidet das Geschäft. Als Erstes

traf es die Hongkonger Fluggesellschaft
Cathay Pacific. Die chinesische Luftfahrt-
aufsicht verfügte, dass Mitarbeiter, die an
„illegalen Protesten“ teilnehmen, nicht
mehr in die Volksrepublik fliegen, ja nicht
einmal mehr chinesisches Territorium
überqueren dürfen. Cathay Pacific hat fast
30000 Angestellte in Hongkong. Das Un-
ternehmen verhängte in der Not ein Demo-
verbot für seine Mitarbeiter. Nach fünf Ta-
gen trat der Vorstandschef zurück, er konn-
te diesen Kurs nicht länger verantworten.
Unter Druck geraten sind auch die gro-
ßen Rechnungsprüfungsfirmen: PwC,
KPMG, Ernst & Young und Deloitte – oft
nur die „Big Four“ genannt. Ende vergan-
gener Woche hatten Angestellte anonym
eine Anzeige im Hongkonger Boulevard-
BlattApple Dailygeschaltet, darin solidari-
sierten sie sich mit den Demonstranten.
Die chinesische Reaktion folgte prompt:
Findet heraus, wer Geld für die Anzeige ge-
spendet hat, lautete die Anweisung aus Pe-
king – und feuert diese Mitarbeiter sofort.
„Inzwischen sind auch die Banken betrof-
fen“, sagt Zenglein. „Es ist nur noch eine
Frage der Zeit, bis internationale Unter-
nehmen unter Druck gesetzt werden.“ Und
dann? Einknicken wie Cathay Pacific?
„Völlig unbeeindruckt von den Umstän-
den soll und kann man keine Geschäfte
machen“, meint Ökonom Hüther. Alles
nach den moralischen Kriterien der Hei-
mat messen, das sei aber auch nicht realis-
tisch. Dann könne man nur zu Hause Ge-
schäfte machen. „Die Grenzlinie muss da
sein, wo Unternehmen dazu aufgefordert
werden, ihre Mitarbeiter zu denunzieren,
wo Menschenrechte und Bürgerrechte ver-
letzt werden.“ Die Cathay-Pacific-Lösung
wäre genau dieser eine Schritt zu weit.
Also doch widerstehen? Das sei mög-
lich, glaubt Hüther. „Chinesischen Institu-
tionen liegt viel an einem guten Ansehen“,
sagt er. „Also sollte man es darauf ankom-
men lassen und gegebenenfalls gemein-
sam mit anderen Unternehmen oder auf
Verbandsebene ganz klar und deutlich
Stopp sagen und so handeln.“
Immerhin, ein Anfang ist gemacht. Im
Januar legte der Bundesverband der Deut-
schen Industrie, BDI, ein bemerkenswer-
tes Papier vor. Statt wie in den Jahren zu-
vor so monoton wie vergeblich von China
Reformen zu verlangen, hat der Verband
umgesteuert. Es geht jetzt um die Frage,

wie sich Europa reformieren kann, um Chi-
na besser Paroli bieten zu können. Von ei-
nem „systemischen Wettbewerb“ zwi-
schen den liberalen, sozialen Marktwirt-
schaften Europas und „Chinas staatlich ge-
prägter Wirtschaft“, schreiben die Auto-
ren. Einige der Punkte wurden im Früh-
jahr von der Europäischen Kommission
aufgegriffen: In Zukunft sollen bei Infra-
strukturprojekten in Europa nur noch Un-
ternehmen aus Staaten zum Zug kommen,
die alle WTO-Regeln umgesetzt haben.
Auch bei Firmenübernahmen soll genauer
überprüft werden: Handelt es sich um ein
Privatunternehmen? Oder um einen Kon-
zern, der mit Subventionen gepäppelt im
Staatsauftrag unterwegs ist? Notfalls
könnte die Kommission einschreiten und
den Kauf untersagen.

Diese harte Haltung wird allerdings nicht
von allen Industrieunternehmen geteilt –
und auch nicht vom anderen großen Unter-
nehmensverband, dem Deutschen Indus-
trie- und Handelskammertag (DIHK), der
überall auf der Welt Vertretungen hat. Bei-
nahe zeitgleich mit dem BDI beschloss der
DIHK-Vorstand ein eigenes Strategiepa-
pier: „Chinas neue Rolle in der Welt – die
Chancen nutzen.“ Das Land sei der wich-
tigste Handelspartner Deutschlands. Ent-
wicklungen in anderen Staaten ließen sich
nur mitgestalten, „wenn durch Handel
und Investitionen Kontakte und Vertrau-
en zwischen den Akteuren vorhanden
sind“. Der gute alte Wandel durch Handel.
Die Hoffnung ist noch da, trotz Hongkong.

Seit Jahren sinkt der Pegel an der
Talsperre bedenklich. Aufgeben wollen
die Anwohner aber nicht  Seite 32

Deliveroo ist weg, Lieferando steht
in derKritik. Jetzt will ein Gründer die
Branche sozialer machen  Seite 26

China hat im Handelskrieg am
Freitag neue Vergeltungszölle auf
Einfuhren aus den Vereinigten
Staaten angekündigt. Man wolle
von September an zusätzliche Abga-
ben in Höhe von bis zu zehn Pro-
zent auf Waren mit einem Volumen
von 75 Milliarden Dollar erheben,
teilte das chinesische Handels-
ministerium in Peking mit.
Betroffen sind etwa Soja und Erdöl,
auch Autozölle werden erhöht.
Einige Tage zuvor hatte
US-Präsident Donald Trump
seinerseits den Konflikt verschärft
und angekündigt, auf Importe aus
China in Höhe von 300 Milliarden
Dollar Sonderzölle zu erheben.

von hendrik munsberg

D


ie Deutschen fühlen sich gern als
stärkste Wirtschaftsnation Euro-
pas. Und doch gibt es immer ande-
re, denen es besser geht. Die Europäische
Zentralbank rechnete das unlängst vor.
Das mittlere Nettovermögen der Deut-
schen ist mit rund 60 000 Euro das viert-
niedrigste aller Staaten der Euro-Zone.
Franzosen und Italiener verfügen über
ein etwa doppelt so hohes Geldvermö-
gen. Und nicht einmal jeder zweite Bun-
desbürger hat Wohneigentum, auch da
sieht es in anderen Ländern Europas bes-
ser aus. Hinzukommt: Immer mehr Men-
schen werden sich gegen Altersarmut
stemmen müssen – und das in Zeiten von
Negativzinsen, die, wie es aussieht, zum
Langzeitphänomen werden.
Jetzt hat Grünen-Chef Robert Habeck
einen Vorstoß unternommen, den man
sich auch als Initiative des sozialdemokra-
tischen Bundesfinanzministers Olaf
Scholz hätte vorstellen können: Deutsch-
land soll sich am Vorbild Norwegens ori-
entieren und einen „Bürgerfonds“ aufle-
gen. Der Staat soll also ein ansehnliches
Milliardenvermögen bilden, dessen Erträ-
ge genutzt werden als Ergänzung zur
Altersvorsorge – für breite Schichten der
Bevölkerung. Gelingt nach Riester- und
Rürup-Rente demnächst mit der Habeck-
Rente endlich der Durchbruch?

Die Idee ist keineswegs neu, entwi-
ckelt aber angesichts der aktuellen Zinssi-
tuation einigen Charme: Die Bundesrepu-
blik Deutschland hat auf den internatio-
nalen Kapitalmärkten eine erstklassige
Bonität, die Zinsen auf langfristige Staats-
anleihen sind negativ, zugleich erreicht
die Schuldenquote mit rund 60 Prozent
wieder solides Niveau. Eine kluge Bundes-
regierung, die sich nicht wie Scholz wei-
terhin an der „schwarzen Null“ ergötzen
möchte, könnte das nutzen, um ein Ver-
mögen aufzubauen, dessen Erträge in Zu-
kunft den Bürgern zufließen – als kapital-
gedeckte Zusatzrente. Der Fonds müsste,
von Profis gemanagt, sein Geld vor allem
auch in Aktien anlegen, wovor Bürger ge-
rade in Deutschland oft zurückschre-
cken, was verständlich ist, ihre Vermö-
gensbildung aber seit Langem empfind-
lich schwächt.
Norwegen hat aller Welt vorgemacht,
wie das geht: Indem es weitsichtig seinen
Ölreichtum und die Erträge daraus nicht
in raschen Konsum ummünzte, sondern
in einen Staatsfonds lenkte, der keine
Scheu kennt, in Tech-Konzerne wie Mi-
crosoft, Apple und Amazon zu investie-
ren. Auch deswegen verfügt jeder Bürger
Norwegens heute durch den Staatsfonds
rechnerisch über ein Vermögen von etwa
200000 Euro.
Nun kann Deutschland bekannterma-
ßen keine Bodenschätze zu Geld machen,
es könnte aber seine international hohe
Glaubwürdigkeit als Schuldner zum Nut-
zen der Allgemeinheit einsetzen und das
so gewonnene Geld in Aktien, Immobi-
lien oder Anleihen investieren. Zu Recht
weist der Rentenexperte Bert Rürup dar-
auf hin, das eigentlich Innovative dieser
Idee bestehe darin, die Schuldentilgung
des Staates zu verlangsamen und da-
durch frei werdende Mittel gewinnbrin-
gend anzulegen.
Was dies konkret bedeutet, zeigt eine
Modellrechnung des Ifo-Instituts: Die
Überschüsse des Fonds sollen vor allem
dazu dienen, jüngeren Jahrgängen beim
Erreichen der Regelaltersgrenze dereinst
eine nennenswerte Geldsumme auszu-
zahlen. Allerdings wird es Jahrzehnte dau-
ern, bis der Bürgerfonds erkennbare
Früchte abwirft. Wer von Anfang an mit
Fondsanteilen dabei ist, soll von etwa
2070 an – Robert Habeck ist dann 101 Jah-
re alt – eine jährliche Zusatzrente von in-
flationsbereinigt rund 1270 Euro bekom-
men. Nur Kleinvieh? Der Einzelne hat da-
für nie selber eigene Mittel aufgewendet.
Der Fonds könnte also helfen, Altersar-
mut entgegenzuwirken. Wahr ist aber
auch: Reichen wird das allein nicht.

DEFGH Nr. 195, Samstag/Sonntag, 24./25. August 2019 HF2 23


WIRTSCHAFT


Europa hat ein Problem: Es fehlen Experten für
künstlicheIntelligenz. Wie Firmen und Politik gegensteuern
können. Der Samstagsessay  Seite 24

Hendrik Munsberg fürchtet,
wer überdie Rente schreibt,
gilt schnell als arbeitsmüde.

Die Manager vermeiden
alles, was die Führung in Peking
verärgern könnte

In Jackson Hole treffen sich die
Währungshüter der Welt. Im Fokus
steht Fed-Chef Powell  Seite 27

Im wilden Westen


Ordentliche deutsche Qualität: Die Polizei in Hongkong demonstriert am 12. August einen ihrer Wasserwerfer. Montiert ist er auf einem Fahrgestell aus dem Hause Daimler. FOTO: KYLELAM/BLOOMBERG

Hongkong am vergangenen Wochenende: Demonstranten schützen sich mit Gas-
masken vor dem Tränengas. FOTO: KIN CHEUNG/DPA

Aus der Traum


„Wandel durch Handel“ hieß über Jahrzehnte die Devise im Umgang


mit China. Auf wachsenden Wohlstand werde schon Demokratie folgen.


Der Konflikt in Hongkong zeigt nun: Das war ein Irrtum


Ebbe im Edersee
FOTO: UWE ZUCCHI/DPA

Essen auf Rädern
FOTO: REUTERS

KI in der Schule


75


Milliarden


ALTERSVORSORGE

Riester, Rürup –


und jetztHabeck?


China hat längst begonnen,
Druckauf Unternehmen
in Hongkong auszuüben

Norwegen hat
aller Welt vorgemacht,
wie es geht

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