Süddeutsche Zeitung - 24.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
von kathrin müller-lancé

E


s sind noch drei Stunden bis zur
Sendung. Burhan Akid arbeitet
an den letzten Formulierungen
auf seinen Moderationskarten.
Der junge Syrer wird später zu-
sammen mit einer Kollegin ein Grillduell
präsentieren, live auf Facebook. Im Okto-
ber 2015 ist der heute 28-Jährige über die
Balkanroute nach Deutschland geflüchtet.
Er habe „immer irgendwas mit Medien
machen“ wollen, sagt Akid, in Syrien arbei-
tete er parallel zum Studio als Radiomode-
rator. „Das war cool“, ergänzt er, „aber
dann hat der Krieg angefangen.“ Auf ein-
mal wurde sein Privatradiosender poli-
tisch, Akid musste Nachrichten verlesen,
von denen er wusste, dass sie so nie pas-
siert waren.
Er floh nach Deutschland, kam in die Ei-
fel, und stieß zum ersten Mal auf einen Bei-
trag vonWDRforyou: „Wenn man nicht
viel zu tun hat, hängt man auf Facebook
rum.“ 2018 bewarb er sich mit einem Video
als Praktikant, anschließend klappte es
mit der Anstellung.
Seit diesem Jahr arbeitet Burhan Akid
als Redakteur beiWDRforyou. Die Online-
Plattform ging im Januar 2016 an den
Start, nur wenige Tage nach der Kölner Sil-
vesternacht. Das Programm richtet sich
vor allem an Geflüchtete. Es gibt Beiträge
auf Deutsch, Englisch, Arabisch und Per-
sisch. In der Zeit nach dem Sommer 2015,
in der mehr als eine Million Menschen
nach Deutschland gekommen waren,ent-
standen hierzulandezahlreiche Medienan-
gebote für Geflüchtete.WDRforyouist al-
so längst nicht das einzige multikulturelle
Programm – aber eines der erfolgreichs-
ten und vor allem eines, dass es immer
noch gibt.
Die Arbeit mit und für Menschen, die ih-
re Heimat verlassen haben, ist nicht ein-
fach. Sie konfrontiert die Medienmacher
mit ungewohnten Fragen: Wie lassen sich
Inhalte vermitteln an eine Zielgruppe, de-
ren Mitglieder aus ganz unterschiedlichen
Ländern mit unterschiedlichen Demokra-
tie- und Bildungsstandards kommen? Wie
lassen sich Menschen in eine Redaktion in-
tegrieren, die erst vor Kurzem in Deutsch-
land angekommen sind und die Sprache
gerade erst lernen?
Nicht immer gibt es dabei ein Happy
End:News for Refugees, die Online-Platt-
form des SWR, wurde im vergangenen
Jahr eingestellt. „Menschen, die als Ge-
flüchtete im Südwesten eine neue Heimat
gefunden haben, können nun in den Regel-
angeboten des SWR Themen finden, die
sie interessieren“, teilt der Sender diesbe-
züglich mit und verweist auf eine Multime-
diaserie für Kinder, die ab diesem Herbst
starten soll. Auch die Initiative des ZDF,
Beiträge in der Mediathek auf Englisch
und Arabisch zu untertiteln, wurde wieder
eingestampft. Die geringe Resonanz habe
nicht im Verhältnis zum hohen Personal-
aufwand gestanden.
Doch es gibt auch Formate, die sich eta-
bliert haben: DasRefugee Radiovon Cos-
mo zum Beispiel, das täglich Nachrichten
auf Englisch und Arabisch sendet und das
InformationsportalInfo Migrants, das die
Deutsche Welle in Zusammenarbeit mit
anderen europäischen Medien und der Eu-
ropäischen Union verantwortet. Hinzu
kommen lokale und private Initiativen wie
die NachrichtenportaleAmal, Hamburg!
undAmal, Berlin!, die von der Evangeli-
schen Journalistenschule betrieben wer-
den, oder dasRefugee Radio Network, ein
Internetradio, dessen Sendungen durch
Kooperationen mit anderen Sendern teils
auch terrestrisch ausgestrahlt werden.
Und ebenWDRforyou. Die Redaktion in
Köln gleicht einem Startup: ein umfunktio-
nierter Konferenzraum (Großraumbüro
wäre ein Euphemismus), mit Sitzbällen
auf dem Boden und Klebezetteln an der
Wand. Ein Team von rund zehn Mitarbei-
tern bespielt die Plattform. Es gibt die, die
als Moderatoren vor der Kamera stehen,
Redaktionsleiterin Isabel Schayani nennt
sie „Frontgesichter“, und diejenigen, die
eher im Hintergrund arbeiten – die recher-
chieren, übersetzen, die Facebook-Seite
betreuen. Neben der Vorbereitung für das
Grillduell am Abend steht an diesem Nach-
mittag noch ein Kollegengespräch zu den
neuesten Asylsucherzahlen an. Das bildet
die inhaltliche Bandbreite vonWDRforyou

schon ganz gut ab: etwas aktuelle Migrati-
onspolitik, etwas rechtliche Aufklärung,
etwas Unterhaltung.
Wie Burhan Akid gehört auch Isabel
Schayani zur Fraktion der Frontgesichter.
Von Beginn an leitet sie die Redaktion,
steht in Livestreams und Kollegengesprä-
chen vor der Kamera. Die 52-Jährige ist
Tochter eines persischen Vaters und einer
deutschen Mutter. DassWDRforyouvor al-
lem auf Social Media setzen muss, um er-
folgreich zu sein, stand für sie und die an-
deren Macher von Anfang an fest: „Wer
flüchtet, hat kein Radio und keinen Fernse-
her dabei.“ Ausgespielt werden die Inhalte
deshalb über Youtube, Instagram und
Facebook. Letzteres ist mit etwa einer hal-
ben Million Abonnenten der erfolgreichs-
te Kanal. Etwas mehr als die Hälfte der Nut-
zer halten sich laut den Angaben auf Face-
book in Deutschland auf, drei Viertel da-
von sind Männer, die meisten zwischen 25
und 34 Jahre alt.
Heute, vier Jahre nach dem Sommer
2015, in dem viele euphorisch T-Shirts
und Fahnen mit der Aufschrift „Refugees
Welcome“ zur Schau stellten, hat sich die
Stimmung im Land verändert. „Am An-
fang sind alle aus ihrem Sessel aufgesprun-
gen, um zu helfen“, sagt Isabel Schayani,

„jetzt sind es weniger, und die machen es
leiser.“ Die Rechten sind stärker geworden
im Diskurs, immer wieder hatWDRforyou
mit Kritik und Hatespeech zu kämpfen. Ei-
nen der ersten Shitstorms verursachte ein
Beitrag, in dem Schayani zusammen mit ei-
ner arabischen Kollegin mit Kopftuch ein
Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur
Dublin-Regelung erklärte. Das Video wur-
de mehr als 7000 Mal geteilt und mehr als
3000 Mal kommentiert. Das rechte Online-
PortalPolitically Incorrecttitelte: „WDR
sendet Einladung an arabische Welt.“
Aber auch innerhalb der Community
sorgt die Berichterstattung immer mal wie-
der für Empörung. Ein Beitrag, der erklä-
ren sollte, wie man in Deutschland mit
Frauen umgeht, stieß bei vielen Nutzern
auf Unverständnis. „Die haben geschrie-
ben: Haltet ihr uns denn alle für doof? Wir
sind doch keine Bauern“, erzählt Schayani.
„Das Schwierige ist, zu vermitteln, ohne
belehrend zu wirken. Das ist uns damals
nicht gelungen.“
Nichtsdestotrotz sind die Medienange-
bote für viele Geflüchtete eine wichtige
Quelle für Informationen. Für Froghden
Sayedi zum Beispiel, der im August 2015
von Afghanistan nach Deutschland geflo-
gen ist. Kurz nach seiner Ankunft hatte ein

Freund den 22-Jährigen aufWDRforyou
aufmerksam gemacht. Damals habe er
noch nicht einmal das Wort „Deutsch-
land“ verstanden, erzählt Sayedi. Am An-
fang sah er die Beiträge deshalb vor allem
auf Persisch, mittlerweile guckt er sie auf
Deutsch. „Das ist eine korrekte Adresse
mit korrekten Leuten und korrekten Ant-
worten“, sagt er. Das sei wichtig, weil gera-
de in der Flüchtlings-Community viele Un-
wahrheiten kursierten. Als Sayedi wäh-
rend seiner Ausbildung zum Koch abge-
schoben werden sollte, erfuhr er über
WDRforyou, dass das rechtlich nicht mög-
lich ist – und klagte zusammen mit sei-
nem Ausbilder erfolgreich dagegen.
Auch weil mittlerweile weniger Flücht-
linge in Deutschland ankommen, haben
sich die Inhalte der Plattform verändert,
die Bedürfnisse der Menschen, die nun
hier leben, sind nicht mehr die gleichen
wie kurz nach der Ankunft. Isabel Schaya-
ni sagt: „Wir wollen mitwachsen.“ Anfangs
habe man ein Erste-Hilfe-Paket bereitstel-
len wollen, Beiträge, die auf existenzielle
Fragen antworten wie: „Wie stelle ich ei-
nen Asylantrag?“, „Wie finde ich eine Woh-
nung?“ Mittlerweile sei man bei Themen
wie der Niederlassungserlaubnis oder For-
maten wie der „Danke-Show“ angelangt,

einer Sendung, in der sich Geflüchtete bei
ihren Helfern bedanken.
Auch die Nutzergruppe will man auswei-
ten. Um mehr Frauen zu erreichen, klärt
die Redaktion mittlerweile zum Beispiel
über Scheidungen auf und macht eine
Sprechstunde mit einer Frauenärztin. Ab
Herbst soll die bislang etwas vernachläs-
sigte afrikanische Community mehr in
den Blick genommen werden. Was nach ei-
ner Erfolgsgeschichte klingt, ist im Alltag
trotzdem nicht immer einfach. Aktuell be-
steht die Redaktion zu etwa einem Drittel
aus Geflüchteten der neuen Generation, al-
so der Zielgruppe selbst, zu etwa einem
Drittel aus Menschen mit gemischter Bio-
grafie und zu etwa einem Drittel aus Deut-
schen ohne Migrationshintergrund.
„Ich habe anfangs gedacht: je mehr
Flüchtlinge, desto besser“, sagt Schayani.
Jetzt sehe sie das nicht mehr unbedingt so.
„Viele Geflüchtete sind mit so existenziel-
len Dingen beschäftigt, die können nicht
arbeiten wie jemand, der hier heimisch ist
und einen eingespielten Alltag hat. Das
muss eine Gruppe erst mal tragen kön-
nen.“ Viele seien außerdem journalistisch
anders sozialisiert, an strenge Hierarchien
und andere Arbeitsweisen gewöhnt. Da
müsse man schon auch mal erklären, dass
Recherche nicht einfach nur Abschreiben
bedeute.

Schwierig wird die journalistische Ar-
beit auch, wenn es um die Prüfung persön-
licher Schicksale geht: „Lügen sind ein Rie-
senthema”, sagt Schayani. Bei genauerem
Hinsehen entpuppe sich so manche Ge-
schichte als falsch, das könne schon beim
Alter anfangen. „Dann sage ich meinen Ge-
sprächspartnern schon mal ins Gesicht:
Das glaub ich nicht. Auch auf Sendung.“
Nach Möglichkeit ließen sich die Mitarbei-
ter Unterlagen zeigen, sagt Schayani, oft
bleibe aber nur der Austausch unter Kolle-
gen. „Wir fragen uns gegenseitig: Hältst
du das für realistisch? Bei einigen Ge-
schichten wissen wir schon aus unserer Er-
fahrung heraus: Das kann nicht stimmen.“
Auch bei der Frage der journalistischen
Distanz gilt laut Schayani vor allem die Re-
daktion als Korrektiv: „Wir sind auf kei-
nen Fall Amnesty-TV. Wir sagen uns Be-
scheid, wenn wir finden, jemand ist zu nah
dran.” Um dem Vorwurf der Parteinahme
zu entgegnen, vermeideWDRforyouzum
Beispiel Einzelfallberatungen. Dennoch:
„Es wäre gelogen zu sagen, da gibt es eine
eindeutige Definition, an die man sich
hält, und fertig“, sagt Schayani, „das ist im-
mer eine Abwägung.“
Zumindest physisch ist das mit dem Ab-
stand gar nicht so einfach am Abend des
Grillduells. Immer wieder müssen Schaya-
ni, Akid und ihre Kollegen während des
Grillduells für Selfies hinhalten. Kulisse
für die Show ist ein Park in Köln, die Requi-
site hat Plastik-Sonnenblumen bereitge-
stellt. Eine kleine Gruppe von Zuschauern
hat sich eingefunden, es riecht nach
Fleisch und Knoblauch. Das Ganze wird
live ins Netz gestreamt, die Bewertung er-
folgt online durch Smileys und analog
durch eine Jury. Durchschnittliche Zu-
schauerzahl auf Facebook: zwischen 500
und 600. Am Ende herrscht Gleichstand
zwischen den Teams.
Als das Duell längst vorbei ist, spricht ei-
ne Gruppe iranische Jungs Schayani und
einen Kollegen an. Sie wurden, erzählen
sie, letztes Jahr von Rechtsextremen in
Chemnitz angegriffen – ein Video davon
ging durchs Netz. Jetzt wechselt Schayani
vom Unterhaltungsmodus in den der Jour-
nalistin. Sie hört den jungen Männer zu,
runzelt die Stirn, stellt ihnen Fragen auf
Deutsch und Persisch. „Hier entsteht gera-
de unser nächster Beitrag“, sagt sie.

Hallo Deutschland


Medienangebote wie „WDRforyou“ richten sich gezielt


an Geflüchtete. Wie funktioniert das? Ein Redaktionsbesuch


Zum Geburtstag hat er sich ein Buch ge-
schenkt, selbst geschrieben natürlich.
Die verspielte Welt heißt das neueste
Werk, in dem Paul Lendvai zurückblickt
auf persönliche Erlebnisse und Begeg-
nung mit mächtigen Menschen. Der Fun-
dus ist riesig, schließlich betreibt Lend-
vai, der an diesem Samstag 90 Jahre alt
wird, seit fast sieben Jahrzehnten schon
Journalismus in Bestform. Noch immer
moderiert er im ORF die Diskussionssen-
dungEuropastudio, noch immer gibt er
die von ihm 1973 mitgegründete Zeit-
schriftEuropäische Rundschauheraus,
noch immer schreibt er seine Kolumnen
imStandard. Als Mittler zwischen Ost-
und West hat er sich früh einen Namen ge-
macht. Als Mahner vor dem Populismus
nach Art des Viktor Orban in Ungarn tritt
er heute auf. In Budapest wurde er 1929
als Sohn jüdischer Eltern geboren. Den
Holocaust hat er dort im Schutz der
Schweizer Botschaft überlebt. Nach dem
gescheiterten ungarischen Volksauf-
stand ist er 1957 nach Wien geflohen, war
Korrespondent derFinancial Times, spä-
ter Chefredakteur der ORF-Osteuropare-
daktion und Intendant von Radio Öster-
reich International. Aufrichtigkeit war
ihm immer wichtiger als Applaus. „Mag
die eine oder andere Geschichte kriti-
schen Lesern, aus welchem Grund im-
mer, missfallen“, schreibt er im neuen
Buch, „so hoffe ich doch, dass sich nie-
mand langweilen wird.“ peter münch

Für viele zählt Big Brother zum Schlimms-
ten, was das Fernsehen zu bieten hat. Weil
es in der Sendung um nichts anderes geht
als darum, Menschen dabei zuzusehen,
wie sie freiwillig und programmatisch ihre
Würde verlieren. Andere Reality-Sendun-
gen erwecken immerhin noch den
Anschein, es gehe um mindestens ein wei-
teres Thema: BeiGermany’s Next Top-
modelwird die Modebranche vorgescho-
ben, bei Sendungen wieDer Bachelordie
Partnersuche.
An diesem Freitagabend lief auf Sat 1
die letzte Folge der aktuellenPromi Big
Brother-Staffel über die Bildschirme (ein
Spin-off, in dem sich eher weniger bekann-
te Prominente überwachen lassen). Ganz
unvorhergesehen ist nun die Realität über
die Reality-Show hereingebrochen und
zeigt einmal mehr auf, wie problematisch
sich das Sendekonzept für die Teilnehmer
entwickeln kann.
In der vergangenen Woche ist Ingo Kan-
torek, ein Freund und Schauspielkollege
von Janine Pink, einer 32-jährigen Schau-
spielerin und Teilnehmerin der aktuellen
Staffel, bei einem Unfall ums Leben ge-
kommen. Der Sender Sat 1 und das Ma-
nagement von Janine Pink beschlossen
jedoch, angeblich in Absprache mit der Fa-
milie der Schauspielerin, diese nicht über

den Tod ihres ehemaligen Kollegen zu in-
formieren – damit sie an der Serie bis zum
Finale teilnehmen könne. Das Dilemma:
Die Schauspielerin saß noch bis Freitag-
abend im Reality-Container, ohne zu wis-
sen, dass ein langjähriger Kollege ums Le-
ben gekommen ist. Die Zuschauer wuss-
ten darüber sehr wohl Bescheid, und zwar
am Ende gut eine Woche früher als die
vom Tod eines Freundes betroffene Schau-
spielerin selbst. Entsprechend konnten
die meisten kaum anders, als beim Finale
Pinks Verhalten vor dieser Folie zu sehen.
Das Konzept der Serie – das zur Erinne-
rung – besteht darin, dass ein paar Freiwil-
lige über Wochen oder Monate in einem
Fernsehstudio („Container“) rund um die
Uhr mit einer Kamera überwacht werden,
abgeschottet von der Außenwelt, die Chan-
cen, würdevoll aus dieser Sendung zu ge-
hen, sind gering. Zudem müssen groteske
Spiele gespielt und Wettbewerbe gewon-
nen werden. Die Fernsehzuschauer ent-
scheiden letztlich darüber, wer am Ende
im „Container“ bleiben darf. Im Fernse-
hen übertragen wird ein Zusammen-
schnitt des Ganzen, in der Regel ein Worst-
of: Beziehungskrisen, Nacktbaden, Streit,
Lästereien, Körperhygiene, Launen, Lan-
geweile. Mobbing ist das alles überragen-
de Spielprinzip.

Big Brotherwar schon immer moralisch
grenzwertiges Fernsehen. Als die erste
Staffel im Jahr 2000 in Deutschland ausge-
strahlt wurde, war der Aufschrei groß, in-
zwischen scheint man sich daran gewöhnt
zu haben.

Es ist egal, wie das Finale der Staffel
„Promi Big Brother“ ausgegangen ist. Un-
abhängig davon bleibt die Entscheidung
von Management und Sender, die Schau-
spielerin nicht über den Tod des Kollegen
zu informieren auch moralisch grenzwer-
tig. Denn eine häufig betonte Regel des Big-
Brother-Spiels besteht darin, dass es den
Bewohnern freisteht, das Haus jederzeit
verlassen zu können. Nach Ansicht des
Theologieprofessors Thomas Bohrmann
ist diese Freiheit jedoch eingeschränkt:
„Um von dieser Regel Gebrauch zu ma-
chen, ist ebenfalls vollkommenes Wissen
über sämtliche Ereignisse um das Spiel
notwendig; dieses Wissen betrifft beson-
ders die Geschehnisse außerhalb des Con-
tainers (...)“, schrieb Bohrmann in einer me-
dienethischen Betrachtung der Sendung.

Bohrmanns Bedenken wiegen in Zeiten
von Smartphones und Internet besonders
schwer. Im Fall der Kandidatin Janine
Pink wurde im Internet bereits vom Tod
ihres Kollegen berichtet. Sie selbst wusste
von nichts – und konnte sich somit nicht
selbständig darüber klar werden, ob sie
das Spiel vorzeitig abbrechen möchte.
Das Management der Schauspielerin
und Sat 1 erklärten, die Bewohner vonPro-
mi Big Brotherwürden nur bei Todesfällen
im engsten Familienkreis informiert.
Außerdem sagte ein Sprecher des Sen-
ders, es gebe einen „Big-Brother-Psycholo-
gen“, der „während und nach der Staffel
Ansprechpartner“ für die Bewohner sei.
Sat 1 erklärt weiter, dass man „aus Grün-
den der Pietät gegenüber Familie und An-
gehörigen“ der falsche Ansprechpartner
in der Sache sei.Big Brotherhat immer
noch vergleichsweise hohe Einschaltquo-
ten, vermutlich wird die Serie, wie andere
nach dem gleichen Konzept, wiederholt
werden. Was nicht mehr rückgängig ge-
macht werden kann, ist die Entscheidung,
welche die Verantwortlichen in einer der-
art privaten Sache über den Kopf einer
Teilnehmerin getroffen haben – aus kei-
nem anderen nachvollziehbaren Grund
als dem, dass die „Show“ weitergehen
musste. theresa hein

Wenn es nach dem Magazin geht, sollte
der Skandal um diegefälschten Texte im
Spiegelvon Reporter Claas Relotius mit
dem Abschlussbericht der internen Unter-
suchungskommission im Mai ein Ende ha-
ben. Nun wurde bekannt, dass das Maga-
zin dem langjährigen Leiter des Gesell-
schaftsressorts, Matthias Geyer, Ende Ju-
ni gekündigt hat, wiewaz.deberichtete.
Das bestätigte der Anwalt Geyers, Andre-
as Kremer, der SZ auf Anfrage, Geyer gehe
juristisch gegen die Kündigung vor. Am
Dienstag ist eine Verhandlung vor dem Ar-
beitsgericht Hamburg angesetzt, wie das
Gericht bestätigte. DerSpiegelwill sich
„nicht zu vertraulichen Personalfragen öf-
fentlich äußern“.

Matthias Geyer war von 2006 bis 2019
Leiter desSpiegel-Gesellschaftsressorts
und damit Vorgesetzter von Claas Reloti-
us. Nach der Aufdeckung des Skandals im
Dezember 2018 verzichtete Geyer auf den
Posten des Blattmachers, für den er eigent-
lich vorgesehen war. Im März dieses Jah-
res wurde er stattdessen vom neuen Chef-
redakteur Steffen Klusmann zum „Redak-
teur für besondere Aufgaben“ ernannt.
Ein weicher Fall.
Geyers Anwalt sagte, Geyer sei im An-
schluss „nicht vertragsgerecht beschäf-
tigt“ worden, ihm seien also keine „beson-
deren Aufgaben“ zugewiesen worden.
Nach Darstellung des Anwalts erfolgte
dann die Kündigung „ohne Angabe von
Gründen“. Dennoch sei Geyer „weiter in
der Redaktion, jeden Tag“. Von einer Ein-
stellung der Tätigkeit könne auch nach
der Kündigung keine Rede sein. Das Ziel
der Klage sei es, die Kündigung rückgän-
gig machen zu lassen. „Herr Geyer möch-
te ungern ein politisches Opfer sein.“
Auf die Frage, ob über eine Abfindung
eine einvernehmliche Lösung gefunden
werden könne, antwortete der Anwalt:
„Das sehe ich nicht.“ Offenbar gehen bei-
de Parteien nicht von einer schnellen Eini-
gung aus. Auch an Ullrich Fichtner war Kri-
tik laut geworden. Er gilt als Entdecker
und Förderer von Relotius und rückte
nach Bekanntwerden des Falls nicht wie
vorgesehen in die Chefredaktion auf.
Geyer war im sogenannten Abschluss-
bericht zur Affäre vorgeworfen worden, er
habe, als Zweifel an Relotius auftauchten,
zu lange an seinem Mitarbeiter festgehal-
ten und die Hinweise nicht hinreichend ge-
würdigt. Außerdem habe sich das Gesell-
schaftsressort generell gegenüber Kritik
aus dem eigenen Haus abgeschottet.
e. britzelmeier, c. lipkowski

Wir fragen uns gegenseitig:
Hältst du das
für realistisch?
Bei einigen Geschichten
wissen wir schon aus
unserer Erfahrung heraus:
Das kann nicht stimmen.“

Journalistin Isabel Schayani

Im versiegelten Raum


JaninePink erfuhr bis zum Finale von „Promi Big Brother“ nicht, dass ein Freund gestorben ist. Was das über Reality-TV aussagt


Vermittler Paul


Lendvai zum 90.


Kündigung


beim „Spiegel“


Früherer Relotius-Chef Geyer
wehrt sich vor Gericht

Eine häufig betonte Regel
lautet, dass die Bewohner das
Haus jederzeit verlassen können

Nicht nur in Deutschland unterwegs: einWDRforyou-Reporter an der bosnisch-kroatischen Grenze. FOTO: WDR

44 MEDIEN HF2 Samstag/Sonntag, 24./25.August 2019, Nr. 195 DEFGH


Schauspielerin Janine Pink: Allein gelas-
sen im Big Brother-Container. FOTO: SAT.1

Matthias Geyer kämpft vor Gericht ge-
gen seineKündigung. FOTO: SPIEGEL

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